STUDIEN ZUR
DEUTSCHEN
PHILOLOGIE:
FESTGABE DER...
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University of Illi nois Library
STUDIEN
ZUR
DEUTSCHEN PHILOLOGIE
JBRARY Gr T.Tt"
FEB 10 1940
ÜNIVERSITY OF ILLINOIS
FESTGABE
DER
GElttLVNISTISCHEN ABTEI LI T NG
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47. VERSAMMLUNG DEUTSCHER PHILOLOGEN UND SCHULMÄNNER
IN HALLE
ZUR BEGRÜSSUNG DARGEBRACHT
VON
PHILIPP STRAUCH, AK NOLL) K. HERGER
FRANZ SAR AN
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STUDIEN
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DEUTSCHEN PHILOLOGIE
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47. VERSAMMLUNG DEUTSCHER PHILOLOGEN UND SCHULMÄNNER
IN HALLE
zur begrCssung DARGEBRACHT
VON
PHILIPP STRAUCH, ARNOLD F, BERGER
FRANZ SARAN
HALLE a. d. S.
VERLAG VON MAX NIEMEYER
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Inhalt.
Seite
Strauch, Philipp, Schürebrand, ein Traktat aus dem Kreise der
Stral'aburger Gottesfreuude 1
Berger, Arnold E., Der junge Herder und Winckeltnann .... 83
Saran, Franz, Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes . . i£2
I 20 I 029
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• *
Schürebrand.
«
Ein Traktat aus dem Kreise der Strafsburger Gottesfreunde
herausgegeben
Philipp Strauch.
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[A 56 a] Dis ist des heiigen geist.es minneglünsenden
ganeisterlins schfirebrant. wart geschriben zweien got minnenden
erbem jungen jungfrouwen under ahzehen joren, die von götte-
licheme tribende die weit und alle sorgliche stricke der weite
fluhent und uz eigener minnenricher begirde von gnoden in 5
sancte Oloren orden furent uz solicheme vürsatze, obe in von
menschlicher unstetekeit wegen ir erste minnenriche gütwillige
begirde und gegenwertiger ernst von innan iemer erlöschende
und abefallende wurde, daz sü doch von ussan müstent gebunden
bliben zü geistlicher zuht und ordenunge und zu behütsamkeit 10
irre fünf sinne in Sicherheit irre megetlichen luterkeit, wanne sü
vorhtent ir selbes krangheit und der bösen geiste valscheit und
irre üblichen fründe grobheit, die sü gerne zü der weite und
zü elidier gemahelschaft gezogen hettent, dem sü gar wisliche
und verwegenliche widerstundent und versprochent die weit und 15
alle man friliche und fröliche mit der helfe gottes, dar umbe sü
vil grosser widerwertikeit liden müstent, ebe sü gesigetent und
in ire begirde erfüllet wurde, das sü nu in steter luterkeit zü
gotte ewecliche vertruwet und gemehelt sint und ir trurikeit
verwandelt ist in fröude, das allen gottes fründen gar sicherliche 20
volget noch irme gesige. das sol billiche sin eine regele und
forme in nochvolgender bischaft aller menschen, die des heiigen
geistes minneglünsende ganeisterlin in iren begirden bevindent,
daz sü die ere gottes minnent und meinent und irre seien selikeit
uf daz aller sicherste und verdienlicheste gerne erfolgen woltent 25
1 die ganze Einleitung zeigt in A rote Schrift 2 gnaistlin 2 f. g.
m. jungf. jungen erbern tochtern 4 und — weite fehlt G sbllieher guter
mainung und fürsatz 11 lutterikait durch die gewarsamen tugend der
hailigen gehorsame, wonn 18 f. zu gotte ewccl. nach 19 sint 19 ver-
machtet 21 nach dem gesig aines ietlichen anstürme« und durchbriiches. di«
23 gnaiütlin usw. 25 sicherlichest
1*
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4
Philipp Strauch
in steter behütsamkeit durch alles ir leben, die werdent in diser
gegenwertigen materien vermanet an etteliche mittel, die abe-
znlegende sint und an ettelielie sorgliche züvelle und schedeliche
anhange, dar umb die weit und alles zitlich gewerbe billich zu
5 versmohende ist, und an etteliche gegenwürfe wider alle swer-
mütikeit, und werdent ouch in diser materiell gemanet an vil
gnodenricher goben gottes, lipliche und geistliche, dar umbe sü
got zu lobende hant in rehter dangberkeit und durch sinen willen
deste gerner lident alle widerwertikeit, trug und getrenge von
10 innan und von ussan uf die künftige fruht der iemer werenden
ewigen fröuden, dar an sü ouch manigvaltecliche vermanet
werdent in diser gegenwertigen materien des Schürebrandes.
1. [5(3 b] Dis ist ein nochschüreu des minnebrandes, den der
heiige geist in uwerre seien het angestossen und glünsende ge-
15 mäht mit dem gnodenrichen inbrünstigen minnenfüre eins heiigen
guten beginnes und anevanges, in dem ich üch begere zu
sterckende von rehter gütlicher minnen mit diser vermanungen,
die ir von uwerme gern inten brütegoume Jhesu Christo nemen
söllent, das ir deste fruhtberlicher die regele und den orden des
20 lieben herren sante Franciscus und der heiligen frouwen sanete
Kloren gehalten kiinnent mit andehtigeme minnenricheme er-
volgende durch alles uwer leben in demütiger gehorsame, in
gewilliger armüt und in steter luterkeit libes und gemütes, das
ouch die obersten drie puncten und artickele sint, die ir und alle
25 geistliche lüte gelobet hant und schuldig sint zu haltende bi
dötlicheu sünden und bi ewiger pine und bi Verlust des ewigen
lebendes und der fröuden des himelriches. wie wol ir nu götte-
liches wises rotes und tröstliches underscheides gnug hant von
uwern erwii'digen geistlichen vettern und mütern. so tribet mich
30 doch minne dar zu, das ich uwer armer unwirdiger schürebrant
sin müs alse ein armes küchinbübelin, des man underwilent ouch
wol bedarf in der großen herren höfe, wenne die kröne des
gesiges wurt niemanne geben umbe einen guten anevang, er
werde denne ervolget und vollehertet untze an das ende in
35 rehter stetikeit.
2 e. schedliche mittel 9 trück Ii) der unusaprechenlicheu wunsamen
imer w. 12 Sch. also hie nach geschriben stot sprechend also 17 liebe
32 lies hüfeu?
d b'y CiTJOgle
SchNrebrand.
5
2. Dis selbe minneglünsende ganeisterlin uwere ersten begir-
lichen vermessenheit sol nu vürbas enzünden und inbrünstig
machen der oberster minner Christus Jhesus in dem minne-
bürnenden füre, do durch er von dem obersten trone der himele
in menschliche nature her abe getriben wart, die selbe minne 5
in ouch bant an die sule und in negelte an das crütze. mit dem
selben minnenfüre er ouch enzunte und hitzecliche bürnende
mähte die lieben zarten jungen jungfröwelin und minnebrende
sante Katherine, sante Agnese, sante Agathe, sante Cecilie, sante
Margrede, sante Barbare, sante Appollonie, sante Dorethe und 10
die liebe sante Ursele mit irre erlichen gespilschaft und herlichen
grossen schar der eilf tusent megede und die andern jungfrouwen
alle, die so gar künliche gestritten haut mit wisen Worten, mit
vesteme gemüte in manigvaltiger lidender wise, durch daz sü
die erwirdige kröne der megetlichen luterkeit in keiner wise 15
übergeben woltent, wenne sü in dem gnodenrichen liehte des
heiigen geistes wol gesehen hettent, daz sü übertriffet alle wirde-
keit, lust und ere diser zit.
3. Megetliche luterkeit ist ein solich gros erwirdig kleinöter,
daz es billich sol kosten marg und blut und alles das dise zit 20
geleisten mag, und so vil die anestürme manigvaltiger und grösser
sint innerliches oder uszer[57 a]liches truekes und anevehtunge
von unserre eigenen naturen. von dem bösen geiste oder von der
weite, do durch megetliche luterkeit erstritten mus werden: so
vil wurt ouch die kröne des gesiges edeler und verdieul icher, 25
iemer ewicliche vor allem himelschen her glentzende und erliche
schinende über alle planeten und demente, und dar umbe ver-
spuwetent ouch und versprocheilt die lieben jungen jungfrouwelin
kunliche in kraft des heiigen geistes alle smeichelehten süssen
wort und gelübede der kiinige und der keisere mit großeme 30
unwerde und versmohende und erschrockent ouch mit in keiner
abelessigen vorhten oder verzagende abe dem vientlichen gruwe-
lichen trouwende und scheltende der strengen grimmen zorn-
mutigen Wüteriche und tyrannen, die sü do gar swere pinigetent
und marteltent. das sü alles gar gewillecliche und fröliche littent 35
in vesteme glouben uz großer hitziger inbrünstiger minnen und
2 nu vürbas] uwer für 17 wol bekannten und g. sü] dis 18 zit
weit 19 klainet 23 von unserm aiguen flaiscb 27 erechinen und
lachten, elamente A 28 junckfrowen 33 f. zornigen 36 liebe
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Philipp Strauch
in gantzer guter volkomener Zuversicht, in dem sü ir geminter
genialiele Christus Jhesus sterckete und in tröstlichen zu helfe
kam in allen irme lidende, das so balde vergangen ist, und die
fruht nu ewecliche weret in allen fröuden, die sich stetekliche
5 ernuwent iemer ewekliche one ende.
4. Diese lieben hitzigen inbrünstigen minnebrende und lutern
megde süllent ir zu gespilen erwelen und zü exempel vür üch
nemen tegeliche in stetem gegemvurfe und bi in leren veste zü
blibende in dem rufte uwers geminneten und mit minnesamer
10 langmütikeit vil frühte samein in dem durchgange diser zer-
genglichen kurtzen zit, die ir ewicliche mit in nießen söllent,
und flissent üch der tilgende, dar uf uwer orden gestiftet ist und
üch uwere regele wiset und ir ouch hie noch geschriben vindent,
daz ouch uwer meinunge was, do ir des ordens begertent, welre
15 leige widerwertikeit, drug oder getrenge von innan oder von
ussan dar durch uf üch vellet: des süllent ir in zit und in ewikeit
wol ergetzet werden von uwerme geminten. wenne er sine Mut
nüt enlot, er kummet in zü helfe, so sü in nöten sint, als ir wol
befundent in uwerme ersten anesturme und st rite, den ir haben
20 müstent mit uwem fründen, daz ir üch der weite erwertent und
den hohen edeln schätz, das wirdige kleinöter, megetliche luter-
keit, erstrittent und beschirmetent, dar umbe es üch billiche
deste werder sin sol und mit herzen ewicliche dar zü geneiget
sin, das ir es in eren haltent mit behütsamkeit uw T erre fünf sinne
25 noch uwers ordens regele und Statuten.
5. Also ir vil lyhte nu wol wissen mügent und dicke von
Matth, c. 25 den lerem gehört hant , wie das heiige ewangelium seit ein
glichniße von zehen jungfrowen, der worent fünf wise, und
hieltent ire ampellen geziert vol oleyes, und do der brütegoum
30 kam, do vant er sü wachende und fürte sü mit ime in zü der
frolichen wurtschaft, und die andern fünfe worent dorehte und
worent der ampellen und des oleies unahtsam und wurdent vor
der türen besloßen, [57 b] daz sü nit hin in kummen möhtent
4 in 5 ende] in zü nemender stetter fröd imer me un alles ungevell
4 die — 5 ende von anderer Hand (Nicolaus von Laufen?) nachgetragen A
5 eruuwet .4 9 mit mit beginnt C 15 trück 16 vallent 21 megtlich'
24 mit grosser b. 25 noch — Statuten von anderer Hand (Nicolaus von
Laufen?) nachgetragen A Statuten] gesetz 2(> mügent — 8, 9 (hinder)sten
fehlen C durch Blattverlust
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Schüre brand.
7
mit dem brütegoume. dise selben fünf dorehten megede bezeichent
alle die witsweiffigen jungfrouwen, die ires eigenen willen sint
und in der weite iren niderlos und he wonuuge halten welleut
und doch meinent luter und kusche zu blibende. die sint in eime
gar sorglicheme unsicherme State und gehörent in der dorehteu
niegede zale, und so in got sine bevintliche gnode underzühet
und die gruwelichen bekorungen sü anestiirment, so stont sü in
irme eigenen willen on alle meisterschaft, die sü zu behutsainkeit
twingen soltent, und verfallent ir vil gar swerliehe und werdent
verruchte gnodelose menschen, und darumbe so fröwent üch mit
friiuden und sint fiölich und fro und lobent got mit großer
dangberkeit, daz er üch zu solicher fruhtberer behutsamkeit
gerüflet het und verbunden sint zu ewigeme lebende in die zale
der uzerwelten fiünde gottes.
6. Ach, geminnete gemahele und brut gottes. sider ir durch
uwers geminten willen mit siner helfe meinent der weite und
allem weltlicheme züvalle einen frien urlop zu gebende und üch
ouch gentzliche verzigen habent alles lustes und trostes diser
zit, so kerent uwer minne und uwer neiglicheit von allen zer-
genglichen irdenschen creaturen, do ir kein reht zu haut noch
uwer nüt ensint und üch zu liebe niemer niügent werden in
friden uwer conciencien: wenne sante Franciscus, sante Dominicus,
sante Augustinus und die heiigen vettere alle hant ire samenungen
und brüderschaft uz dem heiigen geiste gefundiert und gestiftet
uf gemeinsame und uffe einmütekeit und uffe luter armüt on alle
sunderheit und eigenschaft zu lebende und soltent haben der
apposteln leben, einen gemeinen seckel, einen gemeinen koche-
2 wittswaiffen 3 u. ire wonunge fehlt 5 State] wessen 6 und]
won 7 in] uf 9 vallen 10 und danimbe — 14 gottes] hie by sigcn
gewarnet alle erbere got mynende menschen, die da gern ain lutter kunsch
leben haben wöUen got und siner wirdigen matter zu eren, wonn menschliche
nattur ist also gar grosslich genaigt zu allen gebresten, das niement im selbs
getruwen tarf noch ensol dekaines vermugens in aller gattwilliger vermessen-
hait usserthalb des ge waren schirmes und verdienlichen sichern bandes der
hailigen gehorsame, die da ist ain veste starcke mur wider all anstiirm des
Wasen gaistes, der da dick angesiget und sigloss machet die aigenwilligen
besitzer irs beheblichen grundes mit sinen manigfaltigen tusentl istigen für-
wurfen und anstürmen, also och da vor [5,21/7*.] geschriben stat in dissem
gegenwärtigen cappitell 15 ach lieben gemächlinen u. brutt 17 allen
weltlichen züvellen 23/*. s. u. br.] samlungen u. die örden 26 halten
Philipp Strauch
hafen, einen gemeinen tisch und eine gemeine kleidunge zu irre
liplichen notdurft one alle iiberflüssikeit.
7. Und der altvattere meinunge ist nüt gewesen, das einer
sol riebe sin und vil jcrlieher gülte und barschaft haben in siner
5 gewalt und der andere nüt, und daz einer solle wol gessen und
der andere übele gefien und einer sölle vil guter trabten haben
und der ander nüt sölle haben, und doch in einer brüdersehaft
und under ebne dache und obe eime tische initenander wandeln,
daz leider in disen hindersten ziten gar gewönlich worden ist.
10 got erbarme es, das man also gar vil sehilhender blinden in den
witen kutten und under den swartzen wilen vindet, die man
ouch leider in dem strengen vegefüre und eitel iche in der iemer- \
werenden hellescben pine sehende wurt, also zu vörhtende ist.
got welle es mit sinre erbermede wenden und f ür[58 ajkummen
15 und gebe allen geordenten ergebenen personen mit den aposteln
den heiigen geist, der sü lere die worheit bekennen und das
sicherste erwelen in lutere armut on alle eigenschaft!
8. Xu ist sante Kloren orden sunderliche vür andere örden
uzgenomenlicher gestiftet uf ein ernsthaft behutsam leben und
20 uf ein gruntliches abegon und verzihen allen Misten diser zit und
ergetzenlicheit der weite in gebruchende der fünf sinne in
rehter innikeit und einikeit und lidiger abegescheidenheit. also
toten, die in gölte begraben sint und irre naturen nüt nie leben
söllent, wolte sich under den ir keine verfleeken und bemosigen
25 mit dem vergiftigen unkrute der eigenschaft oder annemmelicheit,
daz sü unsicher machete ewiges lebendes, daz were in wol zu
verbiinnende und grözliche zu erbarmende, daz sü söliche grölte
strangheit und betwüngnitJe ires ordens vergebene one alle fruht
liden müstent und dar zu ewiger hellescher pine sich versehende
1 zii — 2 Iiberflüssikeit fehlt 2 one a. ii. von anderer Hand (XicoLtus
von Laufen ?) nachgetragen A 3 Und — 4 sin] Nit daz ainer rieh »y 4 f.
in sinera g. habe 5 nüt enhabe essen 6 der — sölle fehlt kost 1 icher tr.
vor im h. 7 nüt 8. h.j convent epis nit genug 8 obe fehlt initenander
wandeln | in gemeinschaft zu samen verbunden sint und by anandern wonent
und wandten müssent und sollen 10 sch. hl.] l)odenlosspr gittaeck 13 helle
also — ist fehlt 14 die gute gottes 15 g. erg. gaistlichen p. hailigen a.
17 eigensch. und noweasigem gesucht Li; e. und nowessigkait und geaücht C.
Vgl. Nr. SO am Schiufa, Lesa. 20 verziechen 21 gehruchung 22 und 1.
abegesch. fehlt 23 vergraben 27 vergunen 28 des 29 ewiger —
9, 1 sin] unsicher sin ewiger fröden in Zuversicht der hellischen pin
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Schürebrand.
9
und wartende sin. do vor ir üch mit flisse hüten süllent! das
rote ich üch in gantzen truwen. und ouch were es, das uwere
frünt üch zu uwere liplichen notdurft versehende wurdent mit
ettewaz jerlicher gülte, die selbe gülte süllent ir lidecliche u£
geben uwerre eptischin oder einre andern frouwen uwerre 5
swestern mit rote der eptissin, das üch die uwere notdurft do
von gebe, und süllent ir keine eigenschaft dar ane haben, das
gelt noch uwerme willen in zu nemende und us zu gebende oder
es in uwerre gewalt zu behaltende mit besitzunge uwers herzen,
ouch sol üch begnügen mit der gemeinen spise uwers reventores 10
und conventes one alle sundere trahte, die wile ir gesaut sint.
unser herre, der Daniel spisete under den louwen zu Babelone
und sant Anthonie und andere sine frünt in der wüste durch die
wilden tier und durch die vogele, der kan es üch ouch gar wol
lüstlich gemachen, so aber ir siech werdent, so süllent ir üch 15
loUen uwerre eptissin und uwerre pllegerin, der üch die eptissin
bevilhet, in rehter gehorsame, so wurt üch alles uwer leben
fruhtber und nütze in dem strengen lidende uwers geminneten
herren Jhesu Christi, der durch uwern willen arm und eilende
was und nackent und blos an dem heiigen crütze hing und so o 0
vil eigenschaft nüt haben wolte, do er sin verwundetes houbet
in siner sterbenden not ane geneigen mühte.
9. Ach liebe min clorerin, als üch got gerüü'et het zu der
aller abegescheidensten lidigesten armiit und gehorsame, do durch
ir ewig leben und das riche gottes ervolgen mügent, und ir us 95
rote des heiligen geistes mit Marien Magdalenen den aller besten
teil hant erwelet, der üch niemer sol benommen werden, so
blibent ouch mit ir vor uwers geminneten füssen sitzende in
rehter lidikeit und in minnenricher gelossenheit in allem dem,
daz von innan oder von ussen iemer uf üch gevallen mag, und ;J0
wartent siner [58 b| gnoden mit eime verlüuckende uwers eigenen
willen, den ir ime ouch uf gegeben hant, und lont üch nienran
zü keiner sundern wisen ziehen, daz uwere oberste Meisterschaft
nüt minnet noch meinet, die sol üch ouch an gottes stat ver-
9 haben 10 nch] uns begnügen reventers 1 1 des conventes sunder-
hait der trachten 12 unser herre — 15 gemachen unten am Rande nach-
getragen von der bekannten bessernden Hand A 12 unser her Jhesus Christus
13 Anthonius 20 was und vil mangels und gebresten laid und heiigen
fehlt 22 gelannen 23 Ach hertz lieben klarerin 24 aller fmchtperesten
ledigesten abgeschaidenhait und armüt 25 ewiges 29 minnenr.J innerlicher
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10
Philipp Strauch
entwürfen alse Maria Magdalena von gotte gegen Marthen ver-
cntwurtet wart, do sü Martha ouch wolte zu sorgveltekeit und
bekiimberuLsse gezogen haben von irnie inbrünstigen ininnenden
ernste, lident üch ouch senttmütecliche in allen misse velligen
5 wisen und arg wonigen suchen, das ir Iiieinannes ampar oder
gelesse verrihtent oder andent in verdriessender wise, so blibent
ir in steteme friden, daz got in üch wonet und ir in ime
ewecliche.
10. Ach liebe junge gottes eliche gemahele, so ir anesehent
10 mit uwerre minnenrichen bescheidenheit alle löufl'e diser sorg-
lichen zit, wie kindesch ir noch danne sint, so mögent ir doch
wol von insprechende des heiigen geistes mercken und verston:
alles, das die weit und die weltlichen hertzen süchent und be-
gerent, minnent und meinent, das ist also gar eine verblendete
15 affenheit und eine große dorheit , vermüschet mit vil großes
unfruhtberes lidendes und widerwertikeit, do noch sü verzereut
zit, kraft und sinne in allen irme ungeriiwigeme vehtende und
ringende, do durch in ire begirde gar selten erfüllet wurt oder
von hertzen fro mögent werden, das sol mich und üch und alle
20 geistliche personell, die sich zu gotte verbunden hant, billiche
trösten und gestercken in gantzer guter fröudenricher Zuversicht,
das wir uns von minnen deste frölicher künnent geliden und
gelassen in alleme trucke und getrenge und ellendeme senende,
do durch uns volget daz riche gottes und große iemer werende
25 ewige fruht und hie in zit vil friden und fröuden, so der geminte
siner eilenden senenden brüte dicke innerliche und verborgenliche
scheucket, daz sü alles lidendes vergiftet und sü duncket, das
großer fröude uf ertliche mit ensige oder ie wurde in keinem
menschen alse die gottes brüte dicke befindent in geiste und in
30 naturen.
11. Uwer geminneter eman und gemahele Jhesus, der liep-
liche lüstliche jüngeling und kripfeknabe, sin ewiger himelscher
vatter, der heiige geist sin wiser rotgebe, die almehtige drivalti-
keit. gewaltiger ewiger got, aller creaturen schöpf er, und sine
3 und minnendeu 5 ampt ü Acli lieben jungerin gottes gemachlin
10 uwcrn iuderalichen b. 11 doch] nochtcnn H verblinte 15 abnemende
kurtze thorheit v. und versteckt IG noch] durch 17 f. vehtenden ringen
20 g. gotmyneude p. 21 fröudenr. fehlt 23 allen trücken 29 brat en-
pfindet 32 krippenknab
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Schürebrand.
11
wirdige liebe müter Maria, der liebe herre sante Franciscus und
die liebe heiige frouwe saute Klore, den ir üch geopfert und
gegeben haut und zu in verbunden sint, das sü an uwernie ende
und an dem jüngesten tage uwer schirm und helfe .sin söllent
vor allen widersachen der bösen geiste und irnie gespenste, das 5
ir us diseme eilende in das ewige leben von in mit genosseme
gefürt söllent werden — : [59 a] dar umbe süllent sü ouch hie
in zit uwer gewönlicher steter gegen wui*f sin in allen uwern
Übungen und zukeren in sunderlicher minne und ineinungen sü
zu erende und ane zu rüffende, do noch alle die heiigen und 10
hochgezit, die tegeliche durch daz jor gefallent, die süllent ir
ouch eren noch uwers ordens gewonheit, alse üch der briefer
wiset.
12. Tribet üch nu uwer minne vürbas zu keime andern
heiigen, den ir mit sunderme dienst e gerne wellent eren, daz 15
mügent ir ouch tuon one bilige beseßenheit und eigenschaft in
partigen, do mitte man die heiigen groslicher smehet, denne man
sü eret; also in etlichen klöstern sich die nunnen partigent und
gegen enander sich teilent und die eine parte heissent baptisterin,
so heissent die ander parte ewangelisterin, und ieweder parte 20
wil die andere mit irme heiigen überkiben in vil ungeordenter
zornmütiger biliger geberde und ampar one alle gütliche minne
und meinunge. ach got der verkerten unkristenen heidenschen
wisen, do mitte der tüfel etliche geistliche lüte verblendet und
verstricket, daz sü die große fruht der betwüngniße und gehör- 20
same ires ordens so gar schedeliche verlierent und doch wenent
die heiigen so grosliche eren und ir ewecliche gemessen mit
sölicher vientlicher bilikeit! got durch sine erbermde behüte uwer
lieben erberen andehtigen swestern ewecliche dar vor! Amen.
1 liebe fehlt Maria die gnadenrich hailig junckfrow 4 helfer 5
geiste — 7 werden] gaisteu mit aim gnädigen urtail in sicherhait ewig» lebens
uud binielLscber friklen 7 /". sülleu oeb ir hie iu z. sy zu uwerem gewon-
lichen g. haben in 10 f. und alle die liochzit 11 [tegeliche] durch d.
gantz jor 14 myn und naiglichait 15 mit andern sundren diensten
16 bilige fehlt 19 wider an andern ainen partigen 20 andern parteu
und des gelich und iew. partty 22 biliger— ampar] kibilcber (B; kyblicher
C) blegriger (ß; biegiger C) ungelawtenheit 23 verhertetten unkristeulichen
24 tufel] Dow geist geistliche fehlt 24 /. und verstricket fehlt 27 so gar
gr- zu e. 28 kipikait B; kybikait C 29 Amen fehlt
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12
Philipp Strauch
13. Ach liebe junge klorerin. der tusentlistige ist gar ver-
flissen allen guten somen zu verhonende und die fruht zu ver-
derbende, wo er weis ein ernsthaft erber behutsam leben, alse
uwer rloster von ussan schinet, do seget der tüfel gar gerne sin
5 unkrut in mit solicher unfridelicher zweigunge und Widerparten,
beschehe daz under üch iemer, do vor got sige, so tunt es lüter-
liche durch got und durch alle die grosse früntliche truwe und
minne, die ich in gotte zu üch habe, und henckent üch an keine
parte, wanne der tüfel ist ir banerherre und houbetman und
10 füret sü under siner rassebaner von einer Sünden zu der anderen
alse blindelingen in die ewige helle, wanne in allen widerparten
ist rassen und kriegen, vigentschaft, nid und has, hochfart und
zorn, daz alles dotsünde ist und in die ewige helle gehört, des
die lieben heiigen mit sache sin wellent noch sin kein ere habent,
15 also süliche dorehte verblendete widerparten wenent, die menge-
lichen zu irre neiglicheit twingen wellent und mit niemanne in
keiner brüderlicher glicheit ston, und scheiden! alsus der heiigen
minnenriche geselleschaft hie uf ertriche mit ungünstiger ein-
rihtikeit von enander, die doch in himelriche in alleme friden
20 ewecliche vereinbert sint, wenne ir gröste wirdikeit und ere ist
einmütiger fride und fröude in dem heiigen geiste und gemein-
same einmütekeit in brüderlicher truwen und grundelose demüte-
keit, daz keinre [59 b] begert ob dem andern zu sinde. in solicher
minnesamer demütiger einmütiger glicheit ouch alle münche und
25 nunnen gegenenauder ston soltent, do mitte ouch die heiigen
grosliche geeret wurdent, daz sü in ire zale der iemer werenden
ewigen fröudeii komen möhtent,
14. Ach liebe klarerin, sider üch got zu solicher verdien-
licher wirdikeit gerüffet het, daz ir üch durch sineu willen der
1 lieben jungen 1 f. geflissen 3 erber leben und ain b. 1. 4- orden
der boss gaist ustc. 5 zwaiung widerparttyen G gescheh inier in uwerm
kloster das 7 und — 8 habe fehlt 10 sineui raissbaner von — anderen
von der bekannten bessernden Hand eingefügt A zu der] in die 15 menge-
liehen — 17 ston von der bekannten bessernden Hand nachgetragen über ur-
sprünglicheni , aber ausgestrichenem nuweut wellen daz man iren heiigen er-
höbe und des andern wellent sü keine guode haben .4 16 zu — 17 stonj zu
iren (irer C) torheiten (torecht C) zu (fehlt C) ziechen (znchent C) und mit
niement in k. brüderlichen gl. wellent frid haben 18 ungünstigen (so!) ein-
rihtikeit von der bekannten Hand ans ungunste geändert A; hie uf ertlich
von au andern mit nidbiestigem Ungunst und mit ungelossner aintrechtigkait
22 grundlosser 27 k. m.J küment 28 lieben
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Selnirel>r;ui<l.
13
weite und alles natürlichen lnstes und trostes verzigen liant mit
vürsihtiger minnenricher vermessenheit sin gevangener zu sinde,
also lange ir lebent, gewillecliche und gern zii lidende alle
strangheit und betwüngnisse des ordens und maniger leige willen
brechen und töden der naturen: ach! so verlierent die groMe 5
fruhtbere arbeit nüt mit so gar dorehter unred elidier bilicher
kibekeit umbe der heilgen wirdikeit zu zanckende und zu
kriegende, daz in kein ere nüt enist. befelhent die sache und
alle Sachen gotte und uwern obern in rehter lidiger zu gründe
gelossenheit. daz rote ich üch in allen truwen und bitte es üch 10
mit gantzeme ernste, wenne unser herre het alle heiligen über
menschliche sinne und verston geordent und ieglicheme sunder-
liche gerüffet zu dem grote, als er in haben wil und es iu dem
beginne mit siner ewigen gütlichen wisheit ane gesehen het, und
sü hant alle dem rufte gottes gefolget, daz ieglicher in sime 15
rufte vor gotte ewicliche gewirdiget und geeret ist in volle-
komeneme niessen aller friiuden in rehter getruwer minnesanier
einmütikeit, daz sü ouch von uns begerent und unserre Zukunft
mit fröuden wartent, daz wir ouch in ire zale mit in vereiniget
siillent werden in volleme niessende aller fröuden. des süllent ir 20
üch billiche fröwen in gantzer guter wolgetruwender fröuden-
richer ziiversiht.
15. Ach liebe min fründin, wissent, uwer orden ist in allen
landen alse verlümuntet und verrümet, daz die frouwen iewelten
von meuglicheme ein also gar gilt erber wort hant und alle ire 25
wisen in singende und in lesende und in alleme ußewendigenie
schine der menige also gar wol gevellet, daz in groslich zu ver-
bannende were, daz sü mit solichen unfruhtberen schedelichen
bilden sich liessent den tüfel bekümbern und irren der gnoden-
richen influsse des heilgen geistes und aller guter göttelicher 30
5 brechen» todc A 6 bilicher fehlt 10 a. gottlichen tr. 10 und
— 11 ernste fehlt 12 veretouj Vernunft ieglicheme fehlt 13 und ab er
es 15 sü fehlt 17 mynsamkeit und e. 21 fröudenr.j fröllicber. 23
— 29 bekümbernj Ach lieben myne fründin, wissent uwer orden sant Ciaren
ist in allen landen also vernimt mit ain Hüllichen glitten landen, das den
frowen grusslich zii vergünen were, das ir kaine sich Hess mit süllichen schäd-
lichen unfmehtperen bilden den bösen gaist bekümeru 23 f uwer— ver-
minet von der bekannten Hand nachträglich eingeschaltet A 24 v'liuuutet
oder v'lümütet A nach frouwen : uwers conventea ausgestrichen A 25 hant
ausgestrichen und dann wieder von der bekannten Hand nachgetragen A
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u
Philipp Stranch
gegenwürfe, do zu sü also gar vil guter geschicketheit hant dar
umbe mögent ir gerne in ir zale und geselleschaft sin! haltent
üch früntliche und frideliche in minnesamer einmütikeit und sint
gutig und frolich und nit surheilig und gent keinre uwer hertze
ö sunderliche zu vil, die uwers grundes nüt enist.
10. Uwerre eptissin und uwerre priorin und wele üch
meistern und re[60 ajgieren sol, den süllent ir gehorsam sin
gcwillecliche und froliche in allen sachen underwörfenliche und
dienstberliche also uwene liplichen müter, und also lange ir ein
10 novicie sint und lerendes bedörfent, so künnent ir keine bessere
übunge tun, die gotte löbelicher sige und üch fruhtberer, denne
das ir üch mit ernste zu der lere kerent, und obe es üch ettewaz
sure wurt an der erste, daz sol üch uwer geminneter w T ol er-
getzen, wenne er sinen novicien lieimeliche gar vil gutes tut mit
15 innerlicheme bevintlicheme tröste hertzen und seien, geistes und
naturen in vil übernatürlicher fröudenricher fröuden alse den
altvettern vil beschiht und besehenen ist, daz ire büchere sagent.
17. Ach versmoherin der weite, wie hant ir so gar wisliche
und kündecliche gewehsselt mit rote des heiigen geistes, daz ir
20 die irdenschen zergenglichen creaturen hant übergeben umbe den
ewigen schöpf er himelriches und ertriches, mit dem üch ouch
billiche wol sol begnügen, daz ir keinen jomer noch senen niemer
sollen t gewinnen noch dem frömden gute der zitlichen dinge, die
uwer nüt ensint noch kein reht dar zu hant! der Schöpfer aller
25 creaturen ist uwer eigen, zu dem süllent ir uwer hertze mit
gantzer begirden lidecliche keren one alles ufsehen der weltlichen
hertzen gewerbe, 6be joch ir keins bi üch were in geistlicheme
schine. uwers eigenen gutes, des minneclichen jüngelinges und
kripfeknaben, unsers lieben herren .Tliesu Christi söllent ir üch
90 rehte wol genieten und üch dicke mit ime ergetzen und in er-
wirdecliche enpfohen und früntliche zu üch laden in dem heiigen
sacramente, also dicke er üch mit ordenunge werden mag und
es gewönlich ist under den erberesten swestern uwers conventes,
alse üch uwer pflegeriu und der bihter rötet, und haltent daz
1 also] all 2 gespilschaft 8 f. u. n. d.J unverdrossenlich 9 m.
und der gegenwürtigkait gott^a 12 mit flisa und ernst ettewaz fehlt
17 geschiht u. geschehen die b. an vil enden von inen 8. 19 wol kunen-
lich mit] us 22 kain belangen noch 29 krippenknaben hertzlieben
31 und — laden fehlt 34 bicht vatter
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Schürebrand.
15
mittel on alle angenomene sundere wisen, die nüt gewönlich sint
under den erberesten uwern swestern, den ir alle wegen t volgen
söllent in rehter geloßenheit und in demütiger gehorsame.
18. In dem chore söllent ir under uwern lieben andehtigen
erbern swestern in gegenwertikeit gottes und der heiigen engele 5
daz götliche ampt und uwer siben zit begon noch gewonheit und
Statuten uwers ordens und mit fröuden die engele verwesen in
gantzer guter fröudenricher znversiht, das sü uwera gesang und
uwer gebet gar fruhtberliche uf tragent vür den göttelichen an-
blig und ersetzent und erfüllent mit irre engelschen wirdikeit, 10
waz an üch gebristet an andacht, an minnen, an ernste oder an
nüt könnende, wenne singen und lesen iu gehorsame daz ist gar
ein gros heilig fruhtber werg, das uz dem heiigen geiste geordent
und gefundiert ist zu eime himelschen psalterien- und seitenspile,
das gotte und alleme himelschen here gar löbelich und geneme 15
ist von lutern reinen hertzen, und obe ir die wort nüt verstont,
so verstet es aber got und die heiligen engele, die do gegen-
wertig sint. haltent alleine uwer hertze lidig mit uf gerihteter
begirde zü gotte in luterre einfaltiger guter meinunge noch
uwerme vermögende. 20
19. [60 b] Noch einre ieglichen zit oder sus in dem tage, so
ir müssig sint und nüt dörfent dem convente warten und gehor-
sam sin, so söllent ir haben ein stetes minnekosen und heimelich
gespreche us züvallenden eigenen Worten uwers innerlichen
grundes one alle gemähte erdihtete gebet und züsamene geleite 25
wort mit uwerme gemahele und gespuntzen Jhesu Christo, also
üch der heiige geist gar vü bas ge wisen und geleren kan denne
ich und alle creaturen. bereitent ime alleine stat in üch mit
rehter lidikeit und verstelent üch nuwent dicke heimeliche mit
ime zu kammern und zü winckele von der menige und von aller 30
manigvaltikeit, wenne üch zit und stunde werden mag, und irrent
3 gehorsamikait alle zit i lieben a. e. fehlt 6 daz g. a. und fehlt
6 f. und st. fehlt 8 guter] steter 10 verdienlichait 13 von 14 ist nach
der andächtigen figur Davides psaltieren 20 hier schliefst in A Iii. 60 a,
in BC (in A nur ausgefallen, weil der Raum versagte? es ist schon am Schlufs
der Seite engere Schrift zu konstatieren) folgt noch: als David vor der arck
des himelbrotes mit siner harpfen jubeliert und sprang, das allain ain figur
was des lebendigen himelbrotes, das wir teglichen nutzen und niessen in dem
hailigen sacrament, vgl 2 Reg. 6,5.16 23 ir mit versamletten gemftt h.
25 gedieht gemachete 28 die stat 81 m. und verbildung uwer fünf sinn
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16
Philipp Strauch
got nüt sines werckes an ücli mit uwern eigenen angenomenen
wisen und ufsetzen, die ir von ordens wegen nüt schuldig sint.
20. Noch dem innerlichen minnekosende und güttelicheme
gespreche mügent ir üch ermundern mit gemeineme ussewendigeme
5 gebet te: ein vigilie oder die siben psalmen penitenciales oder
etliche andere gebet do üch got zu vermant und üch merren
andaht bringet, doch alles one besitzunge und eigenschaft; so
got ein anders von üch haben wil, daz denne die gewonheit nüt
uwer conciencie verirre und entfride! dar nach lesent etteliche
10 lerliche materiell, die üch manent zu merre begirde und zu
neherme inkere, und wenne ir des alles urdrützig und müde
werdent, so würckent ettewaz usserliches werckes mit den henden
zu einem behelfe und ergetzunge uwerre naturen, und wenne
üch alle gegenwürfe underzogen werdent, so blibent bi üch selben
15 stille und swigende noch der wisen lüte gewonheit und hörent
ouch uwern geminneten reden und nement sines insprechendes
war, also uns der prophete leret.
21. Die wort und das insprechen gottes kan kein mensche
niemer rehte verston, der zu manigvaltig ist in sinen wisen und
20 zu vil sehendes het uf die creaturen, wie er sich den lüten in
getrage und geliebe mit sinnelicher behagenheit und anehange,
daz gar gewönlich ist under vil geistlicher lüte. do vor ir üch
mit flisse hüten siillent, sider üch got die grosse gnode geton
het, daz ir von rninnen sin gevangener sin wellent mit dem libe
25 und der weite dot sint und ouch nüt irresoles noch anhanges
haut noch haben dörfent mit uwern liplichen fründen, wenne sü
üch mit gesessen sint vil zu überlouft'ende. dar umbe so machent
üch selber ouch keinen anhang mit den frömeden und haltent
uwer hertze bi üch in dem eloster und hant kein sehen har us
30 mit keinre leige uzwirglicher unlidikeit oder bekümbernisse. mit
grosseme flisse siillent ir üch halten abegescheiden, lidig, innig
und einig, do zu ir verbunden sint und uwer orden dar uf
fundieret ist, so werdent ir kürtzliche vil grosser früudenricher
wunder von gotte bevindende, wenne er milte, riche und barm-
1 in uch 5 ein v.] au vigilinen 6 /. üch — bringet] uwer myu und ernst
zu nimet und gerailtet wirt 9 uwerre A concieucien, n getilgt A] convent!
11 ink. und grösserni andacht 25 noch anh. fehlt 26 dörfent — 28 frömeden]
bedürfen , wann ir uch alles anhanges uwer lipl. fründ vertröst und verzigen
hand. dar uinb entechlohen och uch aller ander frümder personen
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Schürebrand.
17
hertzig ist allen sinen gefangenen, die sich der weite verzigen
hant. er wil alle creaturen gegen im verwesen mit tusentvaltigeme
bezalende alles darbendes.
22. [61 a] Eine minnenriche getruwe gehorsame brnt des
geminneten müs haben langmütekeit, das sü ires geminneten 5
getulteclicke und fröliehe beite und warte on alle swermutikeit,
so der geminnete under wilen enweg get und der brüte, siner
minnerin, underzühet allen trost und sussikeit, das alle ir hitzige
inbrünstige begirde und minne erlöschet und erkaltet, daz sü
alles daz verdrüßet waz sü gesiht oder gehört und ir alle inflüße 10
und gegenwürfe enpfallent und ir alle ire lüstlichen andehtigen
minnenrichen zükere und gewönlichen gebet unsmeglich und
urdrützig werdent: so müs sü vesteclich striten und vehten mit
rehter demütiger geloßenheit wider alle ungeordente swermutikeit,
wenne es dem gnodenrichen edeln aller obersten himelischen 15
künige gar ungemesse und unerlich ist, das er ein swermütig
ungeloßen muleht bluntzenkar und einen unwurschen zerblegeten
bloterkopf haben sölle zü einer gemaheln und efrouwen in sime
ewigen himelschen künigriche.
23. Ach liebe vermessene minnerin des gemiuten und lieber 20
nuwegeborner westerbar und novicie, nement uwers grundes war,
so ir swermütig sint in der naturen, waz die sache sige, und
werent üch ir mit allen den gegenwürfen, die üch do wider
gehelfen mögen t. daz ist eine sunderliche grosse verdienliche
tugent und erliche ritterschaft vor alleme himelschen here, die 25
uwer geminneter grösliche priset und lobet in eime fröuden-
richen glorierende, des ir mit ime und mit allen uzerwelten
ewecliche gebruchen söllent, do von ouch uwer nature hie in zit
grösliche gestercket wurt und üch enpfenglich machent des
heiigen geistes inflüsse und aller liehtrichen göttelichen gnoden 30
und sussikeit, so ir wolgemüt und fröliehe sint von innan in
rehter stiller gesohstkeit von ussan.
2 in A, lies ir der Welt ? 3 darbens und torens und mangels der
zitlichen gelüsten 5 gem. an erster Stelle] hcren 6 get. und lang-
mutigklich und fr. Hf ir h. i. beg ] ir hitz und inbrunstigkait 12 f. un-
schmackend und unlustig w. und urdr. 17 einen nachgetragen A 19 küngk-
lichen tron mit himclischer gezierd durchglentzet 20 lieben vermessnen m.
20 und — 21 novicie fehlt 24 grosse fehlt 27 glorierend bertzen uch
mit im u. allen 29 uch] och machent (sc. wurt); machet BC 31 sössi-
keit] enpfintliches trostes in] mit 32 gesatzheit
2
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18
Philipp Strauch
24. So üch uwere versumete zit und aller uwer gebreste
wurt vürgehebt in gruwelicher grosser swermütikeit eins ver-
zwifelndes und verzagendes, so werent üch ir kreftecliche mit
der erbermde gottes und gedenckent, daz sin heiiges wirdiges
5 verdienen hundert tusent weite sünde alse lihtecliche zu ver-
zihende het und bezalen mag alse eine einigeste sünde, und
bildent in üch den Schocher an dem crütze, die ebrecherin und
andere grosse sündere, die er gar richliche begobet und bcgnodet
het, und habent ein gut getruwen zu gotte und nieinent alleine
10 sin lop und sin ere unbetrogenliche und worhaftecliche vür alles
des uwem in zit und in ewikeit. so werdent ir sunder zwifel in
uwerre naturen gr6sliche getröstet und erfrouwet in gantzer
guter Zuversicht, daz ir billiche aller swermutikeit vergessen!.
25. So uwere begirde in swermütigeme senende stot noch
15 der gnoden, die ir versumet hant und noch gerne ervolgen
woltent, und üch bejomert, daz ir nüt erlühtet sint alse andere
grosse gottesfründe und begnodete menschen, dem [61 b] wider-
stont in uwerme gründe ernstliche und sehetzent üch sin alzü
mole unwirdig alsus sprechende mit hertzen und mit munde:
20 1 herre Jhesu Christe, min lieber geminneter, were ich aller diner
gnoden alse wirdig also dine liebe müter und alles himelsches
her, nochdeune wolte ich sin gerne darben dinem eilenden tode
zü eren. sus darbe ich sin gar billiche von mines manigv altigen
grossen gebresten wegen, din lop und din ere begere ich vür
25 alles des minen in zit und in ewikeit'. hie mitte überwindent ir
ouch uwer swermütekeit, dar zü üch volget grosse verdienliche
gnode durch die demütikeit.
26. So ir müssent uwern eigenen willen brechen und uwern
lüsten abegon und ettewaz werckes wider uwere nature üben,
30 uwere alte gewonheit lossen und nuwer wisen beginnen, daz üch
Sachet zü swermütikeit, do gent üch verwegenliche in uwerme
geminten zü eren, der üch es wol sol ergetzen, und gedenckent,
daz alles liden und widerwertekeit diser zit gar kurtz ist und
die fruht ewecliche weret, so wurt uwer nature billiche fro und
35 frölich und frouwet sich mit fröuden, daz üch keine swer-
mütikeit geschaden mag.
1 Nr. 24 fehlt C 9 menient A; nement B 15 erfüllen 17 dem
— 18 und] des 20 f. d. enpfintlichen trostlichen gaben also 21 Maria
din 1. m. 22 dinem heiligen liden und dinem e. t.
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Schlirebrand.
19
27. Was ungeordentes lustes ir ie hant ingeslunden an
kleidern, an kleinötern, an gespilschefte, an ergetzenlichem
gonde oder stonde, an besehssenheit der creaturen, an müt-
willigeme gebruche uwerre fünf sinne, und alle ungeordente
neiglicheit uwers herzen, daz müs alles her wider uz sweren 5
mit manigeme eilenden, smertzenlichen tode der naturen, daz
ouch die fruhtberste büsse und besserunge ist. waz swermutikeit
üch dar us entspringet, daz ist eine sunderliche heilsame salbe,
do mitte uwer geminneter üch ertzenen und heilen wil von allen
süntlichen mosen und gebresten. dar umbe machent es üch selber 10
fruhtber mit getultiger langmütikeit !
28. So ein swermütiges eilendes senen in üch nf stot noch
weltlicheme tröste, noch natürlicher fröuden, noch ettelicher
creaturen, noch zitlichem gute, noch üppiger eren, noch un-
geordenteme luste, oder war noch uwer nature einen senenden 15
jomer gewinnet, daz nüt luter got ist, ach! so schetzent die
unreine sorgliche vergift und die bittere galle des manigvaltigen
lidendes, truckes und getrenges, do mitte es alles vermüschet ist,
die betrogenheit des schines, den ungetruwen Ion der weite, die
unstetikeit der löuffe, das unfrideliche bissen und nagen uwerre 20
conciencien, die unsichere künftige zit, daz ir sterben müssen^
und alle eilende sorgliche durchgenge dis zergenglichen armen
lebendes! das widersieht üch billiche allen ingetragenen lust
und trost der weite in eime gantzen versmohende, daz üch keine
ungeordente swermutikeit in solicher senunge und jomerkeit des 25
heiigen geistes noch siner gnodenrichen inflüsse niemer ge-
irren mag.
29. [62 a] So uwere nature ane vellet grosser unmnt und
swermutikeit ettelicher personen halp, die üch widerzeme und
unlüstlich sint in allen iren wisen und gelessen und ettewaz von 30
in getrucket und getrenget werdent von innan oder von ussan,
ach! so machent es üch selber fruhtber und nütze in dem
wirdigen lidende und verdienende uwers geminneten gemaheln
Jhesu Christi, daz ir es in üch behabent on alle zornmütige
clagebere usbrüche und bildent in üch und gedenckent, wie gar 35
senftmütecliche und getultecliche in grosser niinnen er üch und
2 f. ergetzlicher gnad oder Standes 17 unraineu zergangklichen
Borgklichen 18 alles] also B 23 kurtzen leb. 26 noch s. gu. fehlt
34 behalten. 34/! zornm. clageb. nachgetragen A 35 usbrechung
2*
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20
Philipp Strauch
alle widerspenige menschen so gar demütecliche lidet in irre
grossen unbekanten undanckberkeit und sich ouch leit in mensch-
licher naturen, das er durchehtet und gepiniget wolte werden
von den valschen rihtern Pylato, Herode, Cayphe, Anne und von
5 dem ungetruwen verreter Judas — und die andern vigentlichen
Wüteriche und tyrannen, die in verspützetent und verspuwetent
und ime alle unere erbuttent und ime groß manigvaltig pinlich
liden und den bittern dot ane totent: das lidiget uwere nature
billiche von aller swermütekeit und untroste, das ir in geiste
10 und in naturen erfröwet werdent und gute zuversiht gewinnent
in demütiger langmütiger getult.
30. So üch mit grosser swermütikeit ein senender zwifel
und eine ungeordente vorhte in vellet und üch duncket, das
alles uwer leben in tünde und in lossende gotte ungefellich und
15 ungeneme sige und üch sige ein sache zu ewiger verdümnisse,
ach ! so schöpfent usser dem burnen siner grundelosen erbermede
mit der Cananeschen heidenin ein minnenriches getruwen und
glouben und ein fröliches ufopfern und ufgeben uwern lip und
uwere sele und alles uwer tun und lossen gelessenliche in sinen
20 gewalt, alsus sprechende: 'min geminter lieber herre Jhesus
Christus, tu mir an sele und an libe hie in zit und ewecliche
noch erbermede, waz dir aller liebest und löbelichest sige.
hilf mir, daz dir alleine keine unere von mir niemer erbotten
werde!': üch wart sunder zwifel von gotte gegeben bekantnisse
25 und underscheit alles uwers lebendes in gnoden und in minnen,
daz üch alle swermütikeit und missetrost verwandelt und ver-
kert wurt in ein minnenriches fröudenriches hoffen in gantzer
guter zuversiht.
2 gr. undanckperen unb. undancknemekaiten und sweren Bünden 5 vigentl.J
widerzemen 6 verspützetent] verspotenten B; verspotten C 7 enbnten
10 f. gew. und aller menschen gebresten und unlustliche geberd und geless
dester mynsamklicher und frnchtperlicher geliden knnnent in langm. swigender
gedult und mit fridsamen hertzen 15 ungeneme] widerzem sige e. s.]
aachet 16 us brunen 17 Cannaneischen frowen 18 geloben uwer
19 uwere fehlt 20 g. us aim demütigen grund also spr. mit der haidinen
20 f. Jh. Chr. ich bin nit wirdig der brot, ich begere allain mit den klainen
hUndlin der brosmen die da niderfallen von der heren tisch (vgl. Matth. 15,27>
und darumb tu 22 noch erbermede nachgetragen Ä 24 üch — gegeben]
und zwifel nit der here uwer geminter tut uch gnad als och der haidinen,
das uch geben wirt 25 liechtricher undersch. in gn. und in m. fehlt
28 güter] wol getruwender
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Schürebrand.
21
81. So üch anevallent etteliche ussere liden, betrüpnisse
von uwerme nehsten, stroffunge uwere obern, misseval aller
uwerre wercke, siech tage und krangheit des libes, innerliche
angestberkeit und vorhte, daz man uwern siechtagen oder andere
uwere wise mit urdrutze lide und mit urteile und verdrieße dar 5
uf valle, verlust oder mangel des gutes und des gunstes uwerre
liebsten fründe, widerdries in der nature und von den creaturen,
weierleige daz ist verschuldet oder unverschuldet, daz üch eine
sache ist zu swermütikeit, so legent alleine abe waz üch ent-
fridet in der conziencien und frouwent üch uwere unschulde und 10
der künftigen ewigen selikeit und tragent alles mittel uf uwern
geminneten, alsus sprechende: 'min aller liebester brütegoum
herre Jhesu Christe, dis widerwertige getrenge ist des nüt wert,
daz ich dir es opfern getörre, mache dir es löbeliche und mir
fruhtber in dime heiigen [62 b] wirdigen verdienende, wenne ich 15
es gerne dir zu eren liden wil und alles daz du von mir gelitten
wilt haben' — : sunder zwifel so wurt üch alles liden ein minnen-
richer trost und süssikeit und aller ussewendiger liplicher trost
ein indewendig liden und verdriessen von rehter minnen.
32. Nüt lont üch den bösen geist niemer kein kräng houbt 20
gemachen mit keiner ungeordenten verirreten conziencien! ebe
ir joch wol von krangheit in ettewaz sweren gebresten vallent
und uwere gute vermessenheit übertrettent, so lont es üch zühant
leit sin und blibent nüt dar uffe mit keime langen swermütigen
kifelnde. getruwent uwerme geininten! er ist foul grundeloser 25
erbermede, er lot es balde versünet sin mit grossen züvallenden
nützen und frühten, daz ir deste demütiger und deste minnen-
richer werdent und uwer kleinheit und unvermögenheit deste
bas bekennent und mit uwerre besserlichen bekerde noch
lute und sage des heiigen ewangelies alles himelsches her er- 30
frouwent. Lu
33. Lidigent uwer hertze von aller anklebelichen behangen-
heit der creaturen und eigenschaft zitliches gefelles und nutzes,
1 1. and betr. 2 u. nehsten] den lüten 2 f. 0. in missfeligem schetzen
aller nwer werck 3 und] oder 5 wisen verdrossenbait 6 zitlichen
gutes 11 selikeit] frncht die uch volget durch sölliche widerwertigkait und
getreng nwenn A 12 brütegoum fehlt 14 es dir mir fehlt 17 s.
zwifel fehlt 20 kein fehlt 21 machen ob 22 unfürsichtiger kr.
swerer 25 kiflen 29 bekerden A; bekerd ßC 30 ewangeliü, so auch
sonst 32 hertzen ankleblichait und behangenheit 33 nutzes] gewerbes
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22
Philipp Stranch
daz der geminnete möge sine werg in üch gewircken noch sinem
willen, alse er wol weis, waz üch zugehört, wenne wir nüt alle
gliche gerüffet sint noch gezogen werdent. wil er üch ziehen
durch swermutikeit, daz müssent ir uz liden in rehter gelossen-
5 heit also lange er wil. wenne alle büchelin und minnebriefe,
alle bredigen, alle bihter, alle lerer, alle artzote und alle crea-
turen mügent üch des nit vor gesin mit keinem ergetzenlichen
tröste, uwer geminter herre, der ein meister ist aller künste und
wisheit, der kan es üch verwandeln in bittere mirre und galle,
10 alse lange er wil, und weis, daz ir von allen mosen gelütert
sint und der ewigen himelschen honigwaben enpfenglich werdent.
dar umbe so gent üch frilich in sinen willen, so ist üch alles
liden und swermutikeit deste lihter und fruhtberer und werdent
vil deste e lidig mit grossen fröudenrichen fröuden.
15 34. In allen uwern swermütigen lidenden trücken und ge-
trengen söllent ir üch gesten und uwer gemüte uf erheben mit
gemeiteme fröudenrichen gloriierende, daz der ewige himelsche
künig, Schöpfer aller creaturen, uwer geminneter gemahele und
vertruweter eman ist, dem ir rehte gemehelliche truwen leisten
20 süllent, sinem armüte, sinem eilende, siner versmehte noch zä
volgende hie in zit in aller glicheit noch uwerme vermügende,
so werdent ir ouch glicheit mit ime habende in den iemer
werenden ewigen fröuden. nu schetzent daz eine gegen dem
andern, wie gar kleine und kurtz ist alles liden und arbeit diser
25 zit und die fruht so gar unsprechenliche und übersinneliche gros
und iemerewig: sicher das tröstet üch billiche in allen uwerme
darbende und lidende, daz ir [G3 a] es deste gerner liden söllent
one alle swermutikeit, alse üch der widemebrief raanet zu aller
nehst hie noch geschriben.
30 H5. Der aller edelste schöne jüngeling, jungher Jhesus genant
Cristus, des ewigen himelschen vatters eingeborner sun, Marien
der lutern reinen megede kint, gewaltiger herre himelriches und
1 f. noch s. w. fehlt 5 f. [minnejbrief und br. 6 und fehlt 8 herre]
gemachel Jhesus 9 alles vcrw. bitterre A 12 nach willen: und in das
würcken sines ellenmeutes der erden, das och an vil menschen Sachet zu
swermüttigkait. das machent uch selb fruchtper und licht in demütiger
gelassenhait und behütsamkait vor aller zornmütiger ungedult und ergerlichen
ussbrüchen der geswenden Worten und geeben ungestümen sitten 14 fröudenr.]
gnadenrieben 17 fr.J frolichem 19 r. gemachelschaft und eliche trüw
25 und übers, gr.] gros über all sinnlich Vernunft 28 alse — 29 geschriben
fehlt 31 eingeborner fehlt 32 reinen fehlt gew. obrester h.
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Schürebrand.
23
ertliches, dem ir vertruwet und gemehelt sint zu" der heiligen e
und ir ime zu widemen und zu estüre gegeben und ufgelossen
hant uweren eigenen willen und alle fröde, trost, lust und ere
der weite und aller creaturen in dem respons Kegnum mundi:
der selbe aller edelste jungherre. uwer geminter brütegoum 5
.Thesus Christus gebe üch widerumbe zu niorgengobe, zü widemen
und zü estüre einen munt voul götteliches lobes one alle über-
flüssige, unfruhtbere wort, ein hertze foul jubilierender fröuden
und senender begirde sins liebesten willen on alle unfruhtbere
bilde und behangenheit der creaturen, eine sele foul befintliches 10
gottes one alle besessenheit und verbildunge zitliches kumbers,
einen gesunden lip one alle böse glüste und neiglicheit zu der
weite, einen demutigen gebesserlichen wandel one alle trege
abelessikeit in dem gottes dienste, einen geordenten ernst on
alle witsweiffikeit uwerre fünf sinne, ein versamelt geniüte wol 15
geschicket zü allen inflüssen des heiligen geistes, einen geist der
götlichen wisheit und stercke, der üch helfe alle untugende
miden mit ervolgende aller tugende, do durch ir verdienen t die
fruht, die der selbe uwer geminneter gemahele Jhesus Christus
gelobet het in dem widembriefe des heiigen ewangelies üch und 20
allen den, die durch sinen willen lont hus, brüder, swester, Ak
vatter oder miiter, wip oder kint oder acker, die söllent dar
umbe enpfohen hundertvaltigen Ion und besitzen ewig leben, des
ir und alle geistliche ergebene gottes gemaheln versichert
werdent, die iren orden begerent flissecliche zü haltende, dem 25
sü an gottes stat verbunden sint und gelobet hant gehorsame,
küschikeit und armüt, daz sint ouch die pfede und wege der
apposteln, der marteler, der bihter, der jungfrouwen und aller
gottes fründe, die sü in diser zit gewandelt und gegangen hant
mit manigeme eilenden sterbende und uzgange ires eigenen 30
willen und irre naturen und allen liplichen lüsten: die wellent
ouch üch gerne helfen überwinden und anegesigen allen
anestürmen der bekorungen, daz ii' mit in teilhaftig werdent
ires gesiges und ewecliche in ire zale kumment mit volleme
messende ires verdienten lones, des habent ein gantz getruwen 35
1 yennächlet 2 zä gewidmet 2 f. geben sind nnd uf geben nnd
gelassen uwern 4 Regnnm mnndi et omueui ornatum saecnli contcmpsi
propter amorem Domini nostri Iesn Christi ixt der Anfang des Hesjwnsoriums
bei der benedictio et consecratio virginum 13 besserlichen 10 geminneter
fehlt 32 uns 35 verdienten fehlt
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24
Philipp Strauch
und vollekummene Zuversicht, wenne uwer geminneter elicher
geniahele ist milte und barmhertzig und haltet gar getruweliche
sine e gegen allen den, die do vollehertent in irme guten beginne
one alles übertretten irre e. der liebe sancte Franciscus und die
5 heiige frouwe sante Clore gestercken[t] und bestetigen[t] üch
ewicliche! Amen.
36. [03 b] Ach liebe wol berotene bnit des obersten herren
Jhesu Christi, uwer geminneter, der soliche grosse erliche riche
widemen zü gebende het und üch gelobet het zu gebende in dem
10 widemebriefe des heiigen ewangelies, der sol üch billiche alle zit
gegenwertig sin in rehter minnender truwe und mittelidende, das
ir anesehent und dicke betrahtent, wie türe er üch gekouft het,
wie sure er üch erarnet het, wie friliche er üch erlöset het und
grösliche er üch geminnet het, daz er durch uwern willen
15 menschliche nature an sich nam und uf ertriche wandelte xxxiij
jor in eilende, in armüt. in großer versmehede und het gelitten
frost, hitze, hunger und turst und manigerleige mangel und
gebresten, durchehtunge und spot, das er verroten wart, daz er
vigentliche gefangen wart und verurteilet zü dem tode und alles
20 sin kostbers blüt durch üch vergos in der besnidunge, uf dem
berge Oliveti, an der süllen, von der scharpfen dürninen krönen
und an dem heiigen crütze. ach! wie gar billiche ein gewore
minnerin und eine getruwe efrouwe des geminneten hie von
beweget und entzündet sol werden in rehter hitziger inbrünstiger
25 minnen, das ir alles liden lüstlich und begirlich wurt zü lidende
und allen liplichen trost und ergetzunge zü versuchende durch
ires geminneten willen fröliche und minnenrichliche in noch-
volgender wise one alle swermütikeit!
37. Ach liebe begirliche nochvolgerin, künnent ir uwerme
30 geminneten Uder Jhesu Christo nüt innerlicher noch neher noch
gevolgen in dangberlicher betrahtunge sins heiigen wirdigen
miimenrichen frubtberen lidendes, so sprechent doch dicke mit
ernste und mit andaht dise noch geschribene gute vermanunge.
7 liebeu w. beraiten wol geratnen (wol g. fehlt C) gemachliu des o. ge-
waltigen 9 widen gaben zii g. 13 wie sure er — hat fehlt 21 olly vete
23 frouwe 28 andere 29 — 32 sprechent] Ob nun ir und ander gaistlich
gemint gottes trütinen in bewerten orden oder ander gütwillig erber personen,
diss büchlins leser, so vil beweglicher andächtiger minn und ernst von inen
haben nit euroügent noch enkünen in nachvolgender wis des hailigen wirdigen
minnrichen froehtperen lidens ires genannten J. Chr. die sollen 33 verm.
sprechen
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Schlirebrand.
25
üch sol vil innerlicher goben und richeit von gotte dar durch
gegeben werden, daz ir die ussewendige armüt deste baz geliden
künnent mit eime fröudenrichen verzage alles liplichen trostes,
ebe ir wurdent mangel haben an tegelichen züvellen liplicher
besorgunge, daz vil lihte die andern frouwen gar gewon siut 5
und in tegeliche vil lüstlicher tränten von iren fründen geschicket
und geschencket wurt, daz sü doch zu jungest bezalen niüssent
durch gros, bitter liden und getrenge irre conciencien, die sü
nit lot soliche sunderheit und cigenschaft frideliehe one gros
stroffen niessen, obe in so vil underscheides und liehtricher 10
bekantnisse von gotte gegeben ist und ouch obe sü wellent dem
bilde gottes und der regeln ires vatters sancti Francis« und irre
müter sante Cloren volgen und die fruht der armüt, der gehor-
same und der küschikeit mit in besitzen und ewecliche niessen,
wenne welre münch oder nunne diser drier puncten und artickele 15
eins ubertrittet und brichet, dem sint die andern zwene nüt
fruhtber noch verdienlich, alse lange untze daz er widerkert mit
geworeme ruwen und mit bekanter besserunge.
Nu vohet daz gnodenriche andehtige gebet hie ane, alsus
sprechende : 20
38. [64 a] Ach lieber erbarmhertziger getruwer milter vatter
und herre Jhesus Christus, ich dancke dir und ermane dich alles
dines minnenrichen verdienendes und dines heiigen guodenrichen
strengen bittern lidendes, daz du von minnen durch mich gelitten
hast xxxiij jor in diseme eilende, und ich bitte dich, lieber herre, 20
daz du gnedig und erbarmhertzig sigest mir armen unwirdigen
gnodelosen Sünderin und mir alle mine grosse sünde, die ich
leider alle mine tage so gar frevenliche begangen habe, gnedek-
liche verzihest und vergebest und ouch miltecliche vür mich
geltest und bezalest usser dem wirdigen schätze dins heiigen 30
todes und diner guodenrichen minnefliessenden wunden und dines
heilsamen kostbern rosevarwen blutes, daz du durch mich so gar
miltekliche und manigvaltecliche verswendet und vergoren hast
1 üch boI] so sol inen so 2 a. und allen mangel 3 fr. verzige]
frölichen fr. hertzen in verztichung 4 ir ettlichc 5 die fehlt ander fr.
ir gespillen oder geistlichen sweetern gar 7 sü doch] doch die ergeben nnd
gaistlichen personen in den bewerten orden 12 vatters — 13 Cloren] ordens
12 Francissi A 24 erlitten 27 guodel.] grossen grosse nachgetragen A
27 die — 29 verzihest und nachgetragen oben am rande A 30 vergeltest
us 33 miltekl. vergossen hast hast fehlt
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26
Philipp Strauch
in der besnidunge, uf dem berge Olivety, an der sulen, von der
scharpfen durninen krönen und an dem heiigen crütze, und ich
bitte dich ouch durch diner ewigen ere willen und durch diner
lieben milten müter willen und durch aller diner lieben engele
b und heiligen willen und durch alles dines heiligen lidendes und
verdienendes willen, daz du mir nu gebest ane zu vollende und
ouch mit diner helfe untze in minen dot zu vollbringende ein
nuwe luter demütig senftmütig kusch ördenlich gehorsam leben
noch dime höhsten lobe und nach dime aller liebesten götte-
10 lichesten willen und mich ouch ewecliche behütest und uf ent-
haltest von allen dötlichen Sünden, daz ich mich dins verdienendes
und dines ewigen himelschen vatters milten goben, Marien diner
lieben müter, des lieben sante Johans Baptisten und sante Johans
ewangelisten und aller engel und heiigen helfe, trost und gegen-
15 wertikeit an minem ende versehen und gefrüwen müge in gantzer
guter fröudenricher Zuversicht, also daz mir der bösen geiste
schalkehtes ungehüres vientliches logen und anvehten in zit noch
in ewikeit niemer geschaden noch erschrecken möge. 0 Maria,
gnodenriche erbarmhertzige liebe milte müter und sünerin aller
20 Sünder, und lieber min getruwer gnediger vatter sante Johans
Baptiste, lieber herre sante Johans ewangeliste und alle lieben
apposteln und liebe heilige gewore ruwerin und hohe götliche
minnerin sancta Maria Magdalena und alle engele und heiigen,
das helffent mir armen unwirdigen gnodelosen sünder bitten und
25 erwerben umb unsern lieben herren Jhesum Christum durch
aller der großen fröude und ere willen, do zü er üch usser siner
grossen grundelosen erbermede ewicliche beschaffen und erweit
hat. amen.
39. Alle gotes gemehelte efrouwen in geistlichem schine
30 eins bewerten ordens süllent leren türeredig sin und die menige
vaste schuhen und ire fünf sinne in hüten haben und one rede-
liche sache zü venster niemer kummen, dar uf ouch aller meist
2 ich nachgetragen A 4 milten fehlt 6 willen nach verdienendes
nachgetragen A 12 milte A 13 lieben sante — 14 ewangelisten] hailigen
heren sant Francisci der hailigen jnnckfrowen sant Ciaren 15 erfröwen
IG guter nachgetragen A 17 schalckhaftiges 20 f. Johans — und] Francisens
liebe hailige muter saut Clara 21 f. 1. hailigen appostel gewore liebe heilige
24 »ünderin 26 eren u. frödn 2(! er — 28 hat] er üch (uns C) us (fehlt C)
erweit hat in s. g. gr. bannherzigkait geschaffen und fursechen 30 lernen
31 fliecheu hüt 32 dem vensterlin dar um und dar uf aller meiBt fehlt
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Schürebrand.
27
uwer orden heilicliche fundieret ist uz grosser gnodenricher an-
daht, also wol schinet an aller ussewendiger geschicketheit und
ordenunge, daz keine swappelmetze noch murmeldine dar in
gehört, die ein merentragerin ist vil Sachen uz zu rihtende [64 b]
mit urteile und mit hinderklaffende uffe iren ebenmenschen zu 5
slahende, und gerne vil von ussewendigen dingen und von welt-
lichem gescheffede hörent sagen, daz uwere personen sunderliche
nit zu gehört noch keinre leige anhang der creaturen, wenne es
üch nüt enfrummet denne zit verlieren und herze verbilden, do
mit ir uweren geminten von üch verjagent und uz tribent, daz 10
üch sine götliche bevintliche gnode und alle inflüsse des heiligen
geistes unbekant und frömde wurt und in üch getrübten nüt
enmügent, do wider ouch denne der tüfel sine appetgotte in
üch bildet mit vil wüsten unreinen frömden unnützen gegen-
würfen, die üch uwern andaht und allen uwern innerlichen ernst 15
zerstörent, daz ir eine gnodelose trege verblibene nunne werdent.
ach, liebe rainnerin des geminten, do vor hütent üch, daz ir üt
die grosse gnode gottes so gar unahtsamkliche under uwere fasse
trettent und uwere fruhtbere edele zit so gar schedeliche ver-
lierent und es iemer ewecliche bedarben müssent, wenne dis 20
leben ist kurtz und unsicher.
40. Eine reine lutere conciencie ist der Ursprung rehtes
innerliches hertzen friden und fröuden, der in dem heiigen geiste
entspringet und in ewikeit lendet, und ist eine heilsame artzenie
wider alle swermütikeit, dar umbe süllent ir nilliche gar fröliche 25
sin und ewicliche niemer trurig noch swermütig werden in grosser
dangberkeit, daz üch got in uwern jungen tagen so gar vetterliche
het vürkomen und ufenthalten und behütet vor vil sorglichen
stricken und banden des tüfels und der weite, daz ir nu in uwere
kintlichen luterkeit one grossen mosen und sweren gebresten sint 30
entrunnen aller manigvaltikeit und Unsicherheit züvalles und
1 o. Bant Ciaren gestiftet nnd gefundiert 2 erschinet ü geschicklicheit
3 munneltin 4 mertragerin uz zu rihtende] nach ze forschen (fragen C)
und zu verantwurten 7 hörent sc. ist (4) p. noch kainen snnderlichen
gottes fründen nit 9 üch fehlt denne] sunder 10 v. ftch verj. nnd fehlt
12 werden 12 f. nit gefr. mag 13 hos gaist VSf abgüt in bildet in uch
14 uiinützen fehlt 15 an Uwcrem and. und an allem [ uwern J 16 irren
und zerstören eine fehlt nnnnen werden 17 nit 18 kliche an
unahtsam nachgetragen A 20 es] sin darben 23 hertzen fehlt 24 eut^
springet u. in e. nachgetragen A 25 billiche fehlt 29 bösen gaistes 30 gross
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28
Philipp Strauch
anehanges, aller schedelicher hindernisse zu" der erberen behflt-
samen lidigen abegescheidenheit, vor allen Ursachen der groben
gebresten und der grossen Sünden und in uwere ersten unschulde
ewecliche wol blibent mit großeme verdienende und züvelligen
5 grossen frühten, die sich tegeliche merrent und zu nement durch
die gehorsame und durch alle die Übungen und willen brechende,
do zu uch der orden und die Meisterschaft twinget und bindet
in tünde und in loßende, das die nature dicke gar nohe rüret
und übele smirtzet, daz ir uwern eigenen willen nüt me ge-
10 bruchen getörrent noch ensöllent, wenne es uch die consciencie
und uwere bescheidenheit bi nute gestattet, ach! fröwent uch
mit fröuden und sint frölich und fro uf die künftige ere und
fröude, die ir iemerewicliche besitzen und gebruchen süllent mit
allen uzerwelten gottes fründen in iemerwerenden fröudenrichen
15 fröuden.
41. Der aller höhste edelste gegen wurf und behelf wider
alle swermütikeit ist, daz ir glouben müssent und billiche gerne
glouben süllent mit der heiigen cristenheit unzwifelliche, daz
uwer got und uwer herre, uwer Schöpfer und uwer erlöser und
20 ewiger behalter, uwer vatter und uwer brüder und uwer getruwer
[65 a] geminneter elicher brütegoum und gemahel gegen würtecliche
bi uch ist und zu uch kummet mit einer grossen herlichen schar
der engele in dem wirdigen heiigen sacramente in gantzer voller
majestat, herschaft, wirdikeit und eren, richeit und gewalt> alse
25 er in himele wonet vatter sun und heiliger geist, die almehtige
heiige trivaltikeit, mit der geworen menscheit, in aller der ge-
schöpfede und gestalt, also in Maria, sine liebe muter, in meget-
licher luterkeit gebar, uud in aller der grösse und lenge, alse
er uf ertl iche wandelte und an dem heiigen crütze hing, mit
30 allen den frühten, die er uns mit sime heiigen wirdigen lideude
verdienet het. hie von soltent wir billiche in grosser minnen
und dangberkeit zerfliessen und gantze züversiht und getruwen
haben, daz er uns nüt verzihen noch versagen mag. waz wir in
redeliches iemer gebitten künnent mit gantzeme vesten glouben,
35 daz zu unsere ewigen selikeit gehört, nüt anders sol ouch eine
gewore minnerin gottes begeren noch bitten.
1 verbildung und h. 2 vou aller ursach 4 großeme] manigvaltigem
G Übungen] widerwertigen anstos 11 bi nute] nit 16 hilf 17 geloben B
18 globen 21 geminneter fehlt 23 volkumner 31/". min sten und in
min und d. 33 verzihen noch fMt 35 nüt -36 bitten fehlt
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Schftrebrand
29
42. Ach liebe junge clorerin, alsus werent üch und behelfent
üch mit disen vorgeschribenen gegenwürfen gegen allen ane-
stürmen des bösen geistes und wider alle senliche Zartheit uwere
naturen und wider alle ungeordente betrüpniße und swermütikeit,
die üch irrent des heiigen geistes und aller siner gnodenrichen 5
inflüsse, wenne der heiige geist eninag noch enwil mit wonen
noch wircken denne in eime lidigen unbekümberten fridesamen
frölichen herzen, do zu ir gar vil guter geschicketheit haut und
noch vil nie gewinnende werden t, do ir nu uwer weichertzikeit
gerwe überwindent und der innikeit wol gewonent und uwere 10
fründe und aller neiglicheit gerwe vergeßent und zu gantzeme
friden und ruwe kumment, Ach! fröwent üch mit fröuden und
sint frölich und fro! der herre wil üch richliche bezalen und
ewicliche ergetzen in gantzen fröuden waz ir truckes und ge-
trenges und eilendes senens und darbens hie in zit durch sinen 15
willen lident
43. Uwer schätz sol sin bi uwerme geminneten in himel- Matth, o, 20
riebe, do üch in nieman mag gescherten noch verstelen noch mit
keiner untruwe abegeziehen. do sol ouch uwer hertze sin mit
steter senender begirde, daz ir uwerme geminten bereitschaft 20
und stat gebent und lont in selber wergmeister sin one alle
angenomene eigene ufsetze, die uwer orden mit haltet, so mag
der heiige geist nüt müssig sin, er würcke kürtzliche soliche
große werg in üch, die alle natürliche sinne nüt begriffen mögent,
daz ir alse gar foul bürnender hitziger inbrünstiger minnen 25
werdent, dar us üch denne ent springet sol icher grosser über-
treffender fride und fröude, den die blödekeit uwere naturen die
lenge nüt wol geliden noch getragen muhte, müschete und mengete
es üch der heiige geist nüt mit ettelicher bitterkeit und mirren.
dar umbe süllent ir alle sine goben dangberliche und fröliche 30
von ime nemen one alle swermütikeit,
44. [65 b] Ach frouwent üch mit fröuden und sint frölich
und fro mit guter hoffenunge uf die ewige künftige richeit on
alle swermütikeit, sit daz die güte gottes daz kleine brendelin
1 liebe j. cl. alsus fehlt 3 sinnliche 9 nu fehlt 10. 11 gerwe]
gantz 11 zu — 12 kumment] ain stil gerüwig hertz gewinnent von aller
senlichait der ussern bild 13 r. und erlichen (rilieb B) 15 senen und
darben A 18 gesch. noch verst.] gesteilen. 21 gebent in unbebangner
ledigkait 22 in haltet 23 m. sin] enlon soliche fehlt. 31 uf nemen
von im
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30
Philipp Strauch
und gl finsende ganeisterlin uwerre gut willigen vermessenheit und
begirlichen neigungen bet gemeinsamet und vereinbert in daz
grofie hitzige inbrünstige minneflammende für aller briidere und
swestern sante Franeiscus orden und ir baut us wiseme rote des
5 beilgen geist.es daz pfunt uwers eigenen willen in eine gar erliehe
riebe gemeinschaft geleit, in der uwer grosser gewin sich tege-
liebe meret und wuchert hundert tusentvalt, daz ücb zu uwerme
teile zu gewinne wider umbe wurt sunder allen zwifel. sint
alleine feste und stete in gantzeme fröudenrichenie güteme ge-
10 truwende und erbeitent der zit und wartent der gnoden gott.es
mit demütiger gewilliger langmütikeit on alles swermütiges
verdriessen und belangen: welre bände trug oder getrenge von
innan oder von ussen noch iemer uf ücb gefeilet, es sol ücb gar
kiirtzlic.be bezalt werden riehliche und wol von der milten güte
15 gottes hie in zit und iemer eweclicbe.
45 [00 aj Ach! nu recbenent uwern großen gewin, der ücb
wurt umb kleines houbetgut uwers eigenen willen! sehetzent alle
die gnodenricben edeln meßen, die in der gantzen cristenheit ie
gesprochen wurdent und nu und eweclichen gesprochen süllent
20 werden von allen priestern uwers ordens und schetzent allen den
erlichen gottes dienst und daz andehtige gebet und die inner-
lichen zukere und alle die guten werg, die in der gantzen weite
von allen uwern brüdern und swestern ie beschohent und nu
und ewicliche beschehen süllent, dar in alles uwer verdienlich
25 leben und kleiner gottes dienst vermüschet ist und ersetzet wurt,
daz uwer lützel zukere vil schinent und uwer lewes minneloses
kleines gebet und Übungen gros und begirlich wurt dem himel-
schen vatter in rebter vollekumenheit von der menige wegen,
zU der ir üch in gemeinschaft verbunden haut, daz ir die fruht
30 alles ires verdienendes ewicliche mit in nießen süllent in der
zale aller marteler, bihter und jungf rouwen , do ir und alle
geistliche personen in gehörent, die sich verbunden hant zu ge-
1 glunsendes gnaistlin 3 inbr. für in das in. 8 on a. zw. df. ver-
trauen 10 baitent 14 k.] sicherlich r. und wol fehlt 15 e. on end. Auf
Abschyiitt 44 folgen in A Bl. 65 b zwei Abschnitte, die mit Rubrum durchstrichen
sind, tccil sie an späterer Stelle nochmals und zwar überwiegend wörtlich
begegnen, siehe die Lesarten zu den Abschnitten 57. GO. 63 17 kleine A
20 den fehlt 21 f. i. ernsthaften 24 alle 24/". verdienlich leben] Übung
26 zukeren B schinet B 27 kleines] schnödes B; fehlt C Übungen]
krancken werck begirlich] achtper 28 r. begirlicher v.
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Schürebrand.
31
horsame, zü küschekeit und zu armfit und es oueh mit lebende
ervolgent, alse die wisen jungfrouwen, die der brütegoum wachende
vant mit brünnenden ampellen foul oleyges. die fürte er oueh
mit ime in zü der ewigen wurtschaft und beslos die dorehten
megede ussewendig vor der porten, die sich des oleyes gesumet 5
hettent und ire ampellen liessent verlöschen.
46. Alsus hant ir und alle geistliche löte den acker fanden
und mit dem pfeninge uwers eigenen willen gekouft, in dem der
grosse schätz verborgen lit, alse daz ewangelium seit, den süllent Matth. J-i 1 1
ir mit alleme flisse behalten und wogent nüt die künftige fruht 10
und ewig leben also gar törliche und lihtecliche mit eigenwilligeme
besitzende die creaturen und die irdenschen zergengliehen gefelle,
es sige barschaft oder gewerde kleine oder gros, daz ir zu rede-
licher notdurft nüt bedörfent, und haltet die heiigen alle gemein-
liche in großen eren alse verre ir mügent mit eime gemeinen 15
gottes dienste noch ordenunge der heiligen kirchen one alle bilige
zeffelunge und partigen und verkiesent ir keinen in uwerme
hertzen mit kleine schetzende und in unwertlicher zü haltende in
dem gottes dienste uz biliger kibikeit, wenne es die ordenunge
gottes und uwer meisterschaft vordert und gemeinet het, ir 20
werdent andere von ime und von allen sinen genoßen verkosen
und us irre gemeinsame ewicliche gescheiden. und darumbe lerent
wisheit bi den erlichen riehen kouflierren: so die varent in verre
frömede lant und grossen kosten und arbeit haben müssent, daz
wogent sü nüt gerne one grossen nutz und lident wint und regen 25
und grossen mangel und maniger leige ungewittere und wider-
dries, durch daz sie erliche heim zü lande kumen mögent mit
1 k.] lutterkait 6 erlöschen 10 wagent 11 mit aignem willen
nnd mit 13 gewerb 14 h. nnd ir hochzit 15 in— mügent fehlt eime g.]
dem IG 0. uwers orden und der one— 22 gescheiden] und vernichten ir
kainen us biestiger kibikait, ir werden anders ewigklich getrucket und ge-
blaget von got, der kain unere sinen wirdigen lieben hailigeu nimer ungerochen
latt 22 und fehlt 22 f. lernent fürsichtige w. 23 hoffheren verre fehlt
24 nnd gr. k.— 25 gerne] als och wir nun hie sind in dem frömden land und
eilenden jomertall und in gelich alle unser hab anlegen und offentüren müssen
mit grossen arbaiten und kestigung unsere marges und blutes in mänigem
widerwertigem getreng in dem willen brechen, das Böllen wir nit lichteklich
uns vertrösten, sunder warten der frucht (hierauf nochmal sunder B) mit
Verfolgung und durechtung und mit emsigen* absterben der naturlichen
naigklichait und gesücht, als och die koffheren nit gern wagen ir zitlich güt
und ir liplich leben 25 sy liden och
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Philipp Strauch
grosseme gewinne, und so sü kumment uf die jormerckete, do
manigerleige volg und koufraanschatz hine kumment, so kerent
sich die wisen zu den aller küuf [66 bjfigesten gewerden und lont
die doren ir narrenspil triben und irre affenheit pflegen und
5 ahtent sin nüt und vörhtent, daz in zites gebreste und in der
jormereket unfruhtberliche one nützlichen gewin zergange, der
Matth. 13, 9 oren habe, der höre und kere sin redeliches verston zu der be-
tütunge.
47. Ach liebe clorerin, sint gotte siner grossen gnoden
10 dangber und fronwent üch mit früuden und sint frölich und fro
uf ein solich edel sicher wartespil und lont üch den tüfel noch
uwer nature noch keine ereature niemer keine wider wertige
swermütikeit oder ruwen ingetragen oder abelessikeit , die üch
unahtsameliche der grossen gewinnigen frühte und der edeln
15 gemeinschaft hindern woltent, das ir unahtber woltent werden
der erlichen schar, mit der ir eweeliche richsen söllent in iemer-
werenden ewigen früuden, daz ir üch die liessent urdrützig werden
und sü mit willen begeretent uf zu gebende und üch woltent
Ionen her wider us jomeren(?) in williger begirde und mit bedohtem
20 mute, daz aber ir anegevohten werdent in der selben sachen und
in andern sachen wider uwern willen, dar inne verdienent ir
sunderliche vil erlicher krönen, lident üch froliche in diseme
kurtzen zit und hütent üch flißecliche, daz ir kein unwurscher
zerbieget er blotterkopf niemer werdent, daz uwerm geminneten
25 ein grozze unere were und uwere erbern swestern getrucket und
getrenget wurdeut, daz sü eine soliche widerzeme bürde an üch
haben müstent.
48. Ach versmoherin der weite und aller irdenschen creaturen,
in uwerre sicheren fluht des bewerten heiigen ordens ingang, in
1 nnd so sn] söllicher Zuversicht sol och die gaistlichen ohentürer und
die gottes mynerin trösten uud stercken in allen winden und gewitter der
bekorung, das sy «ich nit lassen betriegen und vertoren die dorechten lust-
8iicher in dissen zergangklichen zitlichen ingetragnen luaten der natturen in
besitzung der irdischen creaturen der mänige nach allso och die kofflut. so die
2 koufmanschaft 3 der a. k. gewerden A] den koffigesten gewerben und
zu dem aller sicheresten raaisten gewin 4 die d. und narren 5 sin]
ir in zites gebr. und fehlt 6 und one zergange und inen zites gebrest
7 der — betütunge] ze hören der höre veruunftenklich dissen sinn 9 lieben
clarerin 11 bösen geist 13 intragen in ablessigem verdriessen die 15 das]
da durch woltent w.] wurden 23/". unw. mfillechter z. bl. 24 daz] wann es
25 f. uweren erbern swestern ain beswerd und ain getreng wurden 29 üwerem
sichern flüchteal sichere A
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Seh&rebrand.
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gütwilliger wiser vermessenheit uf ofentürliche hoffenunge des
ewigen hiraelschen vatters künftige ergetzunge, sehent mit grosser
vürsihtikeit gar wisliche ane und schetzent, wie die weit und
alle minner der weite und ouch in geistlichem schine die welt-
lichen herzen alle mitenander so gar verblendet sint in irme 5
betrogenen vehtenden gewerbe noch zitlicheme gute, noch wollust
des libes, noch weltlichen eren, noch natürlicher kunst und nocli
sinnelicher wisheit, noch grosseme gewalte, noch glorierender
herschaft hoher wirdiger ambahte: so sü des ie me hant, so sü
ie minre begnüget und ie giriger und ie gritiger werdent ie 10
vürbas und ie fürbas und ie höher und ie höher zü werbende
von grote zu grote mit manigeme frömeden ufsatze, und setzent
kein gesast zil in sich, do mitte sü iemer welle begnügen, und
verwurrent und verflechtent sich also mit manigeme frömedem
anhange und ladent uffe sich großen kumber und unrüwe libes 15
und gemütes und werdent dicke und vil grösliche getrucket und
getrenget und swerliche betrübet, daz sü von gantzeme herzen
in duser zit niemer frölich mügent werden weder lipliche noch
geistliche undlendent [67 a] mit allen ireme sorgveltigeme kumbere
und gewerbe in dem langwirigeme pinlicheme strengen vegefüre 20
und etteliche in der ewigen helleschen martele und pine mit
irre grossen unmüsse und ungerüwigeme gescheft'ede und gevehte.
49. Ach liebes gevangenes kint uwers getruwen erlösers
und loners Jhesu Christi, nu lerent wisheit bi der weite grossen
dorheit und sigent bi irre blintheit ge warnet und lerent bekennen: 25
wele dem Schöpfer nüt dienen wellent, die müssent allen creaturen
dienen mit grössern arbeiten und mit minre fruhtberkeit und
nutzes, wele aber dem schöpfer alleine wartent und sich in sime
dienste übent und sime ruffe volgent in rehter gehorsame, den
müssent alle creaturen dienen, himelsche, irdensche und hellesche, 30
und die bösen geiste sint in dicke aller nützest und fruhtberest
in vil verborgener unbekanter wisen von der verhengnisse gottes,
2 vatterlandea und die k. 9 amptcn und so 10 begiriger gittiger
11 zü werbende] zu werden gewcrben 13/*. begn. und fridliche ruw haben
und verwirrent 14 sich fehlt A 15 anhange und zuval 18f. niemer
—geistliche] firod noch frid weder liplich noch gaistlich nymer mügen gewinnen
19 allen fehlt sorgv.] sorgklichen endlosen 20 und manigfaltigem nn-
gerübigen g. 22 ängstlichem gevehte 23 1. g. k.] nachträglich in liebe
gevangene clorerin geändert A; lieben gevangene 24 grosse ^1 27 grossen
28 nutz 31 fr. und merent inen iren Ion in
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Philipp Strauch
des wir urkündes und gezügniße gnüg hant in den büchern und
legenden von den lieben heiligen und den heiigen altvattern.
50. Ach liebe gefangene clorerin des gevangenen herren
Jhesu Christi, der do ist ein tröster und ein löser siner gefangenen
5 und ein Zerstörer der gefengnisse und aller siner lider ein ge-
truwer ewiger loner: die erne ist kurtz und ist die zit iemerewig,
in der ir die fruht nießen süllent. dar umbe snident flissecliche
und endeliche in der schar uwer frummen endelichen ernegesellen,
der marteler, der bihter und der jungfrouwen, die das korn und
lü die fruht maniges willenbrechendes und abeganges iren lüsten
liant abegesnitten uf dem velde vil lipliches darbendes und
mangels mit der sichel einer billich dunckenden langmütigen
gelossenheit und niessent nu die fniht in voller genügede ires
begirlichen lust.es in allen fröuden iemer ewecliche. ach! und dar
15 umbe, liebe gottes ernerin, nüt lont üch abe dem fruchtbern
snitterjone triben die hitzige sunne. ane schinender glantz der
weite, zergenglicher lust und fröude, daz so gar valsch und be-
trogen ist, vennüschet mit gar vil unfruhtberer lidender bitterkeit.
51. Ach nement war, liebe vertruwete brut des geminten
20 brütegoumes Jhesu Christi, mit wiser vürsihtiger betrahtunge, daz
der obent unsers endes gar vaste beginnet nohen, daz den ende-
lichen snittern und getruwen arbeitern in allen fröuden gelonet
wurt, und lont üch abe dem snitterjone nüt triben kein regen
oder gewfllkene manigerleige trug und getrenge und widerwerti-
25 keit, so uf die gottesfründe vellet und billiche vallen sol, wenne
ir lonherre und ir ackermeister, unser lieber herre Jhesus Christus,
des selben regenwetters und gewülkenes gar vil durch siner
snitter willen erlitten het xxxiij jor und abe dem jone der arbeit
nie kummen wolte, untze daz er uns die fruht unserre ewigen
30 selikeit gerwe in brohte und gesammelte mit sime bittern tode,
den [67 b] er an dem heiigen crütae leit, und der heilsame
lebendige quelburne in sinem vetterlichen hertzen mit dem
scharpfen spere getolben wart und waßer und blüt genuht-
2 lieben fehlt und von den a. 3 1. g. cl. nachträglich aus liebes
gefangenes clorerlin geändert A; [Ach] lieben gefangen de« herren fehlt
±f. einer— Zerstörer nachgetragen A 6 ernd Senglich englichen erndeng.
15 lieben g. ernderinen 16 schnitt joü ane] ain lies der hitzigen s. ane sch.
glantz, der w. zergenglicher 1.? 18 nnfruhtb. fehlt 19 Ach] Nun lieben
vertrtiweten gemachlin 23 schnit jon 24 wolcken 25 uf üch die g.
und uf die gaistlichen schniter 26 ir nach und nachgetragen A 30 gar
32 lebend 83 gegraben genuhta. fehlt
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Schürebrand.
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sameliche dar uz flos, da mit er sine getruwen snitter und arbeiter
labet und trencket in allen hitzigen anestürmen der weite be-
trogenen glantz.
52. Ach liebe junge Schülerin und novicie, wissen t, des
heiigen geistes oberste schule aller wisheit ist abgescheidene 5
innikeit und einikeit. do wurt man geleret die rehten geworen
vernünftigen fröudenrichen zükere, daz ouch die grossen heiigen
und die heiigen altvettere in dem heiigen geiste gar wisliche
angesehen haut mit irre fluht an die einöte, in die weide und
in die wüste von der menige. sunderliehe uwer müter die heiige 10
frouwe sante Klore het ire geistliehen kinder und swestern aller
behütsamelichest inbeslossen mit sunderlieher vürkummenheit aller
Ursachen der verbildungen und der creaturen anehang, umbe daz
got alleine ir bilder und gegenwirf si in allen iren andehtigen
zükeren on alle hindernisse der gnodenrichen inflüsse des heiigen 15
geistes.
53. Ach liebe Schülerin, erwelent den heiigen geist zu eime
Schulmeister und lerent alsus in siner schulen der lidigen abe-
scheidenheit innikeit und einikeit, die höhest geworeste kunst,
uz gehorsame uwere müter sante Cloren, die ouch die selbe 20
schule allen iren kindern gestiftet het mit irre heiligen behut-
samen ordennngen. do durch volget üch fride und fröude geistes
und naturen in zit und in ewikeit iemer wesenliche, wenne alles
schriben, alles sagen, alles lesen und alles hören von ussan in
den sinnen, daz ist rehte alse ein swelme oder ein nnmerglicher 25
troum wider dem, daz ein lidiger grünt, zu dem ir gelüftet und
gebunden sint, wol bevinden und verston möhte, der sich in
rehter stille sines gemütes und mit gantzeme ernste innerliche
dar zü keren wolte.
54. In diser selben kunst studiertent die edeln zarten jungen 30
megde und jungfrouwelin und wurdent also gar küne und ver-
wegen, daz sü frilich ufgobent und versmohetent alle ere, lust
1 qual getruwen fehlt 2 und tr. fehlt 2 f. betrogener A 4 1.
j. geh. nachträglich attt liebes junges schülerlin geändert A; Lieben jungen
schulerin wissen t 6 n. einikeit nach 7 zukere 6 waren rechten 17 1. sch.
nachträglich aus liebes schülerlin geändert A; Zu ainem sch. sollen ir all
erwelen d. h. g. 18 alsus] alles 21 in allen i. kinden us dem hailigen
gaist ordenlich gestiftet hat 21 f. b. fürsichtigen 0. 23 wesenlich und
belibklich 25 ein sw. oder fehlt 27 verbunden 30 schul 31 j.
die selben kunst
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Philipp Stranch
und trost diser weite und liessent sich kerkeren, die brüste abe-
sniden, die zene uzslohen, an hespele spannen, den lip mit kroweln
zerzerren, die siten mit glühenden blechern zerqwirsehen und
martern, enthoubten, bürnen und redern und vil großer fromder
5 martel ane tuon. und hette doch ir etteliche nie keine ussewendige
offene bredige geboret und bekertent doch vil Volkes mit iren
bredigen und mit iren wisen gnodenrichen Worten, die sü von
dem heiigen geiste gelert wurdent in der schulen der abge-
scheidenen innikeit und einikeit, do bi wol zu schetzende ist,
10 daz die weit und die weltlichen hertzen in geistlicheme schine
gar grosliche betrogen und ver[08ajblendet sint, das sü dunckent
lust und trostliche ergetzunge haben in irme sinnelichen glori-
ierende dis zitlichen gefelles, gewalt, wisheit, kunst oder ere,
das alse gar unwirig und zergenglich ist und in kurtzen ziten
15 zu nute wurt,
55. [70 a] Ach bekommener zwig des getruwen lieplichen
garteners Jhesu Christi, der üch so barmhertzecliche mit sineu
gnoden erschinen ist, alse er noch siner frölichen urstende der
geworen ruwerin und der hitzigen inbrünstigen minnerin sante
20 Marien Magdalenen erschein, und het üch selber gepflantzet und
uf geimpfet von eime unahtbern kymen und wiltvange uwere
kintlichen einvaltikeit, daz ir nu grundes und wurtzeln gnüg
haut zu eime erlichen fruhtberen stamme zu werdende, obe ir
selber wellent dem insprechende gottes [70 b] und uwer regeln
25 und dem ordene volgen und gehorsam sin, do zu ir ouch ver-
bunden und verstricket sint, daz ich uwer keine vorhte noch
sorge me habe noch darf haben wenne alleine nuwent von der
eigenschaft wegen, daz alse gar ein sorglich schadeber mittel
und hindernine ist des ewigen lebendes und aller göttelicher
30 gnoden und inflüße des heiigen geistes, und ist doch leider under
allen geistlichen lüten also gar gemeine und gewonlich worden,
2 f. m. krewlen zerslachen 3 blechen zerqnitzschen 4 brenen redern
pfellen 13 weltliche ere 14 alse] alles 15 uüt me sin wirt 16 Ach
ir lieknmenden 17 erbarmhertzenklich 20 Maria 21 uf gezwiget
ciiue] dem 26 vorhte — 27 haben] sorg noch forcht haben darf (bedarf (7)
27 nach haben nochmals darf nachträglich eingeschaltet A 28 schädlich
30 geistes und siues wurckens in den ßiben gaben: gotlich wisheit, Vernunft,
rat, stercke, kunst, miltigkait und gotliche vorcht, daz allen den gaistlichen
ergebnen personeu billichen underzogen wirt, die in bewerten orden sunder
gut und aygonscbnff hand und das mit hertzen willenklich besitzent
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Schllrebrand.
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daz wenig ieman me abtet, wie er sicherliche ge wandeln möge
in brüderlicher glicheit und einmütikeit eines gemeinen gebruckes
und kosten aller liplicher notdurft, des man ouch vil neker zu
kerne und sckütziger werde und ouck alle gewerde natürlicker
und friscker blibe in der gemeinde wanne in der manigvaltigen 5
sunderkeit und eigensckaft.
56. [70 b] In der selben sörglicben sunderkeit und eigensckaft
zwentzig personen me kosten bedörfent und haben müßent wenne
drißig andere personen, die in getruwer brüderlicher einmütikeit
einen gemeinen kosten mitenander kaut uz eime seckele, ob eime io
tiscke und us eime kafene, alse es ouck die aposteln und alle
stiftere und patronen der ördene gemeinet und gekalten kaut
und alle müncke und nunnen kalten müßent, die ewiges lebendes
wellent sicker sin und nießen wellent die frukt der gekorsame,
der armüt und aller strangkeit und betwüngniße des ordens in 15
frier lidikeit aller engestlicker vorkte des strengen vegefüres
und der ewigen kellen.
57. [68 a] Keine ungeordente böse gewonheit sol ück niemer
gewisen oder geziekeu von der großen edeln verdienlicken tugent
der lutern gewilligen armüt, die got so grösliche minnet und sü 20
mit leben ervolgete, do er in menscblicker naturen uf ertricke
wandelte und sü mit lere den lieben apposteln so gar begirlicbe
in trüg, daz ir keinre kein sunder güt nüt kette noch kaben
getörste in eigensckaft und den gemeinen seckel, den sü zü irre
liplicken notdurft kaben müstent, der was in also gar unwert 25
und ungeneme, das ir keiner sick dar mitte bekümbern oder
1 me fehlt wie — möge] der ewigkait und des oberesten wirdigen grate«
und des aller edelesten zu erfolgen und den nechsten sichern weg ze wandeln
2 brucb.es 3 ouch] doch 4 er schützlicher wer gewerdej spis 5 frischer]
frohtparer C denne 7 stfrgl. fehlt 9 xl 12 us dem hailigen gaist
gemeinet [und gehalten] 16 engestlicher fehlt 18 wegen dieses Abschnittes
ist in A ein ursprünglich nach Abschnitt 44 aufgenommener Passus nach-
träglich gestrichen worden. Derselbe beginnt [ß/.65b] Ach lont üch keine bose
unördenliche gewonheit niemer gewisen oder geziehen usw. bis Z. 20 minnet und
sü mit lebende und mit lere den lieben apposteln so gar begirliche in trug
und der liebe sante Franciscus so große minne dar zu hette und sich grösliche
schammete [39, 5], daz ieman anders ermer sin solte denne er selber, um dann
mit 39, 13—16 fortzufahren. — Lieben gemyntten truttinen des gemynten
und alle lieben sunderlichen gotes gemächlette myner und mynerin in allen
bewertten örden. Keine usw. 19 gez. oder bewegen 20 sü] sy och
21 ervolget hat 26 bekümmert
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SR
Philipp Strauch
verbilden wolte, und befulhent den selben iren gemeinen seckel
dem aller vermaledietesten verfluchtesten bürgere in aptgründe
der hellen, Judas dem verreter, der one daz uzgesloßen was von
dem ewigen lebende und keinen teil niemer me gehaben solte
5 an dem wirdigen verdienende unsers lieben herren .Thesu Christi.
58. [08 a] Dis selben Judas genos sint alle geistliche ergebene
personen in bewerten ördenen, die do sunder gut und barschaft
mit eigenschaft habent und mit hertzen besitzent oder mit willen
begerent zu habende, und alle die prelaten, die iren undertonen
10 in keinerleige wise sache do zü gebeut, daz sü von liplicher
notdurft wegen eigenschaft haben müßent oder in gestattent
eigenschaft zu habende, des sü zu rehter redelicher notdurft nüt
bedörfent. die selben prelaten mügent billiche förhten ettewaz
glicheit zu habende mit Judaße an ewiger pine, die den gemeinen
15 seckel in glicheit mit ime ungetrüweliche tragent hie in zit,
sider unser herre Christus und die lieben apposteln, der liebe
sante Franciscus, sante Dominicus, sante Augustinus und die
andem heiigen vettere keine eigenschaft hettent und es ouch
iren undertonen nüt gestatteten t und sü ouch an aller irre lip-
20 liehen notdurft miunesameliche versohent, das sü keiner eigen-
schaft bedörf tent, die sü gehindern mühte aller göttelicher zükere
und gegenwiirfe.
59. [08 aj Ach liebe klorerin, ir süllent und müssent uwere
eptissin und uwere obersten meisterschaft an gottes stat gehorsam
25 sin. waz üch die heißent, daz mügent ir tun mit gantzeme guten
friden, also daz ir in uwerme gründe lidig standent aller eigen-
schaft und keinen urlop dar zü heischent oder begerent us
uwerme eigenen willen durch der gemeinen gewonheit willen vil
geistlicher lüte in disen hindersten ziten, die es üch glimpfen
30 und intragen möhtent. daz doch der neuste sicherste weg nit
enist, den unsere vordem, die lieben heiigen, und die großen
erlühteten gottes fründe uns vor gegangen haut.
3 J. d. v. nachgetragen A; dem ungetrüwen v. 12 zu] in r. r. 14
an] in 17 s. D. 8. A. fehlt 0 19 f. faller irre] liplicher 20 minne*.
fehlt 23 Ach — ir] Ir und all gaistlich nnderton 23 f. uwere ept. und
fehlt 24 demuttigklich g. 25 die heißen m. «e tun B 2B lidig— 28
willen] kainer aigenschaft begerent und och nit darnach stellent nach werben
30 sicherest erst weg B 32 g. fr. und altvätter
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Schürebrand.
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60. [68 a] Der lieb gnodenriche heiige vatter sante Franciscus,
der was also gar lidig und blos aller eigenschaft und alles zit-
lichen gevelles mit eime gantzen versmahende alles lustes und
trostes diser weite und hette so grosse minnenriche begirde noch
lidiger blosser armüt, daz er sich grösliche schammete und mit 5
wol geliden möhte von rehter hitziger inbrünstiger minnen, daz
in ieman solte vürkomen oder übertreffen an Verworfenheit des
schines und an lidiger armüt aller eigenschaft. des [68 b] selben
glich ouch der liebe sant Alexius ein arm verworfen lidig ab-
gescheiden versmehet leben fürte sibenzehen jor in dem eilende 10
under den frömden und sübenzehen jor in sins vatter hus under
einer Stegen, unbekant sinem vattere und allen sinen fründen,
und die liebe sante Eilsabet so gar minnenrichliche gloriierte uf
die künftige armfit, der sü sich in irre großen herschaft vermas
und ouch uf daz aller snödeste und verworfenlicheste ervolgete 15
noch des hertzogen von Margburg ires mannes tode.
61. [70 b] Anno domini MCCCLXVII in den ziten, do unser
kloster zu dem ersten anegefangen wart zu ernuwende, do was
ich in eime walde bi Wintertur, heißet der Berenberg, bi gar
erbern priestern eins ordens heißent die Steiger; under den was 20
ein gar sunderlicher grosser begnodeter gottes frünt, dem got
vil grosser heimlicheit offenbarte, der was der selben brüdere
Stifter und öberste prior und prelate, und wolte ir keime ge-
statten, daz er üt besesse mit eigenschaft von kleidern oder von
kleinötern; und in welicheme er merckete keinre leige neiglicheit 25
oder ufsehendes zu keime sime kleide oder kleinöter, es werent
röcke oder schapperone, gürtele oder messere, büchelin oder
heilgelin oder des gelich von aller leige klütterotte und gewerde,
1 gnodenr. fehlt 2 ledig u. loss aller eigensch. und fehlt 5
vgl- 37, 18 heia. 8 blosser lediger abgeschaidenbait und arm. 13 — 16
stehen auch BI. 65 b (».37,18 Lesa.) 13 mynneklich und mynrichlich
15 und ouch — ervolgete nachgetragen A verworfenlichste] genoweste A
BLGbb 16 landgraffen ires elichen m.; A BI. 65b (vgl. 37,18 Lew.)
steht noch, den Passus abschließend: dise hohen edeln gnodenrichen bilder
silllent üch billiche bewaren und in hüten haben vor aller eigenschaft, daz
die mit keinem sinnelichen glosierendc niemer nieman ingetrage, wanne ir
und alle ergebene lüte annfit gelobet hant alse ir ouch do Tor gewarnet sint
17 — 19 waldej ^ cn wn vor ziten als man zalt nach Christus geburt MCCC und
Ixvij jor selber gewesen in ainem wald 21 ein] ainer 24/'. und v. klaineter
25 wellichem b rüder 26 keime sime fehlt klaider 27 schaprot B;
schapern C 28 hailiglin klütter(glütter C)wercks und gefert
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Philipp Strauch
daz junge lute gerne hant, daz nam er ime zü stunt und gap
es eime andern; also gar flisseclich hüte er ir vor aller eigen-
schaft, daz ich selber sach, wenne ich wol xvm wochen bi in
und mit in wonete und wandelte in irme clösterlin genant Unsere
5 [71a] frouwen zelle in dem Berberge, die wile ich noch do ein
weltlich schüler was und wenig gedoht hette, waz usser mir
oder uz unserme huse werden solte.
62. [71a] Diser selbe erluhtete heiige gottesfrünt rette in
den selben ziten gar vil mit mir in früntlicher minnesanier
10 warnunge von der eigenschaft, wie gar ein sorglich schadeber
mittel es were allen geistlichen personen, und wie gar unsicher
sü sint ewiges lebendes, die in geistlichein schine und in bewerten
ürdenen in sunderheit eigenschaft habent und mit hertzen be-
sitzent. und under andern worten sprach er mit großeme ernste
15 zü mir: ime were vil tröstlicher und lieber, daz siner brüdere
einer mit einem wibe verfiele und kint mit ir mähte, wanne daz
er keinre leige eigenschaft in sunderheit haben solte, wie doch
unluterkeit eine sunderliche grosse swere lesterliche dotsünde ist
lidigen weltlichen personen, und ist noch vil grösser und schent-
20 licher gewillten geistlichen priestern; dar Uber er in sime hertzen
schetzete, daz eigenschaft aller swerest und sörglichest were. der
glich er tet in sinen worten, und was doch gar behüt, daz er
nit vil enrette, er hette danne gezügnisse des heiigen geistes
oder der heiigen geschrift, wanne er in der gnoden und in der
25 geschrift vil liehtriches underscheides wüste und bekante und
ein gelerter bewerter grosser gottes frünt was, dem man gar
wol getruwen und glouben mühte und allen sime rote volgen
in gantzer Sicherheit.
63. [68 b] Solichen gnodenrichen erlühteten exempeln süllent
30 ir üch nochbilden durch alles uwer leben, alse vil ir iemer mügent,
daz ir keinen andern irrigen weg werdent umbe gefürt von den
1 inen zü hand 3 wenne — 5 Berberge fehlt 5 in für ausge-
strichene* bi von gleicher Hand A die wile] do noch do fehlt C
6 junger weltlicher 10 getrüwer warnung schädlich 13 in s. fehlt
18 swere fehlt 24 den gnaden 27 geloben 29 derselbe Passus, nur
mit abweichendem Eingang, steht schon auf BI. 65b in A und ist nachtraglich
dort mit Rubrum durchstrichen. Er folgt dem Passus nach Abschnitt 44.
Statt 40,20—41,2 hei f st es A BI. G5b: Hütent üch durch got von aller
eigenschaft und lont sü bi mite wurtzeln in uwerm hertaen in keiner be-
sitzunge, alse üch usw.
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Scbürebrand
41
unerlebeten eigenwilligen gründen, den ir nüt sicherliche noch
gevolgen mügent, alse üch ouch in dem anevange diser materien
mit ernste geroten ist, daz ir üch nieman lossent keine eigen-
schaft glimpfen oder intragen ußer einer smalen unsicheren
conciencien, ir verlierent anders alle uwer große arbeit und 5
werdent beroubet aller frühte und der sichern gedinge und
hoffenunge, die ir wol friliche haben mögent mit dem lieben
sant Peter, dem armen fischer. der lies ein schiffelin und ein
zerbrochen garn und dingete mit gotte und duhte in gar billiche,
daz ime got gar vil großes gutes widerumb geben solte. do er 10
sprach: 'herre, wir haut alle ding geloßen und sint dir noch Matth. 19, 27
gevolget, waz wurt uns dar umbe?', do gelobete im unser herre
hundertvaltigeu Ion und daz ewige leben alleine nuwent umb
daz nochvolgen, das er sich sines frien willen und aller eigen -
schaft verzech und ufgap, wenne daz schiffelin und daz garn 15
und alle sine habe was kleines Schatzes wert.
64. [71a] In solicher getruwer früntlicher minnen und mei-
nungen ouch unsere lieben stiftere, die heiigen großen gottes
fründe, uns vil und dicke mit großeme ernste alle eigenschaft
widerroten und abegesprochen hant, daz unser keinre von rehter 20
angestberkeit in siner conciencien neiglicheit dar zu haben oder
gewinnen mag, so wir iren begirlichen minnenden ernst ansehent
und bedenckent und die schadebere hinderniße und mittele, die
sü gehalten hant von der eigenschaft, und ich begere in gantzen
truwen und uz luterre göttelicher minnen üch ouch alle sunder- 20
heit und eigenschaft zu leidende und mich und üch zu warnende
und flissecliche zu verhütende vor allen stonden gebresten: so
der brütegoum sine brut wurt zu huse fürende, daz denne daz
1 un erlebten] unerlichen unerlnchten 2 d. mat.] dis buchelins A
Bl. 65 b; vgl. oben Nrr. 7. 8, doch 8. auch Nr. 59 3 daz ir — 5 conciencien
fehlt A BLtäb 4 Bm. u.] blinden glosierenden lichtvertigen 5 erbeit
^1 Bl. f>5b 6 aller frühte nnd fehlt A £/.65b; fr. uwere gaistlicheu stattes
15 und ufgab fehlt A J3J.65b 1« nnd alle sine h. fehlt A Bl.täb was
wert gar kl. sch. 17—22 mag] In söllicher getrüwer frnntlichen warnung
nnd och dick nnd vil mit grossem ernst alle aigenschaft widerraten nnd ab-
gesprochen ist von unsern Stiftern den grossen übernatürlichen gottcsfründen
und erlüchten personen, das ich noch kain min conventbrnder naigklichait
dar zu haben mügen von rechter angstperkait unser concientz 22 ff. an-
sehent und die schadberen mitel und hindernunst bedencken, die sy halten
25 ouch fehlt 27 [und] flissenklich vor a. st.] zu allen stünden vor
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Philipp Strauch
brunloftkleit irre conciencien gantz und unvermosiget sige, daz
sü üt mit den dorehten megeden vor der türen bliben müsse und
uz gesloßen werde von der zale der uzerwelten fründe gottes,
die hie in zit ein geordent geistlich leben libes und gemütes
5 minnenrichliche gehalten haut, wenne unser herre sprichet in
Matth. 7, Jl dem heiigen ewangelio: nüt alle die do sprechent 'herre, herre'
knmment in daz himelrich, sunder der do tut den willen mins
vatter, der in den himeln ist, rehte also ob er spreche: nüt alle
die do kutten und wilen oder geistlichen schin tragent, kumment
10 in daz himelrich, sunder die do ervolgent mit lebende, do zu ir
regele sü bindet und ir geistlicher schin von ussan erzöuget, die
werden t ewiclich behalten, unser lieber herre Jhesus Christus
gemeinsame uns in der selben uzerwelten behaltenen zale und
mache uns mit in teilhaftig und enpfenglich alles gutes und
15 ewiger fröuden! Amen.
05. [70 b] Ach liebe gottes gefangene, ich getruwe und
gloube, daz der heiige geist ein wiser rotgebe gewesen sige des
anefanges uwerre minnenrichen fruhtbern gevengniße, dem ir
ouch volgen süllent in dem mittele, daz er uwer loner werde
20 mit eime guten gnodenrichen seligen ende, und erwelent lieber
ein genießen natürlich liden uwers libes zu eime zile, denne eine
endelose pine ungemeßen uwers geistes, daz ir flissecliche vür-
komen süllent mit heiliger güttelicher ordenunge, do zü ir ge-
bunden sint. waz uwer nature do durchliden müs von allen
25 widerwertigen uffellen lipliches und geistliches underzuges und
darbendes aller besitzunge und eigenschaft uwers natürlichen
gesüches, daz sol üch der geminnete wol ergetzen mit inner-
licheme friden in Sicherheit ewiger fröuden.
(36. [68 b] Wiszent, liebe minnerin des geminneten, daz gar
30 nütze und notdürftig ist, daz in ieglicheme kloster, in iegelicher
sammenunge und in ieglichem huse ein hunt sige, der die andern
anbelle und sü getult lere und behütsamkeit ires friden. dar
umbe so hütent fliszecliche uwers friden, daz ir der hunt nit
sigent und lerent alle swere urdrützige wisen und gelesze uwers
35 neusten frideliche liden und verrihtent noch enstroffent nieman
in schimpf noch in ernst umb keiner leige sache, wie gröslich
2 müssen 3 werden 8 der da in dem hiniel 9 den will 12
unser — 15 Amen fehlt 16 lieben g. gefange" 17 gewisser wiser 20
guten fehlt 21 zil in disser zit 22 geistes in ewigkait 29 lieben
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Schürebrand.
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es üch joch iemer angevihtet durch das ir zü friden blibent.
lont üch alle gegenparten ane gesigen und überwinden und be-
hertent nienian, wie gros reht ir joch in den Sachen habent, alse
uch duncket. der beste teil und der aller erlichste gesig ist
innerlicher fride. behaltent alleine den friden mit gantzeme flisse
und fliehent, alse vil ir iemer mügent, alle Ursachen, die üch den
friden wellent zerstören, in dem friden wonet got. durch den
friden kummet der heiige geist, der ein tröster ist der fride-
samen. ahtent keines Verlustes des gutes noch keiner wider-
wertikeit der naturen, do durch üch fride werden und bliben
mag, wenne fride ist ein tröstlicher gnodenricher ufenthalt geistes
und naturen und aller liplicher krefte. dar umbe haltent üch in
gemeinsamer einmütikeit gegen allen uwern swestem gemeinliche
und schonet menglicheme sines friden. dar durch volget üch
geworer gütlicher fride.
67. [68 bj Den krancken siechen swestem süllent ir minne-
samcliche dienen, wo sü uwer bedörfent, so erfüllent ir die werg
der erbermde in friden uwere conciencien. den alten erbern
swestern süllent ir vertragen und vor gen und ir stroffen getultec-
liche liden one alles widersnallen: so blibent ir in verdienlicheme
friden und erfolgent die fruht der gehorsa[C9 a]me. lont vürgon,
lont übergon unverentwurtet alle swere wort, alle wider wertige
wisen, alle missevellige geberde und gelesse und alle alaster, die
man üch mag zü gelegen, verlierent ir joch wol uwer ere mit
schammeröte in dem undergange, do durch ervolgent ir die fruht
der demütikeit und werdent innerliche getröstet in hertzen friden,
alse die lieben apposteln und die heiligen marteler von uszen
nie friden gewunnent und doch gröslich getröstet und gestercket
wurdent in allen irem uszewendigem lidende durch den inner-
lichen friden, den sü von gotte enpfangen hettent, do er zü iu
sprach: Pax vobis. die fridelichen daz sint die wolgemüten
frölichen an dem fröudendantze in ewikeit.
68. [73a] Ach liebe minnerin des geminten, ir lerent wol
lihtecliche ietzentan in uwere jugent vil guter gnodenricher
edeler sitten und inkere, daz ir an uwerme alter nit geleren
2 widerparttien and gegenpartien 19 gon durch übergeschriebenes e
in gen geändert A 22 unverentw.] vcrantwurtten nitt und alle wort
30 hertzen friden 33 Ach — geminten] Ach lieben jungen vertruweten
44
Philipp 8trauch
künnent noch mügent, und wo zü ir üch kerent, die wile ir noch
jung sint, zu gotte oder zü der naturen oder zü den creaturen,
daz wurt noch in kurtzen ziten an uwerme alter uwer wesen
werdende, daz ir nüt anders getün künnent noch mügent, es si
5 üch liep oder leit, es kumme üch übele oder woL dar umbe er-
welent lieber daz edelste und daz sicherste, daz oucli ewig ist,
wenne daz snodeste und daz betrogenste, daz zergenglich ist
und docli alle weltliche hertzen verblendet in allerleye schine,
do vor ir üch mit flisse hüten süllent, und lerent langbeitekeit,
10 gesossetheit, stille und sittig sin und friden haben von innau in
allen züvellen von ussen. so üch des me züvellet, so ir edellicher
und schierer durchgefüret und geleret werdent aller lügende
meister sin und der untugende nüt bevinden noch keines lidendes
ahte haben in rehter wesenlicher dapferheit. daz schencke üch
15 uwer geminter zu eime güten jore! Amen.
69. [72 a] Ach min allerliebste clorerin, ir mügent wol
glouben und wissen, daz nieman keinerleige kunst oder hantwerg
geleren kan oder mag alleine nuwent von anesehende oder von
hören sagende, wer ein hantwerg oder ein ander kunst leren
20 sul, der müs es ane griffen und selber triben und üben dicke
und vil und manig werg verderben und verhönen und aber und
aber wider beginnen und ane vohen und nüt abe lossen, wie
sure es ime wurt und wie übele es ime joch an der ersten zü
banden get, untze daz man sin wol gewonet. ein moler müs zü
25 dem ersten manig heslich ungestalt bilde und matherie molen
und vil arbeit und varwe verlieren, ebe er zü einem meister
wurt, ein schütze müs manigen verren abeschus tün, ebe er
gelert unmittelich daz zil treffen, so müs ein kempfe oder
schirmer vil streiche verfeien und manige wunde und dotstiche
30 enpfohen, ebe er die schirmsiege alle wol geleren kan.
2 oder zü der naturen fehlt 3 naturlich wesen 8 und — 9 söllent
fehlt df. lernet langmutig gesatzlich etil 10 f. und von ussen in allen
zufellen 11 lies mit ßC entlicher? 12 durchgefüret] Uwer natur überwindest
geleret am nochmaligem gefüret gebessert A 14 a. h.] ahten d. und
in innerlicher gelasshait 14 daz - 15 Amen fehlt 16-20 triben] Nie-
inent mag noch (kan) kain kunst oder (noch (7) h. gelernen nun alleine von
anstehen oder hören sagen (sagen hören B). ain ietlich juuger oder lern-
kind muss sin hantwerk und sin lere selber angriffen triben 23 erste
26. 27. 30 e 28 gelernet unmittelich kempfer 29 ain sch. wundS
30 gelernen
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Schürebrand.
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70. [72 a] Ach liebe min dochter, und dar umbe erschreckent
nüt, ob ir die hohe aller öberste himelsche kunst der tilgende
nit balde geleren künnent von anegesihte der edeln guten bilder,
die ir bi üch in dem kloster hant an den erbern alten erlebeten
swestern, also wo! zü gloubende und zu getruwende ist, daz 5
etteliche begnodete erlühtete gottes frtinde under in sint, oder
von hören sagende, also üch dis gegenwertige memoriale und vil
andere guter materien durch daz jar von ussen vennanent und
intragent, die ir dicke lesent in den büchern und hörent bredigen
von den lerern. ir müssent es selber mit den wercken ane griffen 10
und die tilgende leren ervolgen mit kreftigem widerstonde aller
untugende und den friden ervolgen durch den unfriden und der
tilgende gewonen durch vil anevehtunge der untugende, also ein
lerekint zü jungest ein meister wurt durch empzige grosse ubunge
und würcken des antwerckes oder künste, der es sich under- 15
wunden und ane genomen het zü lerende, und dureh vil angest-
berer correctien und herter streiche sins meisters. so der ie herter
und strenger ist, so der junger ie me zü nimet und wesenlicher
wurt in der künste siner lere und in aller wisheit
71. [72 a] Dis kan üch nieman bas noch ktirtzlicher geleren 20
wanne der heiige geist in der innerkeit uwers grundes, des ir
mit flisse war süllent nemen. daz [72 b] ist üch frahtberer und
nützer und dienet üch gewerlicher und eigenlicher zü eime volle-
komenen erlühteten lebende wenne alle ingetragene sinneliche
wort von ussen, die man glichen mag den fulen Zisternen wider 25
dem innerlichen uzqualle der lebendigen qwelodern, entspringende
1 — 10 lerern] und darumb bedarf wol ain ietlicher gott raynender
menscb, der in der ewigen wishait schul die gewaren (waren C) göttlichen
kunst aller gaistlicher lügend gern lernen und studieren will, das er in siner
jugent anfach (anfacht C), e die natur veraltet und zü ungebögig wirt, und
och nit erschreck, ob im die gnadenrich (aller gnadenrichest C) hoch aller
(fehlt C) wirdigest kunst der demütigkait, der senftmtitigkait, der gedult und
aller göttlicher tügend nit bald zu handen gat und sy nit Bchier gelernen kan
von anBechen guter andechtiger bild[n]er der erlüchten gottes fründen oder
von hören vil guter manender materien von den lerern an den bredigen und
ocb dick lesen durch das gantz jor in vil guter hitziger tütschen bücher[n].
10 sy DL es selb 10 f. gr. kreffteklich on alles verzagen und 11 lernen kr.]
nissigem 11 f. allen Untugenden 14 empzige] stette nissige 15 hand-
werckes 16 f. a. c] angstlicher straffung 17 schülmaisters 20 Lieben
studenttinen der aller Sicheresten kunst, die imer e wenklich weret, dis 21
in der bildlosen schul uwers inderlichen gr. 26 quel oder (ho!) ensprengend
(entspringenden C) quellen
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Philipp Strauch
uz dem heiligen geiste, in dem ir alle worheit und wisheit gelert
werdent in liehtricheme underscheide, was üch zu tünde und zü
lossende sige, daz ir nüt me dörfent also dicke und also verre
von ussen wasser holen von den lerem und den bihtern von
5 ussen zu gehorchende und sü rotes zü frogende, sider daz ir den
unerschöpflichen qwelburnen und daz lebendige waßer in dem
innerlichen qwelburnen uwers herzen und uwere seien selber
wol schöpfen mögent mit uwere vernünftigen beseheidenheit,
.loh. 4, v-iff. daz selbe lebendige waßer unser herre Christus der heidinin
10 rümde und intrüg, daz su sin grösliche begerende wart, durch
daz su nit me alse dicke und alse verre von ussen dörfte wasser
holen.
72. [72 b] Ach liebe junge clorerin, getruwent gotte in
allem widerwertigem getrenge one alle sturmwütige angestbere
15 ungelossenheit und hüten t üch mit flisse vor dem ingetragenen
zisternewassere manigvaltiger verbildunge des rotfrogendes und
des klageberen uzsagendes, do mitte ir daz gnodenriche lieht des
heiigen geistes vertunckelent und vermittelent, daz es in üch
geschinen nüt enmag noch in kein ungerüwig verbildet hertze,
20 daz also gar foul gerüinels stecket und einen gantzen jormercket
in ime treit der manigvaltigen witsweifhkeit, des ir noch nüt zü
gründe war genomen haut und gentzliche lidig worden sint.
unser lieber herre Jhesus Christus, uwer geminter gemahele, gebe
üch einen geworen kreftigen ker von allem mittele und manig-
25 valtikeit, daz ir uwer leben vaste bessernde werdent und üch
enpfenglich machent aller gnodenricher inflüsse des heiigen geistes.
daz begere ich uz grosser inbrünstigen minnen von gantzeme
gninde mins hertzen in allen gütlichen truwen. der selben truwen
ouch ich üch in gotte wol getruwe. unser lieber herre Jhesus
30 Christus, der aller getruweste, mache uns unser truwe fruhtber
und nütze in sime heiligen wirdigen verdienende durch siner
iemer werenden ewigen truwe willen! Amen.
4 tragen von fehlt A Af von den b. zü hören nnd rates 6 lebend
7 quellen 9 n. lieber h. haidin C 10 rumt 12 schöpfen C 13
lieben jungen clarerinen 16 ratt volgcns 10 f. und — uzsagendes fehlt
18 verdunsteret 19 nit gelüchteu mag kainem unrüwigen verbildeten
hertzen 0 unrüwig vor ausgestrichenem ungerüwig B 21 des — 22 sint fehlt
23 unser — gemahele] got 24 uch und allen gütwilligen got myneden
menschen geworen fehlt 25 uwer — üch fehlt 26 machent] werden
26 geistes inier ewenklich 27 daz — 32 willen fehlt
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Schürebrand.
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73. [69 a] Bedenckent dicke uwer vergangen leben und
uwer künftiges sterben und lerent lüste sparen und frühte
samelen untze in uwer heimüte des ewigen lebendes, dem ir
tegeliche nohent. do noch ir ouch dicke mit senender begirde
rechenen und zilen süllent von eime liocligezit zu dem andern 5
in htigelicher wol getrnwender züversilit und in fröudenricher
hoffenunge. ebe joch wol von menschlicher krangheit cttewaz
mittels dar in vellet mit übertretende uwere minnenriehen ver-
messenheit, daz wurt gar balde verswendet und abe geleit in
dem wirdigen verdienende unsers lieben herren Jhesu Christi 10
und in dem gemeinen gebette aller uwer brüdere und swestere,
so es üch ruwet und leit ist, — dar ane ir nüt zwifeln dörfent
noch ensüllent. so wurt üch kein liden zü swere noch keine zit
niemer zü lang, wellent ehte ir den künftigen frühten noch
gedencken, alse die kündigen dienstmegede und die gritigen 15
arbeiter und gut gewinner : die haut groszen Inst und ergetzunge
in dem tegelichen gewinne, daz sü der zit nüt belanget noch
keiner arbeit verdrüszet.
74. [69 aj Dis möhte sich ein ieglich geistlich mensche und
gottes diener billiche schammen, die alse gar trege und unaht- 20
sam sint, daz sü der gütlichen arbeit alse gar übele verdrüszet
und der gewinnigen zit so grosliche belanget, so sü in ettewaz
trücken sint und nüt groszen jomer und begirde hant noch dem
iemerwerenden ewigen übersinnlichen fröudenrichen gute, daz
in so gar lihtecliche wol werden möhte durch gar kleine arbeit 25
und übunge ires ordens regele zü haltende, Sünde zü midende
und die gottes ere zü minnende und zü meinende mit ervolgende
noch irme vermügende in getultiger geloszenheit, waz von innan
oder von uszan truckes oder widerwertikeit iemer uffe sü ge-
vallen mag, do durch in ouch got und alle sine lieben uzer- 30
weiten frünt vorgegangen sint.
75. [69a] Ach liebe junge gottes ritterin, lont üch den
lobelichen lerer sanctum Jeronimum manen zü ritterlicher veste-
keit in allen uwern anesttirmen und striten der manigvaltigen
bekorungen und aller durehtigunge und widerwertigeme getrenge 35
in der omelien über daz ewangelium von dem jüngesten gerihte,
so unser herre allen sinen dienern Ionen und gelten wil in iemer-
werenden ewigen früuden, waz sü ie arbeit durch sinen willen
1 Gedenckent 8 f. dem wir alle tag teglich 4 ouch fehlt 9 ver-
«wenet 16 gittigen 16 tröstliche erg. 32 lieben jungen g. ritterTn
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Philipp Strauch
erlitten hant, und wil ouch, daz man ime gelte alle schulde in
ewiger pine, die ime alle sünder schuldig sint. dar über der liebe
sante Jeronimus alsus schribet in siner omelien allen cristenen
menschen, die er brüdere nennet und sprichet alsus:
5 76. [69 a] Lieben brüdere, alse wir in dem ewangelio gehört
haut die erschröckenliche und ouch die tröstliche stimme, die do
ist vorhtlich und ouch begirlich in dem urteil unsers herren
AfattA.£.5,4i«Thesu Christi, sü ist erschröckenlich umbe daz er sprichet: 'gont
von mir, ir verflüeheten in daz ewige für', und ist aber begirlich
Matth. 2r>, 34 und tröstlich, durch daz er sprichet: 'kumment ir gebenedieten
[96 b| mins vatter, enpfohent daz riche'. wer mag aber dise
stimme gehören, er müße erschrecken und sich ouch frowen. ich
bitte üch, brüdere, daz ir dise letze mit zü gekertem hertzen
und mit wackerheit der sinne alle zit hörent, es ist nüt kümber-
15 lieh noch arbeit, daz ir sü alle zit in uwere memorien habent
und ir tugent und kraft one underlos bedenckent, wan wer diser
letzen flißeclich war nimmet und obe er joch kein andere geschrift
gelesen mühte, dise letze ist alleine gnüg alles übel zü verhütende.
77. [69 b] Diseme heiigen gnodenrichen erlühteten lerer saneto
20 Jeronimo süllent ir volgen und gehorsam sin, daz die wort des
jiingesten urteiles unsers lieben herren Jhesu Christi one underlos
in uwern oren tönent und stetecliche von der memorien uwers
herzen niemer kumment, so gewinnet uwere conciencie zwene
gar gute zuhtmeistere und pflegere: vorhte der hellen und zü-
25 versiht der ewigen fröuden, die üch behütent vor aller Unsicher-
heit uwers neusten zünemendes in allen wercken der volle-
kummenheit, daz ir geneiget werdent zü gehorsame, zü lidikeit
und unahtsainkeit alles liplichen trostes, zü luterkeit, zü demüti-
1 und er wil 3 vielmehr, nach gütiger Mitteilung des Herrn Oermain
Morin 0. S. B., August ini semw 78 (Migne, Augustini Op. 5b, 1897), der aber
in Wirklichkeit Caesarius von Arles zum Verfasser hat 4 also spricht us dem
h. ewangelio von dem jüngsten gericht in vermanender wis 5 hailigen ew. 12
onch fehlt 15 arbaitlich 19 heiigen] selben 24 z. u. pf.] getrüw torwarten
25 f die uch die porten uwer fünf sinn zu sliessen und stettenklich behüten mit
nissiger gewarsamekeit vor allen rober(n) und diebeu der schadberen (schädlichen C)
süntlichen verbilduiig, die uch die veste uwer unvermossigoten concientz erstigen
und verstellen möchten, das ir berobt wurdent aller gütwilligen vermeasenheit
und der gnadenrichen inflüss des haiigen gaistes und aller uwer andächtigen
gutten begirden. disse zwen notfesten sorgsamen engelischen wachter und
portner vorht der hell und züversiht der ewigen frtid behütent uch och (fehlt C)
vor a. Unsicherheit 26 wercken] grotten 27 geneiget] begirlich lidikeit]
lediger abgeschaidenhait 28 trostes] lustes und zitlichen gefeUes
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Schürebrand.
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keit, zu minnesamkeit und zu allen gütlichen tutenden, und
grosze begirde gewinnent zu lidiger armüt. zu nocligültiger koste,
zü grobeme gewande, zu demütigeme gelesze, zu einfaltikeit aller
uwere worte und wercke, zü underworfener dienstberkeit in
snöden unwertlichen ambahten, also schußein weschen, hefene 5
schüren und küchin vegen und andere unahtbere demutige werg
des gelich, und uwere nature begnüget mit gar kleiner notdurft.
do zu vermanent üch die zwene zuhtmeistere und pflegere uwere
conciencien, daz ist angestbere vorhte der hellen und fröuden-
riche züversiht des ewigen riches. 10
78. [69 b] Dise angestbere vorhte und oucli die züversiht
entzündent uwere minne so gar inbrünstecliche sere, daz ir große
minnenriche begirde gewinnende werdent zü dem aller liebsten
willen gottes, daz si we oder wol, sure oder süße, darben oder
haben, sterben oder genesen, wellent eilte ir noch des lieben 15
sante Jerouimus rot dicke gedencken an daz jüngste urteil unsers
lieben herren Jliesu Christi und wie die einvaltigen. die demütigen,
die eilenden und die versuchten denne werdent sitzende zü
oberste an dem tische der ewigen fröudenrichen wurtschaft aller
Wollüste mit dem armen Lasaro in Abrahams schos, und die 20
gritigen eigenschafter, die hochfartigen herscher und die mut-
willigen lustsücher, die fülleriche und die trunckenbolte, die
werdent sitzende zü underste an dem tische der ewigen pine in
aptgründe der hellen mit dem liehen manne, der hie in zit so
grossen wollust hette und ime nu ist verseit ein einigester tropfe 25
waßers, des er begerte von dem armen Lazaro, dem er in siner
grozzen richeit verseife ein almüsen brotes.
79. [69 b] Ach liebe minnenriche brut des geminten brüte-
gomes, dis memoriale sige üch von mir gegobet und geopfert
zü uwere geistlichen anlege und wilunge, darin ich mich getruwe- 30
liehe bevilhe und gemeinsame und in alles daz gut, das got
iemer durch üch gewirket, also man gewönliche sich befelhen
2 begirde] naiglichait 5 ämptern (i und k.] dye kuche unahtbere]
verworffhen 7 benuget och 8 do — 10 riches] so ir gedencken an die
ewigen fröd des himels, die ir da durch ervolgen (erfolgeut C), und an die
endlosen (e. ewigen C) imer werenden pin der grüssenlichen (grüssenlich C)
Tinstern hellen, die ir da durch ablegen und gelediget und gelost werden
8 vermanet A 13 frodSrich IG gericht 21 gittigen heracher die
riehen kargen [und] 28 lieben minnenrichen brät (braten C) 28 f. br.
Jhesu Christi 29 gegabet 30 anlegung u. willung
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Philipp Strauch
und gemeinsamen so] in aller geistlicher gottes brüte ersten
anevang mit etlicher minnesamer goben, do bi man ir gedencken
müge vtir sü zii bittende und zu begerende, daz ouch lüterliche
mine begirde und meintinge ist in diseme memoriale. in der
5 selben meinunge ir es ouch von mir uf nemen söllent und nüt
zu einer lere oder underwisunge, wenne so ich vtir mich nime
und ansihe die gnodenrichen fruhtberen wort unsers lieben herren
.Thesu Christi und sine inbrünstige minnesame trostliche lere, die
er so manigvalteclieh gesprochen und geschriben het durch sine
10 lieben jungem und die heiigen ewangelisten und [70 a] ouch der
heiige geist durch die hohen wirdigen lerere sanctum Gregorium,
sanctum Augustinum. sanctum Jeronimum, sanctum Ambrosium,
sanctum Bernhardum und durch vil andere sin er löbelichen lerere
und erlühteten fründe alse der Tauweier und der Suse und vil
15 ir glich, von den ir und die andern frouwen in dem clostere
andehtiger guter materien und bewerter erlühteter lere und
exempel gnüg geschriben hant, alse zu gloubende ist, dar gegene
dise materie glichet alse eine grobe ruhe tistele gegen allen den
edeln liligen und rosen, die ie gewühsent.
20 80. [70 aj Doch so het mich große minne überwunden und
hie zu getriben, die üch billiche vil me reißen und bewegen sol
denne die wort, das ir gestercket und bestetiget werdent in
uwerre ersten minnen und in dem guten beginne, ist joch wol
die hitzige flamme uwers ersten ernstes ettewaz verflecket und
25 in gevallen, so sol doch der minnebrant uwere ersten begirlichen
minnenrichen meinungen und vermessenheit ewicliche bliben
glünsende und glügende und niemer gerwe erlöschen, durch daz
ir die goben gottes, sure und süße, in steter dangberkeit fruht-
berliche genemen und geliden künnent in aller widerwertikeit,
30 die in den ördenen und in den samenungen ie eins von dem
andern tragen und liden mtts von ungelicheit wegen der con-
plexionen der gemüte und der wisen und aller geleße und anparen
und ouch ein iegeliches von des andern minne und ernst und
1 geistlichen brüten erste A 14 Tahler B; tallor C süss 15 ge-
liehen in dem cl.] und niänigklich Ii; und mänig C 16 andachtig gilt
mattem C 16 /*. nnd exempel fehlt 18 ein grober rücher 19 ilgen
22 bestiget Ä 23 uwerre] der 26 niauung 27 gerwe] gantz 30
Orden samlungen 32 der g. und der w.] der wissen und geberdeu und
anparen fehlt 33 und andeht — 51, 1 boI] zu andacht sol entzünden
(enzundt (?) und bewegt werden und bischaft und lere nemen
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Schürebrand.
51
andelitiger übunge exempel und bischaft nemen mag und sol, do
durch es gezogen und gereißet werde und gnode enpfohe sin
leben zu beßernde und den aller liebsten willen gottes zu
ervolgende und tegeliehe frühte zu sammelnde in solicher wider-
wert iger anevehtunge und onch lüste zu sparende in vil willen 5
brechendes und abeganges in allen lösten der fünf sinne, dar uf
die ördene und alle sammenungen us dem heiigen geiste erdoht
und gestiftet worden sint in güter göttelicher andehtiger
meinungen.
81. [70 aj Darumbe machent üch selber dise kurtze zit und 10
alles uwer leben fruhtber und nütze in steter behütsamkeit uwers
friden mit swigender senftmütiger getult, daz ir nieman kein
ergerlich bilde vortragent, also ir do vor bi dem closterhunde
manigvaltecliche gemanet sint, wanne fride und brot (?) und Sicher-
heit der conciencien ist gar eine fruhtbere gute gesunde spise, 15
do mit unser herre sine uzerwelten lieben frönt in der wüste
und in den weiden gar genuhtsamcliche füret und stercket in zu
nemender kraft geistes und naturen. der selbe unser herre Jhesus
Christus, der uwer anefang gewesen ist, der sige oueh daz mittel
und daz ende alles uwers lebendes und mache mich mit üch 20
teilhaftig alles des gutes, so uf ertrich ie beschach und iemer
beschiht, daz wir mit ime und mit allen sinen uzerwelten in
ewigen fröuden richsende werdent iemer ewicliche. das erwerbe
uns Maria, die wirdige muter gottes, und der liebe herre sante
Franciseus und die heiige frouwe sante Klore und alle engele 25
und heiigen! Amen.
[71b] Dis vorgeschobene gegenwertige büchelin
genant des heiigen geistes minneglünsenden ganeisterlins
schürebrant het corrigieret und probieret der erwirdige
2 und g. w.] werde exempel zu nemen enpfahen 4 f. w. übender anev.
hf. w. br.] willens brechen und uuderganges 6 in allen l.J aller naigklichait
der naturen in allem frömdem nachwessigem gesucht 7 gamlungen 9 mannng
12 innerlichen hertzen friden 13 vor bi] von und bi 14 gewarnet
14/". sicherh. d. c] ain lutere rüwige concientz 15 eine — spise] aiu ffucht-
peres gesundes wol gekochetea inüss und ain gesunde tracht IG userw.
spiset ja dick sin (sinen userweiten C) so! 17 gar gen. f. fehlt sy in
(mit C) 18 s. spiser u. h. 19 ist gew. 21 gütten gesebach 22 ge-
sebiht 24 wirdige fehlt 25 junckfrow Clara 26 h. und engel
4*
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Philipp Strauch
geistliche vatter Brüder Claus von Blovelden sante
Franciscus orde.n. Der selbe von Blovelden oueh dise
nehsten drie noch geschribene regelen dar zu schreip
der vor geschribenen zweien jungen clorerin einre, die
ime ouch dis selbe büchelin gap zu lesende durch daz
sü sich deste sicherlicher möhte darane gelossen und
sich dar noch gehalten durch alles ir leben, und vohent
die drie regelen alsus ane, alse er sü der jungen
clorerin mit sin selbes hant schreib.
10 82. Die erste regele des von Blovelden. Wenne du getrenget
wurst, es si in trucke von geiste, nature oder der weite, so hab
ein züfluht zu dem unschuldigen lidende unsers herren .Tliesu
Christi und du solt dich do mitte woffenen also die wisele tut:
so sü stritet mit dem basilisco, so bisset sü in die bitter rüte
15 und stercket sich dar mitte, daz sü in überwindet, also wart nie
kein liden so gros, were daz es der mensche mit innerlicher
bekantnisse würfe in daz unschuldige liden Jhesu Christi, es
wurde ime lihte zu tragende, des zu einer figuren: do die kint
Exod. 15,23 ff. von Ysrahel koment gen Elym und daz wasser so bitter was,
20 daz sü es nüt möhtent getriucken, do würfen t sü von rote des
heiligen geistes holtz in daz wasser und wart in süsse zu
trinckende. also wurf daz holtz des crützes Christi in alles
zuvallende liden, ez wurt dir lihte zu tragende.
83. Die ander regele des von Blovelden. Sich, wanne dir
25 keinre hande trug züvellet, es sige von dem menschen oder von
naturen oder von dem bösen geiste, so frouwe dich inneklichen,
daz du ein gewores zeichen hast, daz du ein gemintes kint gottes
bist, ist daz du es in glicheit uf nimest, wanne er selbes sprichet:
51,27 — 52,9 rote Überschrift in A, dafür in BC: Dysser zwaicr junger
Clorerin ainer gaistlicher vatter, ain gelerter lesmaister von sant Franciscus
orden genant Bruder Claus von Blafelden (Bol ausgestrichen, dann Blafellden B;
Balfellden C), der las und corigierte[n] ir diss büchlin disser gegenwärtigen
mattere (uiarttere! C) des Schurebrandes und schraib ir da by, das es im gar
wol gefiel und ir wol zu gehörte und dunckt (bedunckt (7) in nit notturftig
sin üt me ze schriben als sy begert. doch von manigfaltigera grossem liden
und getreng daz sy im klaget, do schraib er ir och disse reglen hier nach
10 Blafelden B; Balfelden C 11 trücken 13 vgl. K. v. Megenberg 152, 16 f.
15 daz fehlt den überw. 17 erkantnust 20 trincken 23 bo wirt es
24 Blovenden A; Blafellden (so auch 53, 8) B; Balfelden C 25 trück zu
vallend den
52
r»
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Schtlrebrand.
53
'die ich liep han, die stroffe ich und kestige siV, und sanctus Apoc. s, 19
Paulus sprichet : ' weliches minnenkint geischelt nüt der minnen- iitbr. 12, a
riche vatter?' dar umbe so hüte dich mit alleme flisse, so der
geminte gemahele Jhesus dir lot soliche trücke zu vallen, daz
du sine kleinöter, die er dir sendet zu eime woren bewerende 5
siner niinne, üt versmohest und underwerfest sin süsses joch und
sine lihte bürde.
84. Die dirte regele des von Blovelden. So nim war, daz
dir kein liden nit me geschaden mag denne also vil also es die
grundelose vürsihtikeit gottes über dich verhenget, ist daz du es 10
mit geordenter minne enpfohest. und darumb so hab innerliche
fi'öude, wenne dir getrenge zu valle, wenne der edele weisse
wurt nüt geleit in den ereschatz des küniges, er werde denne
[72 a] vor wol getröschen und die helme do von geswungen,
noch daz golt noch daz silber wurt nit clore, es werde denne 15
vor wol gebraut, also mag daz bilde diner seien und dines
lebendes nüt wider gebildet werden noch dem bilde Jhesu
Christi, du werdest daune vor in dem camine manigvaltiges
lidendes gereiniget und gelütert, dar umbe solt du liden mit
fröuden enpfohen, daz dich so minnecliche widerbildet noch 20
dime geminten Jhesu Christo und dich bereitet in den ereschatz
des ewigen küniges.
85. [72 b] Wissent, die drie regeln uwers erwirdigen geist-
lichen vatter, zu aller nelist hie vor geschriben, gevallent mir
gar zü mole wol und sol üch billiche ein tröstlicher uf enthalt 25
und behelf sin in allen lidenden trücken und getrengen geistes
und naturen und in allen anestürmen der bekorungen von innan
oder von ussan. daz alles grosse goben gottes sint, die er [73 a]
niemanne git danne sinen sunderlichen uzer weitesten aller liebsten
fründen, die ir süllent leren in uwere jugent dangberlichen von 30
gotte enpfohen und wisliche ansehen und fruhtberliche uzliden,
1 den — den C 2 geliebtes kind gaisslet 5 zii sendet zu 6 f.
underwirff dich sinem sxissen joch u. siner lichten b. 9 also vil fehlt
12 fallet 13. 15 wirt 17 bildet 23 Wissent — 2ti in] Druse dry
r. söllen dir billich ain tr. uflenthalt sin in 26 f. gaistlich u. nattnrlich C
27 allen den 28 gr. mjurich g. g. 29 sunderl. uzerw. fehlt 30 du
solltt lernen in diner 31 u. wislichen enpfahen
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54
Philipp Strauch
daz ir an uwerme alter üt gesumet werdent und der frfthte
ewicliche mangeln und enbern müssen t.
1 du dinem nit g. werdest 2 enb. u. m. müssest, got geb dir
sinen aller liebestcn willen und diner sei seligkait in allen Sachen ewenklich
zu erfolgen. Amen, (rot) deo gratias. Hierauf in B noch (rot): Bit got für
die schriberin mit ainem ave maria; in C noch (gleichfalls rot): Dysse
mattery genampt der Schurenbrand ist mit gottz hylfF usa geschriben zw
mittem mayen im lxxxxix jar und die schriberin bitt demütigklich ir gegen
gott zu gedencken sy sy lebend oder tott.
Der hier zum Abdruck gebrachte Traktat ist uns in einer
Straßburger und zwei St. Gatter Handschriften überliefert : daß
ich sie. hier in Hatte wiederholt mit Muße benutzen konnte, dafür
fühle ich mich den Herren Archivdirektor Prof. Wiegand und
Stiftsbibliothekar Dr. Fäh dankbar verpflichtet.
A» Die Straßburger Handschrift 2185 des Bezirksarchivs
des Unter Elsaß enthält das für die Gott es freund frage so wichtige
Briefbuch, in dem uns die Autographen des Fünfmanncnbuches
und der Vier Jahre Merswins sowie die Korrespondenz des
Gottes freundes aufbewahrt sind. In ihm findet sich Bl, 50 a— 73 a
auch unser Traktat, der durch den ihn angewiesenen Platz
jedenfalls in loserer oder engerer Beziehung zu den Bewohnern
des Grünen Wort lies stehm muß. l r nmittclbar ihm voraus gehen
(Bl. 51b — 55b) die bekannten Notizen über die Gottes freunde,
die Schmidt, Die Gottesfreunde im 14. Jahrhundert S. 180 — Wl,
zum Teil auch wieder Nie. von Basel S. 02 — 05 abgedruckt hat,
denen sich Bl.55b — 50 a ein Brief des Gott es freundes an Nicolaus
von Laufen anschließt, abgedruckt bei Jundt, Les Amis de Dieu
S.l'Jlf.; dagegen folgen auf den Traktat Bl.73ab die von
Schmidt im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit 1858
Sj). 370. 415 ff. mitgeteilte Gemnlpoesie. zu den Bildern, die
das Memorial des Johanniterordensmcisters schmückten, sowie
(Bl. 71a — 80 b) andere Beimercicn über den sterbenden Menschen
und über den Namen Jesus. Mögen wir auch in letzteren nur
wertlose Spielereien sehen, im Kloster auf dem Grünen Wörth
dachte man anders und schmückte die Jesusreime mit kunstvoller
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Schttrebrand.
55
buntfarbiger Initiale und sonstigen Arabesken, die von demselben
Maler herrühren, der auch in der Handschrift tätig war,
vgl. Zeitschr. für deutsche Philologie 84, X6~>. MM.
K. Schmidt hat Nie. von Basel S.OUf. zwei Abschnitte aus
unserem Traktat (s. oben Nrr. Gl. 02) unter der Überschrift:
'Notiz des Barfüfsers Claus von Blovelden über die Steiger bei
Winterthur' veröffentlicht und bereits in seiner älteren Abhandlung
über die Gottesfreunde (8. HO) in ihm einen Bewohner des Grünen
Warthes vermutet; Jundt (Amis S.HoAnm.) sah schärfer und er-
kannte, worüber auch der Traktat selbst keinen Zweifel läfst
(s. das Vorwort zu Nr. 62), dafs Nicolaus von Bio fehlen ihm nur
eine redaktionelle Tätigkeit hat zu teil werden lassen, und zwar
gewifs nur in seiner Eigenschaft als geistlicher Berater der beiden
ilarissen, an die sich der Traktat wendet, als deren Ordensbruder:
die Schrift selbst könne nur ihren Ursprung im Strafsburger
Johanniterhause zum Grünen Wörth haben. Karl Bieder endlich,
der neuerdings (Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins
N. F. 17, 205 ff. 480 ff.) in Nicolaus von Laufen den geistigen
Urheber sämtlicher Schriften Mcrswins und des Gottes freundes
erblicken will, ein Versuch, dem ich zunächst, ein weiteres Kin-
gchen mir vorbehaltend, äufserst skeptisch gegenüberstehe, bezieht
a. a. 0. S. 402 ohne weiteres die von Schmidt mitgcttilten Ab-
schnitte gleichfalls auf Nicolaus von Laufen und mufs diesen
konsequenterweise, obwohl er es nicht ausdrücklich sagt, auch für
den Verfasser des Schürebrand-Traktates halten. Kr liefs sich
dabei wohl von dem irrigen, übrigens schon von Schmidt geteilten
Glauben leiten, alles, was wir über die Geschichte des Grünen
Warthes wissen, auch das Briefbuch sei von Nicolaus von Laufen
eigenhändig aufgezeichnet. Dagegen spricht schon der eine Um-
stand, auf dessen Anführung ich mich hier beschränken darf, dafs
im Briefbuch die Autobiographic des Nicolaus von Laufen (Jundt,
Amis S. 408 f.) von anderer Hand geschrieben ist als der, die
sonst im Briefbuch tätig war. Gerade diese andere Hand dürfen
wir aber zunächst doch für die des Nicolaus von Laufen halten*).
') Xicolaua sagt in seiner Autobiographie, er habe, auf dafs man jetzt
und in Zukunft seiner nicht vergäße, ihn in das eigene Gebet einschließe,
diese Lebensdaten auch 'in etliche andere Bücher' eingetragen. Wenn das
richtig ist — und warum sollte man es bezweifeln ? — dann kann keine der
sonst noch vorhandenen Handschriften, die sich auf das Johanniterhaus zum
Grünen Wörth beziehen, hierfür in Betracht kommen, denn nur das Briefbuch
56
Philipp Strauch
Er hat die Notizen über sein Leben nachträglich in das bereits
gebundene Brief buch eingetragen, und zwar auf das Pergament-
blatt, mit dem die. Innenseite der hölzernen Rückendecke bis in
die aller jüngste Zeit beklebt war; jetzt ist das Blatt vom Deckel
losgelöst worden. Seiner, jedenfalls derselben Hand begegnen wir
noch an einigen anderen Stellen des Briefbuches wieder, um, wo
Baum frei geblieben war, nachträglich Einschaltungen zu machen.
Ich brauche auf sie hier nicht einzugehen, nur eines möchte ich
bemerken: möglicherweise — ganz sicher bin ich nicht — gehen
auch einige nachträgliche Korrekturen und Einfügungen früherer
Auslassungen auf die zweite Hand, die des Nicolaus von Laufen
zurück. Aus dem eigentlichen Brief buch kommen nur zwei Stellen
(Bl.29a, 51b) in Betracht, häufiger aber begegnen solche Korrek-
turen im Traktat Schärebrand und seinem Anhang (Bl. 57a, 57 b,
58a, 59a, 50b, 01a, 02a, 01a, 01b, 07a, 08a, 73a). Diese
Besserungen und Ergänzungen müsse)/ auf einer Vorlage beruhen,
die auch die St. Galler Handschriften voraussetzen.
Während das Briefbuch (A) seiner Abfassung nach in die
letzten Jahre des 11. Jahrhunderts weist, sind die beiden St. Oaller
Handschriften (BC) gerade hundert Jahre später geschrieben,
1198 und 1199.
B. Hs. 1003 (Scherrers Verzeichnis S. 381) trägt auf dem
Rücken von einer Hand des 18. oder 19. Jahrhundeiis die Auf-
schrift Ascetisch: Werklein für die jungen Schwestern zu
St. Leonhard. Sie ist eine Papierhandschrift in 12° vom Jahre
1198, von einer weiblichen Hand geschrieben ; es hei f st S. 530 in
roter Schrift: Difi Büclily ward uss ge*chriben und vol endet
an dem abent unssers hailigen vatters S. Ludwicus barfussn
orden als man zalt nach der geburt Christi mcccc und in dem
lxxxxvm jor. Biten got für die schriberin mit ain ave maria. —
S. 1—9 leer. S. 10—191 steht unser Traktat mit folgender roter
Uberschrift, bei deren Wiedergabe ich der Einfachheit wegen gleich
die Varianten der Hs. C mit berücksichtige: Hye nach volget ain
loblicher Tractat und gaistliche lere und underwissung, die ain
gaistlicher vatter und lerer der hailigen geschrift gemachet und
geschickt hat zwaien sinen gaistlich tochtern, dar in alle
gaistliche menschen (fehlt C), besunder anfahend jung (jung
hat jene Aufzeichnungen. Es ist für andere Zwecke geboten, dies besonders
zu betonen.
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Schürebr&nd.
57
anfallend C) lftt genügsame lere und anraitzung (ain raitzung C)
mügen finden zü hailsamer vollfiirung irs states, da durch sy
mugen erlangen die cron der ewigen selligkait und ist diss buchlin
genampt der Schürebrand. Dan>i folgt i)i B: Diss Büchly
ist der Swestern zu S. Linhart (Leonhard) vor der Statt Sant
Galen. Die Worte Linhart vor der Statt, ebenso Galen sind später
ausgestrichen und durch den Xamen des neuen Besitzers ersetzt
worden: unter Statt steht jörgen; gemeint sind die. Schwestern
zu St. Jörgen Benediktinerordens bei St. Gallen, denen auch
die jetzige St. Galler Hs. 007 mit Merswins Xeun Felsen gehörte
(die Parenthese in der Zeitschr. für deutsche Philologie 34, 250,
letzte Zeile, ist also zu streichen). — S. 1 05— 201 stehen die drei
Regeln des von Bio fehlen, S. 202—205 leer, S.2UO — C S. 170 —
(rot) Dyss nach geschriben mattere wisset und sait (S.207 — 2(15;
C S. 177—230) von dem abgründ der Bosshait (vgl. Zeitschr. für
deutsches Altertum 8, 452 und Scherrer a. a. 0.) wie der mensch
das mug erkenen und uss rütten (gerütten (') und dar nach
(S. 273—330: C S. 241—313) von dem abgrund des liden
(lidens unsers heren Jhesu C) Christi, von (und von C) sinen
umbständen und wirdigkaiten und zu letz (dem letzsten C —
.S'. 345 — 530; C S. 315 — 510) ain andachtig (andachtiger C)
passion [S. 344: C S. 315 mit vill andechtiger Sprüchen und
inzüg der hailigen lerer] (mit grossen vlis zu mercken also an-
fachend got zu ainem ewigen lob. amen C). S. 540—545 leer.
C. Hs. 070 (Scherrers Verzeichnis S. 360) zeigt auf dem
Rücken von einer Hand des 18. oder 10. Jahrhunderts die Auf-
schrift: Lehre an die geistlichen Töchter, schürenbrand genannt.
Es ist eine Papierhandschrift in 12° aus dem Jahre 1400, von
weiblicher Hand geschrieben, siehe die Lesarten am Schlafs unseres
Traktats und den roten Eintrag auf S. 510: Dysses büchlin gott
zu lob uss geschriben am dritten tag nach unser lieben frowen
gebnrt tag als man zalt nach der geburt Christi mcccc und in
dem lxxxxix jar und ist dyß buchlin den swestern des dritten
orden sant Francissen im wunnenstain zu tüffen. die schriberin
bitt demuttiglich umb gottz willen ain ave maria. Dafs die
Handschrift Eigentum des Frauenklosters Wonnenstein hei Teufen,
Kanton Appenzell, war, ist auch au f der Innenseite des Deckels von
einer Hand des 17. oder 18. Jahrhunderts vermerkt. S. 1 steht
liber Monasterii S. Galli 1782. S. 2 dieselbe t " r berschrift wie in
B zu dem dann folgenden Traktat Schürenbrand (S. 3—174):
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58
Philipp Strauch
nach dem Worte Schürenbrand : und ist der swestern im wunne-
stain in tfiffen by sant Gallen. Der Traktat beginnt erat mit 0, 9:
es sind davor ca. 0 Blätter abhanden gekommen, ebenso findet sich
zwischen S. 3 und 4 eine Lücke von ca. 3 Blättern (0,20—8,9).
Im übrigen deckt sich C völlig mit B, hier wie i?i den folgenden
Traktaten. Falls nicht C direkt aus B abgeschrieben ist, was ich
annehmen möchte, gehen jedenfalls beide Handschriften auf eine
und dieselbe Vorlage zurück. B ist etwas sorgfältiger geschrieben
als C: ich bin bei der Angabc der Lesarten in der Schreibung
meist B gefolgt. Wo inhaltliehe Übereinstimmung herrscht, uml
dies ist fast immer der Fall, habe ich im Apparat die Lesarten
von BC ohne jede Sigle gegeben, nur gelegentliche Abweichungen
besonders kenntlich gemacht. Daß ich mich bei der Angabe der
Varianten auf das Wesentliche beschränkte, wird Billigung finden;
gewiß bin ich manchem auch jetzt noch zu mitteilsam gewesen.
Vergleichen wir nun die drei Handschriften miteinander, so
fällt zunächst auf, daß während, für die Abschnitte 1 — 54 ABC
dieselbe Anordnung aufweisen, von Abschnitt 55 a?i die Reihen-
folge in BC wesentlich von der in A abweicht. Aus gleich zu
nennenden Gründen habe ich bei meinem Textabdrucke hierin den
Handschriften BC den Vorzug gegeben. Die Folge in A ist nach
Abschnitt 54 diese: 57— Oo! 03. 00. 07. 73—81. 55. 50. 05. Ol.
02. 04. 82—84. 09—72. 85. 08. Auch äußerlich markiert sich
diese Abweichung: mit Abschnitt 57 (Bl.G8a) setzt wohl die gleiche
Hand, aber mit anderer Tinte neu ein, und während bis dahin
die Zeilenzahl auf der Seite 39 beträgt, vennehrt sie sich für
Bl. 08 a — 71a auf 42 ; 3, um Bl. 71b — 73 a, von den drei Regeln
des Xicolaus von Bio fehlen (s. u.) an, wieder auf 30 j 8 herab-
zusinken. Es handelt sich in A wohl um eine nachträgliche An-
fügung auf Grund einzelner Blätter, die in Unordnung geraten
waren: dafür sjnicht schon der l. T mstand, daß die drei Regeln
(Xrr. 82 — 84), die Xicolaus von Bio fehlen bei der Durchsicht des
nicht von ihm herrührenden Tiaktates diesem hinzugesetzt hat, in
A mitten zwischm Teilen des Schürebrand stehen, Abschnitt 85,
obwohl doch die Eingangsworte zu aller nehst hie vor geschriben
seine Stelle unmittelbar nach 82—84 verlangen, von diesen durch
09 — 72 getrennt ist. Auch das Ende von Abschnitt 81 gibt sich
deutlich als Schluß des eigentlichen Traktaten zu erkennen, auf
den dann die drei Regeln folgen. Die Verwirrung erklärt sich
um so leichter, als wir annehmen dürfen, daß einzelne Abschnitte
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Schürebrand.
50
ursprunglich wohl als in sich abgeschlossene Apostrophen an die
Ciarissen gedacht waren; vgl. die in BC feldenden Schlußworte
der Xn\ 12. 04. 08. 72, wenn auch nicht verschwiegen werden
soll, daß in A Abschnitt 04 vor den drei Regeln des Blofeld ers
steht, der Neujahrsgrufs 08 in A das Ganze abschliefst. Vielleicht
waren die sjx'iter zum Traktat vereinigten Ermahnungen ur-
sprünglich zum Teil auf lose Blätter geschrieben. Zwei Ab-
schnitte, die nur in A und hier nach Xr. 44 stehen, sind hernach
nochnuils in dm Abschnitten 57. 00. 03 rerwertet und deshalb an
erster Stelle rot durchstrichen worden.
Der zwei jungen Ciarissen «) zugeeignete Taktat Des heilgen
geistes minneglünsenden ganeisterlins schürebrant (3, 1 f. 4, 12.
51, 28 vgl. 4, 30) hat in seiner ursprünglichen Gestalt zweifellos
einen Bewohner des Straßburger Johanniterhauses zum Grünen
Wörth zum Verfasser. Dafs er kein Franziskaner war. erhellt
daraus, dafs er sich 4, 20 ausdrücklieh von den (uwern) erwirdigen
geistlichen vettern und mütern scheidet, bei denen jene beiden
Ciarissen hinreichend göttlichen Rat und trostreiche Unterweisung
fänden, vgl. auch 30, 20 von allen priestern uwers Ordens. Er
selbst möchte sein i Memorial c' (45, 7. 40, 20) nur als bescheidenes
Angebinde zu ihrer Einkleidung aufgefaßt wissen (Xr. 70; vgl.
auch die Anreden in Xrr. 23. 52), aus Liebe gespendet (4, 20 ff.
12,8. 40, 27 f. 50, 20 ff.), nicht als Lehre oder Unterweisung;
diese fänden sie in der heiligen Schrift, bei den heiligen Vätern
und anderen erleuchteten Gottes freunden wie laufer und Seuse,
mit denen sich seine Materie so wenig vergleichen ließe, wie die
grobe rauhe Distel den edlen Lilien und Rosen. Dem Xicolaus
von Blofehlen, der nach 51,20 den Traktat nur • korrigierte ' und
1 probiertet, d.h. gut hieß und von sich aus nur drei Regeln an-
fügte (Xrr. 82 — 84), stellt sich der Verfasser des Schürebrand mit
den Worten gegenüber: die drie regelen uwers erwirdigen geist-
lichen vatter gevallent mir gar zu mole wol (53, 23 ff.) und
wenn derselbe in Xr. 04 (41, 18 f.) unsere lieben stiftere, die
heilgen großen gottes frunde nennt, so können durunter, wenn
wir die Uberlieferung des Traktates im Brief buch berücksichtigen,
doch wohl nur die Gründer des Klosters zum Grünen Wörth
(unser kloster 30, 17 f., unser kus 40,7), insbesondere Merswin
') Beiläufig darf vielleicht auf Xicolaus von Basel S. 15S ff, vcricicsen
werden.
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60
Philipp Strauch
vorstanden werden. Im engeren und weiteren Sinne werden die
Gottes freunde noch so)ist an vielen Stellen des Daktates erwähnt
(3, 20. 7, 14. IS, 17. 23, 29. 27, 7 Losa. 28, 14. 34, 25. 38, 32.
30, 17 ff. 40, 8 ff\ 42, 3. 45, 0. 47, 30 f. 50, 14. 51, 10. 53, 29 f.). — Das
Gebet Xr.38 apostrophiert in der Fassung A, sonstigem Johanniter-
f/ebraueh gemiifs, dir beiden Johansen und erst nachträglich sind
dafür, vivKeicht durch Nicolaus von Bio fehlen, in BC (20, 13 f.
20 f.) der heilige Franciscus und s. Clara eingesetzt worden. Der
Verfasser hatte zunächst ein Gebet, das bei den Johannitern auf
dem Grünen Wörth verwendet wurde — es steht auch im Johanniter-
memorial Bf. 273 ab ') — einfach in seine Ermahnungen herüber-
genommen, ohne es besonders für diesen Zweck zu redigieren.
Die Warnung sodann (Xr. 12, vgl. auch Xr. 13 und 31, 14 ff.),
nicht in den Fehler so mancher Klöster zu verfallen, in denen
die Nonnen durch Erhöhung eifies besonderen Heiligen sich unter-
einander spalten und, je nachdem sie Johannes den Täufer oder
Johannes den Evangelisten bevorzugen' 1 ), sich Baptisterin oder
Evangelisterin nennen, gewinnt gleichfalls aus dem Munde eines
Johanniters an Bedeutung.
Dafs nun aber, wie Bieder a. a. 0. annimmt, Nicolaus von
Laufen der Verfasser der Nrr. 01. 02, und also auch des ganzen
Traktates sein sollte, dafür fehlt jeder Beweis. Im Gegenteil:
der Verfasser des Schürebrand verweilte nach Nr. 61 im Jahre 1367
zur Zeit der Erneuerung des Klosters zum Grünen Wörth
18 Wochen lang als weltlich schüler (40, 6 f.) bei den Steigern
auf dem Berenberge bei Winterthur, ohne damals zu ahnen, was
einmal aus ihm und dem Grünen Wörth werden sollte, von Nicolaus
von Laufen aber wissen wir aus seinen eigenen Aufzeichnungen,
dafs er, früher (1350—1300) Schreiber, am 13. Dezember 1306
auf dem Gr inten Wörth zum Akoluthen, am 10. Dezember zum
Episteler, am 12. Juni 1307 zum Evangelier (s. meine Anm. zu
Heinrich von Nördlingen 11, 07) und am 18. September desselben
Jahres zum Priester geweiht wurde; in den Johanniterorden trat
er am 24. Juni 1371, nachdem er vorher vier Jahre Weltpriester
uffe der hofestat zuo dem Grünen werde gewesen war (Jundt
S. 408 f.). Die Bezeichnung ein weltlich schüler war also weder
') Die Abweichungen sind ganz unbedeutend, so z. B. am Anfang 25, 27
süüder statt Sünderin, vgl. übrigens auch die Lesa. zu 26, 24. 26 ff.
>) Vgl. R. Köhler, Kl Schriften 2, 108.
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Sehiirebrand.
61
vor noch in dem Jahre 1307 auf Nicolaus von Laufen anwendbar,
es müßte denn das Wort weltlich = saecularis (nicht inundanus,)
im Gegensatz zum monastischen Leben gemeint sein; das ist aber
in diesem Falle, lecnig ivahrschei.nl ich, Nicolaus von Laufen würde
dann auch wohl eher wie in seiner Autobiographie ein weltlich
priester (Jundt 409, 3) gesagt haben. Ganz abgesehen davon,
daß der Traktat Schürebrand ein eigenartiges stilistisches Gepräge
trägt: wir wollen doch ja nicht die Gottes freund frage dadurch
noch verwickelter machen, dafs wir einer einzelnen Persönlichkeit
immer mehr aufbürden, als hätten sich im Strafsburger Johanniter-
hause und für dasselbe nicht noch andere lehrend oder litt erarisch
betätigen können. Ich nenne nur 'jenen andächtigen geistlichen
Hören und Vater Johanser Ordens zu Sfraßburg\ der das
Büchlein von den vierzig Mgrrhenhüschlein schrieb (St. Galler
Cod.003 x ), vgl. Lütolf im Jahrbuch für schweizerische Geschichte
1,44 Anm.) und hern Ulrich seligen sant Johanse zu dem Grünen
werde, von dem im Ms. germ. quarto 1H2 der Königl. Bibliothek
zu Berlin Bl. 204 a — 270 a eine Predigt in Taul erscher' 1 ) Um-
gebung steht.
Wir müssen uns einstweilen an der Tatsache genügen lassen,
in unserem Traktate, einen Bruder des Strafsburger Johanniter-
hauses zum besten zwei fr junger Gla rissen (3, 2 ff.) schrift-
sfellirisch tätig zu sehen. Ursprünglich hatte der Verfasser seine
Ansprachen und Ermahnungen wohl nur an eine Schwester
gerichtet, denn an Stelle der Anrede im Plural in BG steht in A
regelmäßig der Singular (Xrr. 0. 9. 10. 13. 14. 15. 23. [33.] 30.
37. 47. 49. 50. 51. 52. 55. 59. 05. 00. 08. [70.] 72. 75. 79). Ge-
meint ist eben jene der beiden Gla rissen, die ?iach 52, 4 ff. dem
Nicolaus von Bio fehlen als ihrem Ordensbruder jene Aufzeichnungen
zum Durchlesen und zur Begutachtung übergeben hafte, daz sü
sich deste sicherlicher mühte darane gelossen und sich dar noch
gehalten durch alles ir leben. Aus BC (siehe die Lesa. zu
51,27 — 52,9) erfahren wir, dafs Nicolaus von Bio fehlen nichts
') S. 144 b tritt aus sonstiger biblischer Umgebung auch hier S. Franciscus
hervor: sanetns Franciscus vastet zwurent nff dem berg, do im got der her
die regel gab.
*) Auf jenes Ulrich Predigt folgt unmittelbar Taulers Predigt auf Maria
Magdalenentag (Baseler Ausg. 1522, BL 208 a), die auch in Hs. 2190 des
Bezirksarchivs des Unter -Elsa/s — sie entliält Materialien zur Geschichte
des Grünen Wörths — Bl. lila -120a eine Stelle gefunden hat.
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62
Philipp Stranch
auszusetzen fand und es nicht für nötig hielt ut me ze schriben;
nur drei Hegeln (Nrr. s;> — S4 , vielleicht auch Nr. 8~> mit dem
Eingang von BC) fügte er aus besonderen Gründen bei. Der
übrige Tat mag von ihm in Einzelheiten und Kleinigkeiten
redigiert norden sein, doch lassen sich darüber nur Vermutungen
anstellen, in wie weit etwa die Varianten in BC auf Nieolaus
von lllofefden oder auf den Anonymus selbst zurückgehen. Wir
dürfen vielleicht folgendes annehmen: der Anonymus des Sfrafs-
burger Johauniferhauses übersandte seine Ennahnungen an die
junge 'Clarerin ' ') zunächst in loser Form. Diese legte sie ihrem
geistlichen Vater, dem gelehrten Franziskaner- Lesemeister Nicolaus
von Bh fehh-n-) zur Approbation vor, der von sich aus nur jene
öfter er wü luden drei Hegeln beisteuerte. Nun erst gab der Ano-
nymus, indem er in Nr. N;> seinerseits wieder d<r besonderen Bei-
gabe des Blofelders Beifall zollte, seinem Traktate Schürebrand
die einheitliche Gestalt und die Anordnung, die den Handschriften
BC zu Grunde liegt, während, dem Schreiber von A, als er sieh
anschickte , den von seinem Konventbruder rerfafsten Traktat
dem Briefbuch des Slrafsburger Johanniterhauses einzuverleiben,
wenigstens für das letzte Drittel nur ein ungeordnetes Material,
auch sonst gelegentlich wohl nur die eisten Entwürfe (Nr. HS, die
1 ) In Straßburg gab es zwei < 'larissenhäuser, eines auf dem Bofsmarkt,
eines auf dem Wörth ; über die sozialen Straßburger Verhältnisse, insbesondere
den Verkehr von Mönchen und Nonnen daselbst um die Wende des Jahr-
hunderts s. Zeitschr. für Kirchengesch. 6 (1884), H42, vgl. auch im Text 8, 10 ff.,
.7.7, 1 ff. Oder lassen die St. Galler Handschriften an ein Clarissenkloster in
der Schweiz denken:'
2 ) Trotz mannigfacher Machforschungen , bei denen mich die Heiren
Prof. Dr. Holte, Pfarrer Dr. Bossert , P. Dr. theol. ('. Kübel, Prof. Dr.
Henner und Dr. K. Weller frcundliclml unterstützt haben, xcar über Nicolaus
von Bio fehlen nichts zu ermitteln. Gemeint ist sicher das jetzt württem-
bergische J Hau fehlen, (). A. Gerabronn, früher hohenlohisch, dann branden-
buraisch. Vgl Monumenta Boica 47 N. F. 1 (1UU2), 2U5ff. Gehörte Nieolaus
vielleicht der ritterlichen Familie von Blaufehhn an, die im 14. Jahrhundert
mehrfach im Würzburgischen in Beziehungen zum dortigen Hoclistift vor-
kommt? Siehe Archiv des Inst. Vereins für Unterfranken und Aschaffenburg
24, 117 Nr. 842; Mon. Boica .18, 215. 42, 88. 13.1. 44, 168. Bürgerliche aus
Blaufehlen, welche in den MinorUcnorden eintraten, pflegten sich zunäefist
nach Jlothenburg a. d. Tauber zu wenden. Strafsburg aber war der Haupt-
studienort der oberdeutschen Minoritenprovinz. Irrtümlich spricht A. Schubiger,
Heinrich III. von Brandis und seine Zeit S. 258 vom Franciscaner 'und
Chronikschreibei-' von Strafsburg Nicolaus von Blofelden.
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.Schürebrand.
63
beulen Abschnitte nach Nr. 44 in A, vgl. auch die Lern, zu 12, l. r >)
zur Verfügung standen. Nicolaus von Laufen hat dann, wie
schon oben vermutet wurde, an dieser Abschrift i)i A mehrfach
Korrekturen vorgenommen, Nachträge in ihr angebracht, sei es
nun, dafs der Schreiber seine Vorlage nicht genau wiedergegeben,
sei es, dafs Nicolaus von Laufen nach einer anderen, meist mit
BC übereinst immenden Handschrift ergänzte. Wenn ich im Te.rt-
ablnick A gefolgt bin, so tat ich es wegen der älteren und
besseren Überlieferung gegenüber BC, deren Varianten über die
Autorseluift hin sicheres Urteil gestatten. Hervorzuheben wäre
aus ihnen, dafs neben gelegentlichem weiteren Ausspinnen eines
einzelnen Gedankens BC einige Male die ursprünglich auf den
speziellen Fall gerichtete Darstellung verallgemeinert haben; vgl.
Nrr. 5. 37. 40. 57. 7 0. 77.
In der Vorrede (4, 1 ff.) ist der Inhalt des Traktates
in aller Kürze skizziert. Bei genauerem Einblick läfst sich
etwa folgender, übrigens durchaus nicht streng festgehaltener
Gedankengang erkennen. Nach einigen einleitenden Worten sind
zunächst den drei Ordensgelübden (vgl. 4, 22 ff. 2.1, 20 f. 25, 13 ff.
30, 32 f.) längere Betrachtungen gewidmet: Nrr- 2 — 5 handeln
über die jungfräuliche Keuschheit, Nrr. 0 — S über die äußere
Armut und EigenscJuiftslosigkcit, der gegenüber die Gemeinsamkeit
des Lebens bis zur Gütergetnein schaß durchgeführt werden soll.
Die Tugend des Gehorsams und die zahlreichen Anfechtungen
gegen denselben werden in Nrr. 9 — 10 besprochen. Mit dem
wahren Klosterleben beschäftigen sich Abschnitt 17—21 und sehr
eingehend befaßt rieh unser Autor mit der Schwermut und den
Mitteln, mit denen man sie zu bekämpfen hat (Nrr. 22—44).
Nrr. 45 — 51 führen aus, dafs Gott uns größeren Gewinn zu geben
vermag als die Welt, Nrr. 52 — 54, was als Höchstes in der Schule
des heiligen Geistes gelten darf. Auffallend ist, dafs von Nr. 55
ab, gerade an dem Punkte also, von wo ab A und BC betreffs
der Anordnung eigene Wege gehen, in BC, die allein auch für
das Folgende eine leidlich systematische Folge der einzelnen Ab-
schnitte erstreben , während in A Willkür und Unordnung •)
herrseht, eigentlich von neuem begonnen wird. Jedenfalls ist ein
näheres Verhältnis zum Vorhergehenden nicht wahrzunehmen, wenn
>) Doch stehen auch in Ä. 69—72 und 73-81 als einheitliche Gruppen
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Philipp Strauch
Nrr. 55 — 05 abermals und zwar viel eingehender als früher ein
Lab der Besitzlosigkeit anstimmen, Nrr. (>t> — HS in innigen
Worten zur Friedfertigkeit mahnen, Nrr. Mi. 70 ausführen,
aller Anfang sei schwer, niemand werde als Künstler geboren,
ein jeder Beruf wolle erlernt sein: leinen besseren Lehrmeister
aber gebe es hier als den heiligen Geist (Nrr. 71. 72) — und
null ich das Ganze in einer Apostrophe auf das ewige Leben
(Nrr.7H.7i), einem Hinweis auf Hieronymus (Nrr. 75-- 7 S,
siehe aber 4s, .7 Lesa.) und Schlußworten persönlichen Inhalts
(Nrr. 7'J—S1) ausklingt.
Der Traktat bereitet mit sehur wortreichen y oß schwülstigen
Ausdrucksweise dem Verständnis gelegentlich Schwierigkeit. Die
selteneren Worte lud bereits Karl Schmidt in sein Historisches
Wörterbuch der elsässischen Mundart aufgenommen. Wenn das
folgende Glossar besonders die aus einer und derselbni Wortform
hervorspriefseude Mannigfaltigkeit der Bedeutung zahlreicher ab-
strakter Begriffe, wie sie die Sprache der deutschnt Mystiker in
so ausgiebiger Weise zur Verfügung stellt, an einem einzelnen
Denkmal zur Anschauung h ingen will, so würde doch der ihm
gewährte Baum niemals im Verhältnis zum Werte des Traktates,
den es ausschöpft, stehen. Das Gott es freund probt cm aber zwingt,
um einer erfolgreichen Lösung näher gebracht zu werden, zu
genauester sprachlicher Durcharbeitung sämtlicher sich irgendwie
mit ihm berührender Schriftstücke: der Traktat Schüreband gehört
in diese Bcihe, ja, seine Veröffentlichung läfst sich vielleicht nur
in diesem Sinne rechtfertigen: sie kann und will nicht mehr sein
als eine Vorstudie zu l T nt ersuchungen, die der Verfasser in nicht
zu ferner Zeit vorzulegen hofft.
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Schürebrand.
65
abegang Unterdrücken, Verzicht 34,10.
51, G.
abegescheiden abgesondert 9,24. 16,31.
35,5. 36, 8 f. 39, 9 f.; ab(e)gcscheiden-
heit, lidige 8,22. 28,2. 39, 8 L. 48,
27 L.
abegeziehen 29, 19.
abegon, uwern lüsten 18,29; subst.
Inf. 8, 20.
abelessig verzeihlich 5,32; entsagend
32, 13 L; abelessi(g)keit Nachlässig-
keit, Nachlassen 23, 14. 32, 13.
abescheidenheit, lidige Abgeschieden-
heit 35, 18 f.
abeschus Schuß 44, 27.
abesniden, die brüste 36, 1 f.
abesprechen 41,20.
ablegen 49, 8 L.
Abraham 49, 20.
absterben subst. Inf. Abtöten 31,24L.
achtper 30, 27 L.
acker 31, 7.
ackermeister (Christus) 34,26.
affenheit Torheit 10, 15. 32, 4.
ahte haben 44, 14.
alaster Schmähung, Herabsetzung 43,
23 (Schweizer Id. 3, 1466).
s. Alexius 39, 9.
allewegent 15,2.
altvatter, altvetter(e) 14,17. 34,2.
35, 8.
ambaht 33, 9. 49, 5.
s. Ambrosius 50, 12.
ampar, anpar Gebärde, Benehmen 10,
5. 11,22. 50,32.
ampel 6, 29. 32. 31, 3. 6.
anbellen 42, 32.
anblig 15, 9 f.
andaht 27, 1 f. Mose. 16, 7. 27, 15.
anden rügen 10,6.
an(e)nreaigen 7, 10 L. 23, 32. 43, 2.
an(e)hang Anhang, Beziehung 16,25.
28. 28, 1. 33, 15; a. der creataren
27, 8. 35, 13; schedeliche anhenge
Einflüsse 4,4; Anhänglichkeit, Zu-
traulichkeit 16,21.
ane schinen 34, 16.
au(e)sturm 3,21 L. 5,21. 6,19. 7, 10 L.
23,33. 29, 2 f. 35,2. 47,34. 53,27;
anestürmen 7,7.
ane valleu 19,28. 21, 1.
anevehtunge 5, 22. 45,13. 51,5; an-
gevehten 43, 1. anvehten 26, 17.
32,20.
angenomene ufsetze 29,22; a. wisen
15, 1. 16, 1.
angestber gefährlich, Besorgnis er-
regend 46,14. 49,9. 11; streng 45,
16 f.; angestberkeit 21,4. 41,21.
anklebelich anhaftend 21,32; ankleb-
lichait 21, 32 L.
anlege (Var. anleguug) Einkleidung
49,30; aulegen 31,24L.
annemmelicheit die Anna hme von etwas,
um es dann zu besitzen 8,25.
anstos 28, 6 L.
8. Anthonie 9, 13.
antwerk Handwerk 45, 15.
appetgotte Plur. 27, 13.
aptgründe 38,2. 49,24.
arbaitlich müliselig 48, 15 L; arbeiter
34,22. 35, 1. 47,16.
argwonig 10,5.
armüte Neutr. 22,20.
artzenie 27,24; artzot 22,6.
s. Augustinus 7, 23. 38, 17. 50, 12.
5
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66
Philipp Strauch
Babelon 9, 12.
banerherre (Teufel) 12,9 (Schtceizer
Id. 2, 1538 f.).
bant 7,10L; Fessel 27,29.
baptisterin 11, 19.
barmhertzig IG, 34 f. 24,2; barm-
hertzecliche 36, 17.
barsrhaft 8,4. 31,13. 38,7.
basiliscus 52, 14.
bedarben entbehren, darben 27, 20.
beging 33, 10 L; begirlich 24,25. 29.
30.2. 27. 28 L. 34,14. 37,22. 41,
22. 48, 7. 9. 27 L. 50, 25.
begnoden 18,8. 17.
begnügen genügen 14,22. 33,10. 13.
49,7 (Yar. benügen).
begoben beschenken 18, 8.
behaben festhalten, behalten 19, 34.
behagenheit Anbequemen, Anschmiegen
16, 21.
behalter (Christus) 28, 20.
behangenbeit der creaturen Anhang
21.32. 23,10.
beheblich haltend, schützend? 7, 10 L.
behelf Behelf, Hilfe, Schutz 16,13.
28, lß. 53, 26.
heberten hart anlassen, zur Bede stellen
43, 2 f.
behüt vorsichtig, sich hütend 40,22;
behutsam bedächtig, beschaulich 8,
19. 12, 3. 28, 1 f. 35, 21 f.; behüt-
samclich 35, 12; behiitsamkeit Sorg-
falt, Schutz, Bedächtigkeit 3,10.
4,1. 0,24. 7,8. 12. 22,12L. 42,32.
51, 11.
beiten warten 17, ß.
bojoraern jammern 18, 16.
bekantnisse Erkenntnis 20,24. 25,11.
52, 17.
bekerde, besserliche Wandel zum
Bessa-n 21, 29.
bekommen hervorspriefsen, gedeihen
30, 16.
bekornnge Prüfung, Versuchung 7,7.
23.33. 32, IL. 47,35. 53,27.
bekümbem bedrängen, belästigen 13,
29. 37, 2ß; bekümbernisse Unruhe
10.3. lß,30.
belangen lang dünken 47, 17. 22; subst.
Inf. 30, 12.
belibklich bleibend, dateemd 35, 23 L.
bemosigen beflecken 8,24.
bereitschaft was bereit ist : Mittel
29, 20.
Berenberg 39, 19. 40, 5.
s. Bernhardus 50, 13.
beschaffen bestimmen 26,27.
beschehen geschehen 30, 23 f. 51, 21 f.
bescheidenheit Verständigkeit,Einsicht
28,11. 46,8.
bese(h)ssenheit Befangenheit 11, 16.
19,3. 23,11.
besitzer 7, 10 L.
besitzunge 9,9. 16,7. 32, IL. 40,29L.
42, 26.
besliezen einschlief sen, ausschlie/sen
6,33. 31,4.
besnidunge 24, 20. 26, 1.
besorgunge Sorge, Pflege 25, 5.
besserlich 21,29. 23,13L.
bestetigen festigen 24, 5. 50, 22.
beswerd Kummer 32, 25 L.
betrahtunge 24,31.
betrogen verblendet, betrügerisch 33, 6.
34, 17 f. 35, 2 f. 36, 11. 44,7; be-
trogenheit 19, 19.
betütunge Auslegung 32, 7 f.
betwiingniße Zwang 8,28. 11,25. 13,
4. 37,15.
befelhen überlassen 38,1; sich b. 49,
31. 32.
bevinden erfahren, kennen lernen 3,
23. 10,29. Iß, 34. 35,27. 44,13;
befindlich befintlich : gnode 7, 6.
27,11; trost 14,15; eine sele foul
befintliches gottes ganz in Oott auf-
gehend 23, 10.
beweglich rege, innig 24, 29 L.
bewereu subst. Inf. Beweis 53,5; be-
wert erprobt 40, 26. 50, 16; b.
orden 26,30. 32,29. 3ß,30L. 38,7.
40, 12.
bilde 44,25. 53,16; Vorbild, Beispiel
39,16L. 45,3. 51,13; Vorstellung
23,10; bilden bilden, gestalten 27,
14; b. in vorstellen, einprägen 18,7,
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Schürebrand
67
absolut (?) 19, 35; bilder Vorbild
(Gott) 35 t U; bildlos 45, 2t L.
bilig (zu mhd. bil) streitsüchtig,
zänkisch 11, 16. 22; biliche kibekeit
13,6. 31,19; b. zeffelunge 31, 16;
bilikeit Zanksucht 11,28.
billiche 10, 20. 13, 21. 14, 22. 18, 13.
23,34. 19^23 usw.
binden 35, 27.
bischaft Beispiel, Belehrung 3,22. 51,1.
bissen subst. Inf.: b. uwerre concien-
cien 19, 20.
bittere galle, inirre 19, 17. 22, 9 ; bitter-
keit 34, 18.
blagen heimsuchen 31, 16 L.
blecb Metallblättchen: mit gl Agenden
blechern zerqwirschen 3G, 3.
bleg[r]ig (zu mhd. blsejen) anmafsend
11,22 L.
biestig störrisch, eigensinnig 31, 16 L
(Schweizer Id. 5, 170 f.).
blindelingen blindlings 12, 11; blint
(vom Gewissen) 41, 4 L.
blödekeit Gebrechlichkeit 29, 27.
blot(t)erkopf eigentl. rundes volles Ge-
sicht, hier verächtliche Bezeichnung
für ein weibliches Wesen mit un-
zufriedener Miene 17^ ia_ 32, 24
(Schweizer Id. 3, 414).
bluntzenkar bauchiges plwnpes Ge-
schirr, hier verächtliche Benennung
eines xceiblichen Wesens 17, 17
(Schmeüer 1, 459; Schtceizer Id.
126; Schmidt, Hist. Wb. der elsäns.
Mundart 47 b ).
bodenloser gitsac 8, 10 L.
bredige 22, 6. 36, 6. 7.
brendelin 29, 34 ; brennen (vom Gold
u. Silber) 53, 16 ; brünneu, bürneu
5, 7. 29, 25. 31, 3. 36, 4.
briefer Masc. Brevier 11, 12.
bruch Gebrauch 37, 2 L.
brunloftkleit Brautkleid 42, 1.
bürde 32, 26. 53. 7.
burger in aptgrüude der hellen (Judas)
38,2.
burne Brunnen 20, 16.
dangber 32.10; dangberkeit, 4, 8. 7.12.
27, 27. 28^32^ 50, 28; dangber-
lich(eXn) 24,31. 29,30. 53,30.
Dauiel 9J2.
darben entbehren 18, 22. 23; darben
oder haben 49, 14 f; subst. Inf. 17,3.
22,27. 34,11. 42,26; darben Neutr.
2A15:
David 15, 14 L. 20 L.
demütikeit 43,26. 48,28.
diener : gottes d. 47, 20.
Hitnstheikcit Bereitwilligkeit zu dienen
49, 4; dienstberliche dienstbereit
14, 9.
dienstmaget 47, 15.
dingen mit 41, 9.
dirte dritte 53, 8-
s. Dominiens 7, 22. 38, 17.
doreht 12, 15. 13, 6. 32, 1 L. 42, 2.
dotstich gefährlicher Stich 44, 29.
dotsünde 40, 18.
durcheilten verfolgen 20, 3; dnrehti-
gunge 47, 35; durhehtunge 24, 18.
31,24 L.
durchgang Verlauf 6, 10. 19,22.
durchglentzen erleuchten 17, 19 L.
i durchliden 42, 24.
j durch füren 44, 12.
ehe che 3, 17. 44, 27. 28. 30. S. auch
obe.
ebeumensche 27, 5.
ehte nur 47, 14. 49, 15.
eigenlich eigentlich, bestimmt, sicher
45^23.
eigenschaft Besitz 7, 26. 8, 17. 25.
9, 7. 21. 16, 7. 21,33. 25,9. 36,28.
37, 6. 7. 24. 38, 8. 39, 2. 24. 40, 10. 21.
41, 3 f. 19. 26; Eigenschaft, Be-
nehmen 11, 16; eigenschafter der
über Eigentum, Besitz verfügt 49,21.
eigener wille 7, 2. 8. 9, 31 f. 18, 28. 23, 3.
30 f. 28, 9. 30,5. 17. 31, 8; eigen-
willig ilOL. 31,11. 41, 1.
s. Eilsabet 39, 13.
einig allein 16,32; einzig 18, 6- 49,25;
eiuikeit Alleinsein, Einsamkeit 8,22.
35, 6. 19. 36, 9.
5*
68
Philipp Strauch
einmütig 1 '2, 2t. 24; einmütekcit 7,25.
12, 22. 13, 18. 14, 3. 37, 2. 9. 43, 13.
einöte 3n, 9.
einrihtikeit Eigensinn, Rechthaberei
12, 18 f.
einfaltig 15, 19. 49, 17; einvaltikeit
Einfalt 30, 22. 49, 3.
Elym 52, 19.
eilende Adj. jammervoll, beklagenswert
10,23.2G. 18,22. 19, G. 12.22. 23,30.
29, 15. 49, 18; Subst. mit Bezug auf
Christi Leiden 22, 20. 24, 10. 25, 25;
Fremde 39, 10.
elleninent der erden mit Bezug auf
Christi irdischen Teil 22, 12 L.
eman (Christus) 10,31. 22,19.
emsig, empzig beständig, beharrlich
31,34L. 45, 14.
endelieh eifrig, tüchtig 34, 21 f.; ent-
licher sicherer 44, 11 L.; eudelkhe
Adv. 34, 8.
end(e)los 33, 19 L. 42,22. 49, 8 L.
cugelsch 15, 10.
enpfenglich 21, 11. 42, 14. 40,20.
enpfiutlieh 17,31 L. 18,20L.
entschlohen, sich sich losmachen, be- |
freien 1G,20L.
entfriden des Friedens berauben 10, 9.
21, 9 f.
eptissin, eptischin 9,5.0.15. 14,0.
38,24.
erarnen erretten 24, 13.
erbarrahertzig 25,21.20. 20,19. 3G,17L.
erbeiten abtearten 30, 10.
erhere auszeichnendes Epitheton 3,3.
7,10L. 11,29. 12,3. 13,25. 14, '.13.
15,2.5. 24,29 L. 28,1. 32,25. 39,20.
43, 18. 45, 4.
erherm(e)de 11,28. 18,4. 20,10.22.
21,26. 26,27. 43,18.
erdihten ersinnen, ausdenken: gebet
15, 25.
ereschatz laudemium 53, 13. 21 (Lexer
1,600, Nachträge 161; Schmeller
1,127.
ergeben Part, der ins Kloster gegangen
ist 8,15. 23,24. 25, 7 L. 36,30L.
38,6.
ergerlich ärgerlich, Ärgernis erregend
22,12L. 51,13.
ergetzen entschädigen, vergüten 14, 13 f.
18,32. 29,14. 42,27; sich erg. 14,30;
ergetzenlich unterhaltend 19,2; ent-
schädigend 22, 7; ergctzenlicheitiVr-
gnügen 8,21; ergetznnge Unter-
haltung, Vergnügen, Freude 16,13.
24,26. 33,2. 30, 12. 47,10.
erkalten 17,9.
erkantunst Erkenntnis, Einsicht 52,
17 L.
erlebet erfahren, erprobt 45, 4.
erlich vortrefflich, herrlich 5,11. 17,25.
24, 8. 30, 5. 21. 31, 23. 32, IG. 22.
30,23. 43,4; erliche Adv. 5,26. 31,27.
erluser (Christus) 33,23.
ernmndern ericecken, erfrischen 16,4.
erne Ernte 34,6; ernenn Schnitterin. •
liebe gottes e. 34,15; ernegeselle
34,8.
ernsthaft 8, 19. 12, 3. 30, 21 L.
erschrückenlich schrecklich 48, 6. 8.
ersetzen verquicken 30, 25.
erste Fem. Anfang: an der erste 14, 13.
ertzenen heilen 19,9.
erfolgen erlangen 3, 25. 9, 25. 18, 15.
23, 18. 37, 1 L. 21. 43,21. 25. 45,
11.12. 49, 8L; nachkommen, erfüllen
4, 21 f. 31,2. 39,15. 42,10. 47,27.
51,4; fortsetzen, zu Ende führen
4, 34.
erwern erwehren 6,20.
erwirdecliche 14, 30 f.; erwirdig 4,29.
5,19. 51,29. 53,23.
erzüngen zeigen 42, 11.
estüre Mitgift 23,2.7.
efrouwe 24, 23. 26, 29.
ewangeli: Gen. ewaugeliea 21,30.
23,20. 24, 10; ewangelisterin 11,20.
exempel 6, 7. 40, 29. 50, 17. 51, 1.
galle 9, 17. 22, 9.
ganeisterlin Fünkchen 3, 2. 23. 5, 1.
30, 1. 51, 28.
gartener (Christus) 36, 17.
geben: 2 Plur.gent 14,4. 18,31. 22,12.
gebenediet 48,10.
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Schürebraud.
09
geberde Benehmen, Wesen 1 1 , 22. 43, 23.
gebesserlich dem Besseren zugeneigt
23^13.
gebreste Gebrechen, Fehler 7, 10 L.
18,1.24. 19,10- 21,22. 24,18. 27,30.
28,3. 41,27.
gebresten mangeln, fehlen 32, ö.
gebrneh Gebrauch, Benutzung 10, 4.
37, 2.
gebrachen gebrauchen, geniefsen 8, 21.
17,28. 28, 9 f. 13.
gech ungestüm 22, 12 L.
gedinge Fem. Hoffnung 41, 6.
gegenparte ( Var. gegenpartie) Gegen-
partei 43J2.
gegenwertig 24, 11.
gegenwurf objectum, Gegenstand 4, 5.
11,8. 14,1. 10, 14. 17,11.23. 27, 14 f.
28, 16. 29, 2. 35, 14. 38,22: Be-
schäftigung 6, 8.
gegenwürtecliche 28, 21.
gehorsame Gehorsam 7, 10 L. 23, 26.
28, G. 30, 32 f. 33, 29. 35, 20. 37, 14.
43,21. 48,27; gehorsamikeit 15, 3 L.
geirren 19,26 f.
geischeln geisein 53, 2.
gelassen, sich sich hingeben 10, 23.
gelesse, gelesze Benehmen 10, 0. 19, 30.
20, 10 L. 42, 34. 43, 23. 49, 3. 50, 32.
gelessenliche mit Gotter gebcnheil 20 } 1!».
geliden leiden, dulden 39, 6. 50. 29;
sich g. 10, 22.
gelieben, sich sich lieb machen 16, 21.
gelossenheit (gelaas(en)hait) Gott-
ergebenheit 9,29. 15, 3. 17, 14. 22,
4. 12 L. 34, 13. 44, 14 L. 47, 28.
gelten bezahlen, vergüten 25, 30. 47,37.
48,1.
gemachelschaft Ehe 22, 19 L. ; gemehel-
lich ehelich 22,19.
gemeinde: in der g. gemeinschaftlich,
zusammen 37,5 ; gemeine genteinsam,
allgemein 36,31. 37,2.24; gemein-
liche 43, 13; gemeinsame Gemein-
schaft 7, 25- 31, 22; geraeinsamen
versammeln, vereinigen 30, 2. 42, 13 ;
sich g. mit teilnehmen 49, 31. 50, 1 ;
gemeinschaft 30, 6. 29. 32, 15.
gemeit froh, freudig 22, 17.
gemeßen zugemessen, mittelmäfsig, ab-
sehbar 42, 21.
geneme angenehm 15, 15.
genesen: sterben oder g. 49, 15.
genieten, sich sich beschäftigen, er-
freuen 14, 30.
genosseme, mit ohne Schaden 11,6
(Schweizer Id. 4, 824).
genouwe genau 39, 15 L.
geuügede Genüge 34, 13.
gennhtsameliche zur Genüge, im Uber-
flu/s 34, 33 f. 51,17.
gerümel Geräusch, Unruhe 46, 20.
gerüwig ruhig, gelassen 29, 11 L.
gerwe ganz und gar, völlig 29, 10. 11.
34, 30. 50, 27. "
gesatzlich bedächtig, ganessen 44, 9 L.
geseheft'ede Geschäft 21,1. 33,22; ge-
sehiipfede Gestalt 28, 26 f.
gescherten schartig machen, schmälern
29, 18.
geschicket passend, tauglich 23, 16;
geschicketheit 14, 1. 27. 2. 29, 8.
geschrift 4M, 17: die heiige g. 40, 24.
gesellesehnft 12, 18. 14, 2.
gesig Sieg 3,21. 4,33. 5, 25. 23, 34.
43,4.
gesossetheit, gesohstkeit ( Var. gesatz-
heit) Gesetztheit, Ruhe 17,32. 44,10.
gespenste Blendicerk, Trug 11, 5.
gespilschaft Genossenschaft 5, 11; Ge-
selligkeit, Spielerei 19, 2.
gespreche 15, 24. 16, 4.
gespnntze (Christus) Bräutigam 15,26.
gestellen stehlen 29, 18 L.
gesten, sich stolz, freudig sein 22, 16.
gesuch 42, 27, gesucht gesucht 8, 17 L.
31,24 L. 51,6 Ii. Anspruch auf Ge-
win n ? Verlangen ?
geswendc ungestüm, vorschnell 22, 12 L.
getörren icagen 28, 10.
getrengo Gedränge, Bedrängung 21,
11 L I 3. 25,8. 31,24 L. 32.25 L. 4^
14. 47,3.5. 51,27 L. 58,12. S.aucMrnc.
getraweliche vertrauend 49, 30; ge-
trawen Verbum 40, 27. 46, "Ü*. 29.
47,6; Subst. 23, 35. 28, 32.
70
Philipp Strauch
getultecliche 17, 6, 19,36. 43,19f.; ge-
tultig 19,11. 47,28.
gefallen 11. 11.
gevaugener, sin (Gottes) 13,2. IG, 24.
17, 1; gottes gefangene 42, 16.
gevehte Kampf, Abmühen 33, 22.
gefeile was einem zufällt, Einkünfte:
irdensche zergeugliche g. 31, 12^
zitlich g. 21, 33. 36^ 13^ 39, 3. 48,
2H.L.
gevenguiße 42, IS.
gefcrt Fahrnis,Kleinigkeiten 39,28L(?)-
gef ruhten Fnicht tragen 27, 12.
gewarsamekeit Vorsicht 48, 25 L.
gewerbe Tätigkeit, Treiben 4,4. 14,27.
21, 33 L. 32, 3 h. 33, 6. 20.
gewerde Wert gegenstände 31,13. 32,3.
39, 28; = spise 37,4.
gewerlich wahrhaft 45, 23.
gewillecliche willig, freiwillig 5. 35.
14, 8; g. und gern 13,3; gewillig:
g. anmit 4, 23. 37, 20; g. langmüti-
keit 30, 11.
gewinner 47, IG; gewinnig Gewinn
bringend 32. 14. 47, 22.
gewis sicher 12, 1 7 L.
gewisen führen 37, 19.
gewit ter 32, 1 L.
gewoneu gewohnt werden, sich ge-
wöhnen 29, 10. 45, 13.
gewore aufrichtig, wahrhaftig 24, 22.
25, 18. 2G, 22. 28, 2G. 30. 35, G. 19.
36,11). 43,15. 46,24. 52,27.
gewülkene 34, 24. 27-
gezügnisse 40, 23.
girig gierig, begehrlich 33, 10.
gitig gierig, begehrlich 33, 10 L. 47,
15 L; habgierig 49,21.
gitsac als Bezeichnung für einen liab-
gierigen Menschen 8, 10 L.
glcntzen 5, 26.
gliinpfeu gestatten 38. 29. 41, 4.
glor(i)ieren glänzen 33,8; verherrlichen,
j>reisen: gl. uf. 39. 13; subst. Inf.
17, 27. 22, 17. 36, 12 f.
glosieren hei'umdeuten , schwanken:
glosicreude concieucc 41, 4 L; subst.
Inf. Auslegen, Deutung 39, IG L.
glugen glühen 50, 27.
glüusen glimmen 4, 14. 30, 1. 50, 27.
glust = gelust Begierde, Gelüsten 23, 12.
gnodelos gottverlassen 7, 10. 26, 24.
27^16.
goben als Gabe reichen 49, 29.
gon : an ergetzenlichera gonde oder
stonde an ergötzlichem Allerhand?
19,3.
Gottes freunde 8. die Belege oben S. 60.
grat grot Stufe 13, 13. 33, 12. 37, 1 L.
48. 26 L.
b. Grcgorius 50, 11.
gritig gierig, begehrlich 33, 10. 47, 15 ;
habgierig 49, 21 (Stra/sb. Studien
1, 381).
grob 28, 2. 50, 18; gr. gewant 49, 3.
grusliche sehr 47, 22.
grandelos unergründlich 53, 10; gr.
erbenude 20, IG. 21, 25 f. 26, 27; tief
12. 22.
grünt 7, 10 L. 15, 25. 17,21. 18, ia
36,22. 38, 26. 41,1. 45,21. 46,28:
lidiger gr. 35, 26 ; zu gründe bis auf
den Grund, gründlich 46, 22 ; zu
gründe gelossenheit 13, 9 f ; grüntlich
8^20,
grüssenlich grausig 49, 8 L.
gruwelich Schrecken erregend, schreck-
lich 5 L 32_f 1 7/7^ 18^-
gälte Rente, Zins 8, 4. 9, 4.
gunst Mose. Wulwollcn 21, 6.
gütig 14,4.
gutwillig 3,7. 7, 10 L. 24, 9 L. 30,1.
33, 1. 4G.24 L. 48, 25 L.
haben : 3 Sing. Praes. het 12,29. 13,11.
14^ 18,6. 9. 24, 9. 12. 13. 14. IG und
noch oft.
hant : zu handen gen von der Hand
gehen 44, 24. 45, 1 L.
hautwerg 44, 17.
haspel Masc. Haspel : an hespele
spannen 36, 2-
hafen 27, 11. 49, 5.
heidenin Heidin 20, 17. 46, 9.
hcilgelin (Yar. hailiglin) kleines
Heiligenbild!' 39,28.
)ogle
Schürebrand.
71
heilsam 25, 32. 27, 24. 34, 31.
heimelich 15, 23; heimeliche 14, 14.
15, 29; heimlicheit 39, 22.
heinmte 47, 3.
heischen fordern 38, 27.
helfe : mit der h. gottcs 3, 16.
hencken, eich 12, 8.
herechaft Würde 33, 9; fürstliche. Herr-
lichkeit 39, 14.
herecher 49,21.
herze : mit hertzen und mit munde
lSj.19,
heslich 44, 25.
himelbrot Manna 15, 20 L.
hinder : in disen hindersten (letzten)
ziten 38, 29.
hinderklaffen subst. Inf. Verleumden
27, 5.
hindernisse 28. 1. 35, 15. 36, 29. 41,
2i
hitzig heiß 17,8. 24,24. 29,25- 30,3.
34, 16. 35, 2. 36, 19. 39, 6 usw. ; vil
güter hitziger tütechcn hücher
45, IL.
hochgezit Fest 11, 11. 47, 5.
hochfartig hoffärtig 49, 21.
hoffen subst. Inf. 20. 27 ; hoffenunge
41, 7. 47, 7.
honigwabe 22, 11.
hören sagen 27, 7. 44, 19. 45, 7.
houbetgüt Kapital 30, 17.
houbetman (Teufel) 12, 9.
hügelich fröhlich 47, 6.
hnnderttnsentvalt 30, 7.
hnndertvaltig 23, 23. 41, 13.
hüte schwach flect.: in hüten haben
26, 31. 39, 16 L.
lemerewicliche 28, 13. 34, 14. 46, 26 L.
51,23; iemerewig 22,26. 34,6.
iemer werende 10, 24. 12, 26. 22, 22 f.
28,14. 32, 16 f. 46, 32. 47, 24. 37 f.
49, 8 L.
iemer wesenliche immer während,
-dauernd 35,23.
ietzentan jetzt 43, 34.
iewelten von jeher 13, 24.
inbesliezen einschließen 35, 12.
in bilden in einprägen 27, 13 L.
in bringen einbringen 34, 30.
inbrünstecliche 49,12; inbrünstig 4, 15.
5,2.36. 6,6. 10,3. 17,9. 24,24. 29,25.
30,3. 36,19. 39,6 usw.; inbrunstig-
kait 17, 8 L.
indewendig inwendig 21, 19.
ingang : in uwerre sicheren fluht (aus
der Welt oder in das Kloster) des
bewerteu heiigen ordens ingang in-
troitus 32, 29 als direkte Anrede an
die Clarerin ? 'ihr die ihr den Ordens-
eintritt vollzieht, so wie er sein
soll'*
in geben, sich rieh in etwas hinein be-
geben, -finden 18, 31.
in getragen hineintragen 32, 13. 39,
16 L; sich einem in getr. bei einetn
einführen, einschmeicheln 16, 20 f.
inker Insiehgchen 16, 11. 43, 35.
innan, von — von nssan 3. 8 f. 4, 10.
6, 15 f. 9,30. 17, 31 f. 19, 31. 30, 13.
44, 10 f. 47, 28 f. 53, 27 f.-
inneklichen 52,26.
innerkeit das Innere 45, 21 ; innerlich
16, 3. 42, 27 f. 43, 5. 29 f. 44, 14 L.
45, 26. 46, 7. 52, 16; innerliche 10,26.
35,28. 43,26. 53, 11.
innig innerlich 16, 31; innikeit 8, 22.
29, 11. 35,6. 19. 36,9.
insegen hineinsäen 12, 4.
inslinden in sich aufnehmen (bildlich)
insprechen subst. Inf. Eingeben, Ein-
sprechen 10, 12. 16, 16. 18. 36, 24.
in tragen eintragen, beibringen, ein-
heimsen, ericerben 19, 23. 32, 1 L.
13 L. 37, 18 L. 23. 38,30. 41,5. 45, 9.
24. 40, 10. 14. "
in vallen von der Flamme: einsinken,
kleiner werden 50, 25.
iurlns Einfluß, Einwirkung 13, 30.
I 17,10.30. 19,26. 23,16. 27,11T%mT
35, 15. 36, 30. 46, 26. 48, 25 L.
irren, stören, hindern 13, 29. 15, 31.
27, 16 L. 29, 5 ; irresol Hindernis
16,25; irrig 40,31.
Ysrael 52, 19.
IL
72
Philipp Strauch
s. Jeronimns 47. 33. 48, 3 (s. die Lern ).
20. 49, 16. 50, 12.
joch Conj. 14,27. 21,22. 43,1.3.24.
44, 23. 47, 7. 50, 23.
joch st. Keutr. 53, 0.
jomerkeit sehnendes Leid 19,25; jo-
mertal 31.24L.
jon st. Mose. 34, 28 (mhd. j&n) eigcntl.
das Stück Acker, Feld oder Wiese,
das beim Getreideschneiden oder
Mähen von sämtlichen Schnittern
in gleichmäßiger Fortbewegung ab-
geschnitten wird, hier bildlich ge-
braucht (Schweizer Id. 3,34; Deut-
sches Wörterbuch 4, 2, 2229).
jormercket 32, 1. 6. 46, 20.
jubilieren 15.20L. 23,8.
Judas 63, 17. 64,1.8.
jungherre, jungher (Christus) 22, 30.
23,5.
jungfrouwclin 35,31.
camin bildlich 53, 18.
Cananesche heidenin 20, 17.
karc knauserig, geizig 49, 21 L.
kempfe ( Var. kempfer) Streiter 44, 28.
ker Umkehr, Wendung 46,24.
kerkeren einkerkern 37, L
kestigen züchtigen 53,1; kestigung
Kasteiung 31, 24 L.
kibikeit Zanksucht 11,28L. 13,7. 31,
16 L. 19; kiblich polternd, zänkisch
11,22L; kifeln subst. Inf. Schelten,
Keifen 21,25.
kirne (kyme) Pfanzenkeim 36,21.
kindesch 10, 11.
klageber klagend 19,a r >. 46, 17.
kleinheit Geringwertigkeit. Schwäche
21,28.
kleinöter Sing. Xeutr. Kleinod 5, 19.
6, 21 ; Schmuck 19, 2. 39, 25. 26; Ge-
schenk, Gabe 53, 5.
s. Klore 4,21. 8,18. 11,2. 51,25.
clorerin Ciarisse 9, 23. 12, 1. 28. 29, 1.
32, 9. 34, 3. 38, 23. 44, 16. 46, 13.
closterhunt 51, 13.
klütterot ( Var. klütterwerck) Kleinig-
keit von geringem Wert 39, 28
(Schmidt, Hist.Wb. der elsäss. Mund-
art 200*; Anz. für deutsches Alter-
tum 23,278; Helm, H. v. Heslers
Ev. Nicodemi S. xlu. lxxvi/;
Schweizer Id. 3, 704 f.; Deutsches
Wörterbuch 4, 1214 ; vgl auch Schmidt,
Nie. von Basel 291,27).
kochehafen 7, 27 f.
koff lut 32, 1 L.
conciencie, conziencie Gewissen 7,22.
16,9. 19,21. 21,10.21. 25,8. 27,22.
28,10 41,5.21. 42,1. 43,18. 48,23.
25 L. 49,9. 51,15.
conplexion Beschaffenheit, Art 50, 31 f.
convent 14, 33 ; conventbruder 41, 17 L.
körn (bildlich) 34, 9.
correctie Strafe 45,17; corrigieren
51,29.
koste schw. Masc. Kosten 31, 24. 37,
3. 10; st. Fem. Speise 49,2.
köuffig was sich gut verkauft 32, 3.
koufherre 31, 23; koufmannschatz
(Var. koufmanschaft) Handelsgut,
Waare 32, 2.
kriegen streiten 12, 12. 13, 8.
kripfV-knabe (Christus) 10,32. 14,29.
krowel Gabel mit hakenförmigen
Spitzen: mit kroweln zerzerren 36, 2.
kUchinbubelin 4, 31 (vgl zu Heinrich
von Nördlingen 35,9).
kiimberlich: es ist nüt k. noch arbeit
et quia nec laboriosa est ad paran-
dum 48, 14 f.
kündecliche klug 14, 19; kündic klug,
geschickt 47, 15.
künnen subst. Inf. an nüt künnende
15, 12.
kunsch = kiusch 7, 10 L.
kunst Können 33,7. 45,19; Kunst
35, 30 ( Var. schul),
kürtzliche 29, 23. 30, 14.
küschikeit Keuschheit 23,27. 25,14.
31, 1.
kutte 8,11. 42,9.
laben erquicken 35,2.
langbeitekeit Beharr lichkeit 44, 9.
langmütig 20, 11. 34, 12. 44, 9 L; lang-
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Schllrebrand.
73
mutekeit f>, 10. 17, 5. 19, 11. 30, 11;
langniütigklich 17, 6 L.
langwirig lang dauernd 33, 20.
Lazarus Lasarns 49,20.26.
leiden verleiden 41, 26.
lenden landen, münden 27,24. 33, 19.
lenge, die. auf die Länge 29, 28.
lerekint Lehrling, Schüler 45, 14;
lerlich belehrend 16, 10.
lernkind Lehrling, Schüler 44, 16 L.
lesterlieh schimpflich 40, 18.
letze ifc/io 48, 13. 17- 18. "
lewe lau : lewes gebet 30, 26.
lichtvertig 41, 4 L.
lidecliche völlig 9,4. 14, 26.
liden ertragen 20 , 1 ; sich L_ sich in
Geduld schicken, leiden 1~Ö~,4. 20,2.
32^22.
lider Dulder 24,30 (Christus). 34, 5.
lidig (ledig 39, 2 L. 8 L. 48, 27 L) frei,
unbehindert, rein, völlig 8, 22. 9, 24.
13, 9. 15, 18. 16,31. 22, 14. 28, 2.
29, 7. 35, 18 f. 26. 38, 26. 39, 8. 9.
40, 19. 46,22. 49,2; lidig (und) blos
39,2.5; lidigen (ledigen 49, 8 L)
entledigen , befreien 20, 8. 21, 32;
lidikeit (ledigkait 29, 21 L) Ledig-
keit, Entblöfstsein, Losgelöstsein 9j
29. 15, 29. 37, 16. 48, 27.
liehtrich 17, 30; 1. bekantnisse 25, 10 f. ;
I. nnderscheit 20, 25 L. 40,25. 46, 2.
liep oder leit 44, 5.
lihtecliche leicht, leichthin 18,5. 31,
II. 24 L. 43, 34. 47, 25.
lilige ( Var. ilge) Lilie 50, 19.
liplich(e)— geistlich(e) 4, 7. 33, 18 f.
löbelich löblich, lobenswert, angenehm
15,15. 20,22. 21,14. 47,33.
logen subst. Inf. Xaehntellen 26, 17.
loner Belohner (Christus) 33,24. 34,6. j
(A. Geist) 42, 19.
louherre (Christus) 34, 26.
löser Erlöser (Christus) 34, 4.
louf: Vlur. lönffe (Zeit) lauf 10, 10.
1A20.
lust: Gen. lustes 13,1. 19, 1. 34, 14. !
39,3; Plur. lüste 18,29. 22,31. 34,
10 «wie; lilstlich Wolge fallen er- [
regend, angenehm, lieblich 9, 15. 10,
32. 17, 11. 24, 25. 25,6; Instsucher
der nur oberflächlichem Vergnügen
lebt 32, 1 L. 49, 22.
Int Inhalt : noch lute nnd sage 21, 30.
Inter 15, 18; megetliche lnterkeit 3, 11.
5, 15. 19. 24. 6, 21 f. 28,28; kintliche
lnterkeit 27.30; luterliche aufrichtig
50,3; Intern läutern 53, 19.
niangel 34, 12; mangeln 54. 2.
manigvaltig vielfach 37,5. 46. 16.21;
unbeständig, unruhig 16, 19; manig-
valtikeit (zerstreuende) Vielheit 15,
31. 27, 31, 46, 24 f.; manigvaltecliehe
marg nnd blut 5,20. 31, 24L.
Margburg Marburg 39, 16.
Maria Magdalena 9.26. 10, 1. 36, 20.
raarteln martern 5, 35.
Martha 10, 1. 2.
materie 4, 2. 6. 12. 41,2. 44,25. 45. 8.
mehelen cermählen 3, 19. 23, 1. 26, 29.
meinen denken an, bezwecken 18, 9.
meister 44 , 13. 26. 45. 14; meistern
leiten 14, 7; meisterschaft Kloster-
vorstandschaß 7j_a 9, 33. 28, 7. 31,
20. 38,24.
memoriale 15, 7. 49,29. 50, 4.
memorie memoria 48, 15. 22.
meng(e)lich jeder 12, 15. 13, 25.
mengen mengen, vermischen 29. 28.
meren vermehren 33, 31 L; sich m.
(merren) 28, 5. 30,7-
mereutragerin KUitschbase 27, 4.
merre gröfser 16, 6. 10.
messen subst. Inf. Abwägen, Bemessen
23, 35.
minne und meinnnge 11, 9. 22 f. 41,
17 f; minnebrant Liebesbrand 4, 13.
5, 8. 6,6. 50,25; minnebrief 22,5;
minnebürnend ^3 f.; minueglünsen
ror Liebe glühen 3, 1.23. 5, 1. 51,28;
minnekosen st. Ncutr. 15, 23; subst.
Inf. 16,3; minnelos oAnc Liebe 30,
26; minnen — meinen 3, 24. 9, 34.
10, 14. 47,27; minnenkint 53,2;
74
Philipp Strauch
minnenrich 3,4.7. 4,21. 9,29. 10,
10. 12,18. 13,2. 17,4.12.20,17i«tp.
53, 2 f.; minnenrichliche 24,27. 39,
13. 42,5; minnenfur 4,15. 5,7;
minner Liebhaber (geistlich) 37, 18 L.
(Christus) 5,3; miuuer der weite
33,4; nrinnerin 17,8.20. 24,23. 26, '
23. 27,17. 32, IL. 3(5,19. 37,18L. I
42,29. 43,33; minnesam 6,9. 12,
24. 13,17. 14,3. 40,9. 50,2.8;
minnesamcliche 20, 10 L. 38, 20. 43,
16 f.; minnesamkeit 13, 17 L. 49, 1 ;
daz minneflam inende für 30, 3 ; minne-
fliessende wunden 25,31.
mirre Myrrhe 22, 9. 29, 29.
missetrost Verzweiflung 20, 26.
inisseval Mis fallen 21,2; missevellig
mis fallend 10,4; abfällig 21, 2 L.
43, 23.
mit sitzen : wenne sü üch mit gesessen
sint nahe wohnen 16,27.
mittel was hindernd dazteischen steht,
Hindernis 4,2. 21, 11. 36,28. 40, 11.
41,23. 46,24. 47,8; Mitte, Zwischen-
zeit 15,1. 42,19. 51,19.
mitteliden subat. Inf. Mitleiden 24, 11.
moler 44, 24.
morgengobe Morgengabe des Mannes
23,6.
möge (Masc? 27,30) Flecken, Makel
19, 10. 22, 10.
mnleht mürrisch 17, 17. 32, 23 L.
mur (bildlich) 7, 10 L.
murineldine Bezeichnung für eine ge-
schwätzige, klatschsüchtige Weibs-
person 27,3 (zu murmeln; dine —
Dyne = Christine? Diefenbach-
Wükker, Hoch- und nd. Wörterb.
351).
mÜBclien mischen, mengen 29,28.
müss Speise 51, 15 L.
muHsig unbeschäftigt 15,22; untätig
29, 23.
mutwillig 19, 3 f. 49, 21 f.
nachwessig, noweasig, nowessigkait?
8. 17 L. 51, 6 L.
nagen (bildlich) 19,20.
narrenspil 32,4.
natürlich 13, 1 ; die alle n. ainne nüt
begriffen mogent 29,24.
neiglicheit Neigung, Hang 7,19. 11,
14 L. 12,16. 19,5. 23,12. 29,11.
31.24L. 39,25. 41,21. 49, 2 L.
51, 6 L.
neigunge 30,2.
nidcrloa Niederlassung 7, 3.
messen subat. Inf. Geniefsen 13, 17. 20.
nitblestig neid-, hafsgeschwoUen 12,
18 L.
noehbilden 40,30.
noebdenne dennoch 18,22.
noch gedencken in Erwägung ziehen,
ins Auge fassen 47, 14 f.
noch gevolgen 24, 30 f. 41,1 f.
nochgültig geringwertig 49, 2.
nochschüren subst. Inf. Naclachüren,
Nachfeuern 4, 13.
noch volgen 24. 27 f. 41, 11 f.; aubst.
Inf. 41,14; nochvolgerin 24,29.
notdurft Lebensunterhalt, Bedürfnis
9,6. 38,12. 49,7; lipliche n. 9,3.
37,3.25. 38,11.20; notdürftig not-
wendig 42, 30. 51, 27 L.
notfest erprobt, bewährt in der Not
48, 25 L.
novicie 14,10.14. 17,21. 34,4.
nowessig, nowessigkait s. nachwessig.
nüt: zu nute werden zu nichte werden
36, 15.
nütze Nutzen 21,27; Adj. 42,30;
nützest und fruhtberest 33, 31 , *. auch
fruhtber.
nnwegeborn 17,21.
nuwent nur 15,29. 36,27. 41,13. 44,18.
Ohe (25, 10), übe (14, 27), ebe (21, 21.
25. 4. 47, 7) wenn.
obentürer: die gaistlichen o. Streiter
32, 1 L; ofenturlich aufserordentlich,
ungewöhnlich 33, 1 1 offentüren
wagen, riskieren 31,24L.
offenbaren 39,22.
oley 0/ 6, 29. 32. 31, 3. 5.
Oliveti, berc 24, 21. 26, 1.
omeli Homilie, Predigt 47,36. 48,3.
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Sehürebrand.
75
ordenunge Anordnung, Vorschrift 31,
16. 35,22. 42,33; mit o. ordnungs-
gemäß 14,82.
parte Partei 11, 19 f. 12,9.
partige Partei 11, 17; Spaltung in
Parteien 31, 17; sich partigen 11, 18.
s. Peter 41,8.
pfat: Plur. pfede 23, 27.
pfelleu pfählen, mit einem Pfahl
spiefsen 36, 4 L.
pfening (bildlich) 31,8.
pflantzen 36, 20-
pfleger 48, 24. 49, 8; pflegerin (des i
Klosters) 14, 34.
pfunt (bildlich) 30. 5.
pine Qual, Pein 42,22. 48,2. 40,23; ;
pinigen peinigen 20, 3; pinlich 20, 7.
a% 20.
porte Pforte 48, 25 L ; portner Pförtner
48, 25 h.
prelate 38, 9. 13. 39. 23.
prior 39, 23 ; priorin 14, 6.
probieren probare 51, 29.
psalterienspil 15, 14.
psaltieren subst. Inf. auf dem Psalte-
rium sjnelen 15, 14 L.
qnelbnrne Quell 34, 32. 46, 6. 7. I
qweloder Quellader 45, 26.
rassebaner feindliches Kriegspanier
lj^lO.
rassen toben, kriegen 12, 12.
rechenen rechnen 30, 16. 47, 5.
redelich vernünftig, angemessen 32, 7 ;
zu r. notdurft 31, 13 f. 38, 12; one
r. sache ohne zwingenden Grund
26,31 f.; redeliches Adv. 28, 34.
reden: Praet. rette 40, 8. 23.
redern radern 36,4.
regenwetter 34, 27.
reißen reizen, antreiben 50,21. 51,2.
reveutor Speisezimmer im Kloster 9, 10.
richliche 29, 13.
riebsen herrschen 32, 16. 51,23.
ringen subst. Inf. 10, 18.
ritterin: gottea r. Streiterin 47, 32 ;
ritterliche vestekeit 47,33; ritter- (
Schaft ritterlicher Kampf (geistlich)
17, 25.
rose 50, 19; rosevar rosenfarb 25, 32.
rotgebe 10, 33. 42, 17.
rotfrogen subst. Inf. Um Hat fragen
4A16:
ruch rauh 50, 18.
rute = rftte Raute 52, 14.
rawe sw.Masc. Betrübnis 32, 13; Reue
25, 18; ruwerin Büsserin (Maria
Magdaletui) 26, 22. 36, 19.
riiwig ruhig 51, 14 L.
»ache Ursache 20, 15. 21, 9; mit s. sin
wellent 12, 14: einem 8. geben zu
38, 10: »achen zu verursachen 18, 31.
20, 15 L. 22, 12 L.
sage Aussage 21, 30.
salbe 19, 8.
sam(m)enunge (Yar. samlnnge) geist-
licher Verein, Konvent 42, 31. 50, 30.
51,7.
schadeber schädlich 36, 28. 40, 10. 41,
23. 48. 25 L.
schalkeht (Var. schalckhaftig) boshaft,
hinterlistig 26, 17.
schammeröte 43, 25.
schapperon (franz. chaperon) Scapu-
lier 39, 27.
schedelich 4^ 13, 28. 28, 1. 40, 10 L.
48, 25 L ; schedeliehe Ade.
27^19.
schetzen dafürhalten 18, 18. ll>, 16. 22,
23. 30, 17. ;« >. 31,18. 33, 3. «6, ! ». 4( ), 2 1 ■
schilhende blinde iu den kutteu wegen
ihres versteckten und ungeraden
^Vesens so genannt 8, 10.
schimpf: in sch. —in ernst 42, 36.
schiu äufserer Schein 19, 19. 39, 8.
44,8; in alleme ußewendigeme schine
äu/'seres Gebaren 13, 26 f.; geistlicher
sch. 42,9.11; in g. sch. 14,28. 26,29.
33, 4. 36, 10. 40, 12.
schirm Schutz 7, 10 L. 11, 4; schirmer
Fechter 44, 29 ; schirmslac Fechter-
streich 44, 30.
Schocher Schächer (am Kreuz) 18, 7.
schonen Rücksicht nehmen 43, 14.
76
Philipp Strauch
schuhen vor etwas Scheu haben 26, 31.
schuler 40.6; schulerin 35, 4. 17; Schul-
meister 30,18. 45, 17 L.
schürebraut einer der das Feuer schürt,
anfacht 4, 30; Titel des Traktats 3, 2.
4,12. 51,29.
schüren scheuern, reinigen 49,5.
schüßeln weichen 49,5.
schütze 44, 27.
schützig {Var. schützlich) ergiebig,
ersprief stich, vorteilhaft (Schmidt,
Rist. Wb. dcreltäss. Mundart 317*;
Deutsches Wörterbuch 9,2136).
seckel Geldbeutel 7, 27. 37, 10. 24. 38,
L 15.
seitenspiel 15, 14.
«enen verlange n 47, 4 ; subst. Inf. 18,14;
Neutr. 14, 22. 19, 12. 29, 15 ; Beulich
29,3; senlichait 29, 11 L; senunge
19, 25.
Benftmütig 51,12; senftrautecliche 19,
36; senftmütigkait 45, 1 L.
Bichel (bildlich) 34, 12.
sicher Adv. sicher, gewifs 22, 26.
siechtage Siechtum 21,3.4.
siglos machen 7, 10 L.
sin : Conjunktiv sige 10, 28. 12, 6. 14,
11 usw.
sinnelich (im Gegensatz zu geistig)
33, 8. 36, 12. 39, 16 L. 45, 24.
sittig ruhig, bescheiden 44, 10.
sraal gering, cn^. sraalconciencie 41,4.
smeicheleht schmeichlerisch 5, 29.
smertzen 28, 9.
snitter 34, 22. 28. 35, 1 ; snitterjon 34,
16, 23 s. jon.
snode (schnöde 30.27L.) verächtlich,
ärmlich 39, 15. 44, 7.
sorglich gefährlich 19, 17. 22. 27, 28.
36,28. 37,7. 40, 10.21; sorgsam 48,
25 L; sorgveltekeit sorgende Ge-
schäßigkeit 10,2; mit — sorgvel-
tigem (durch sorgende Geschäftig-
keit und Unruhe hervorgerufenen)
kumher 33, 19.
sparen: lüste sp. (irdische) Freuden
aufsparen, auf sie verzichten 47, 2.
51, 5.
spiser (Christus) 51,18L.
stat Zustand 7,5; Stand, Würde 41, 6 L.
stege Stiege 39, 12.
Steiger, die 39, 20.
stellen nach trachten, streben 38, 26 L.
sterben oder genesen 49, 15.
stille sin 44,10; stille des gemutes
35, 28.
ston : vor allen stonden gebresten be-
stehenden? dauernden? 41,27.
straffung stroffunge Tadel, Strafe 21,2.
45, 16 L.
strangheit Strenge : des ordens 8, 28.
13,4. 37,15.
stric : stricke der weite 3,4 ; des Teufels
27, 29.
Studentin Schülerin 45,20 L; studieren
35, 30. 45, 1 L.
sturmwütig stürmisch 46, 14.
sumen aufhalten 54, 1 ; die sich des
oleyes gesumet hettent sich nicht
darum gekümmert hatten 31,5.
sunderheit Besonderheit 7, '25 f. 25,9.
37, 6.7. 41, 25 f.; in s. 40, 13. 17;
sunderlich besonder 53,29; sunder-
liche Adv. 35, 10.
sunerin Versöhnerin (Maria) 26, 19.
sure 14,13. 24,13. 44,23; s. — süße
49, 14. 50, 28.
surheilig mit finsterer Miene fromm,
scheinheilig 14,4 (Schmidt, Hist.
Wb. der elsäss. Mundart 349»>).
Suse 50, 14.
swappelmetze Schwätzerin 27, 3
{Schmidt a. a. 0. 317" und Deutsches
Wörterbuch 9, 2279).
swelme Dunst, Nebel 35,25.
swermutig 17, 16. 22. 18, 14. 19, 12
usw.; swermütikeit 4, 5 f. 17,6.14.
18, 2. 13. 26 usw. usw.
swingen : die helme vom Waizen 53, 14.
Tauweier (Var. Tabler, tallor) 50, 14.
teilhaftig 23,33. 42,14. 51,21.
telbcn graben : Part, getolben 34, 33.
tistelc Distel 50, 18.
töden der naturen 13, 5.
tönen 48, 22.
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Schürebrand.
77
toren = tarn schädigen : substantiviert
17, 3 L.
torwarte 48, 24 L.
trabte Gericht 8^6^ 9, 11. 25, 6.
51,15 L.
trege 23, 13. 27, IG. 47. 20.
trengen bedrängen 52, 10. S. t nicken,
troschen dreschen 53, 14.
tröster 43, 8.
trouwen subst. Inf. Drohen 5, 33.
truc, trug 5, 22. 47,21). 52, 11.25; Plur.
trücke 47, 23. 53. 4 ; trug und ge-
trenge 4,9. G, 15. 10,23. 19, 18.
22, 15. 2t», 14.30,12.34,24. 03.26.
trncken : getnicket und getrenget 19,
31. 32, 25 f. 33, IG f.
trunkenbolt 49, 22.
trutine Geliebte, Gattin : (gottes) tr.
24, 29 L. 37, 18 L.
truwe : in gantzen truwen 41, 25.
tön und losseu 20, 19; in tunde und
in lossende 20,14. 28,8. 46, 2 f.
türeredig sparsam mit dem Beden
26^30.
tusentlistig (Teufel) 7, 10 L. 12, 1;
tnscntvaltig 17, 2.
tütsch: tütsche bücher 45, 1 L.
tyranne 5,34. 20, 6.
Abele sehr 47, 21; übele oder wol 44, 5.
übergeben dahingehen 14, 20.
übergon über sich ergehen lassen
43, 22.
überkiben durch Keifen, Schreien über-
treffen 11,21.
tiberloufen durch Besuch belästigen
16,27.
übernatürlich 14, 16. 41, 17 L.
übersinnelich 47, 24; Ubersinneliche
Adv. 22, 25.
übertreffende aufserordentlich 29^ 2G f.
übertretten 39, 7; überschreiten, über-
treten 21,23. 24,4. 25,16. 47,8.
ufenthalt Stütze, Schutz 43, 1 1. 53,25;
ufenthalteu aufrecht halten, erhalten,
schützen 26, 10 f. 27, 28.
uf erheben aufrichten, erheben 22, 16.
uf geben aufgeben, fahren lassen 9, 32.
32,18. 35,32. 41,15; subst. Inf.
^la
uf impfen aufpfropfen 36, 21.
uf lossen übergeben 23, 2.
uf nemen 29.31 L. 50,5. 52,28.
ufopfern subst. Inf. 20, 18.
uf rihten : mit uf gerihteter (auf-
richtiger) begirdc 15, 18.
ufsatz J'lur. ufsetze Vorhaben, Plan
16, 2. 29, 22. 33, 12.
ufsehen Xeutr. Aufmerksamkeit, Be-
achten 14, 26. 39, 26.
uffal Schickung. Zufall 42, 25.
uf zwi^en aufpfropfen 36, 21 L.
unahtber unansehnlich 36,2t. 49,6;
u. werden nicht darauf achten, ver-
nachlässigen 32, 15.
unahtsani unaufmerksam, nicht Acht
gebend 6, 32. 47, 20; unahtsamkeit
48, 28; nnahtsamkliche 27, 18. 32,14.
unbehangen unbeschränkt 29, 21 L.
unbekümbert unbedrängt, sorglos 29, 7.
unbetrogenlitke offenbar 18, 10.
undancknemekait Undankbarkeit 20,
2.L.
underganc Unterwerfung, Unterord-
nung 43, 25. 51, 5 L.
underlos, on assidue 48, 16. 21.
nnderscheit Belehrung, Unterweisung
4, 28. 20, 25. 25, 10. 40, 25. 46, 2.
under werfen abschütteln 53, 6; da-
gegen sich underwerfen 53, 6 L.
under wilen, underwilent bisweilen
4,31. 17,7.
underwinden, sich sich unter zielten 45,
15 f.
underworffen unterwürfig, demütig
49, 4; underwürfeuliche 14, 8.
underziehen entziehen 7, 6. 16, 4. 17,
8^ 36, 30 L; underzuc Entziehung,
Verlust 42, 25.
unere Kränkung 32, 25; unerlich un-
würdig 17, 16. 41, 1 L.
unerlebet unerfahren, unerprobt 41, 1.
unerschöpflich 46, 6.
ungebögig unbeweglich, schwerfällig
45, 1 L.
ungehüre schrecklich 26, 17.
78
Philipp Strauch
nngelassenheit ungelossenheit Thiduld-
samkeit , Ungeduld 11,22 L. 46,15;
ungelosaen unduldsam 12, 18 L. 17, 17.
uugelicheit 50, 31.
ungeinesse nicht passend, nicht ge-
ziemend 17, 16.
uugemeßen unermesslich 42, 22.
nngeneme abstofsend, unlieb, unan-
genehm 20, 15. 37,26.
nngeordent 11,21. 17, U. 19,1.4. 14 f.
25. 20, 13. 21,21. 21), 4. 37, 18.
ungerocheu 31, 16 L.
ungeruwig unruhig 10, 17. 33, 20 L.
22. 46, 19.
ungestalt verunstaltet 44, 25.
ungestüme 22, 12 L.
ungetrüweliche 38, 15.
ungevell : un (an) alles u. 6, 4 L.
formelhaft: ohn Unterlaß; un-
gefellich unhei, mts fallend 20, 14. '
ungewittere 31, 26.
ungünstig übeltcollcnd, mißgünstig
12^18,
unkriBten unchristlich 11, 23.
nnkrut (bildlich) 8,25. 12,5.
unlidikeit Beschäftigung, Geschäftig-
keit 16, 30.
unlustig u»i«/i^e?itÄm 17, 12 L.
unlUstlich Widerwillen erregend, un-
angenehm 19, 30.
unluterkeit Uvkeuschheit 40, 18.
unmerglioh unklar 35, 25.
unmittelich unmittelbar, direkt 44, 28.
unmüsse Unruhe 33, 22.
unredelich unverständig, ungebütiieh
13, 6.
unschmackend : gebet fade 17, 12 L.
Unsere frouwen zelle Kloster 40, 4 f.
unsicher ungewiss 40, 1 1 ; schwankend
41,4; Unsicherheit 48, 25.
unsmeglich : gehet fade 17, 12.
uustetekeit Unbeständigkeit 3^]^
19, 20.
untrost Mutlosigkeit 20, 9.
unsprecbenlicbe unsagbar 22, 25.
unusspreckenlich nicht zu sagen 4, 10 L.
unverdrossenlich unvenirowen 14, 8 L.
unverentwnrtet tt»6ca?i:itor/f/ 43, 22.
nnvermogenheit Unvermögen, Nichtig-
keit 21^28.
unverraosiget unbefleckt 42, 1. 48,25 L.
unverschuldet 21, 8.
unfridelich 12, 5. 19, 20.
unfruhther 10, 16. 13, 28. 23, 8. 9. 34^
18; unfruhtherliche 32,6.
unfürsichtig unvorhergesehen 21, 22 L.
unwert Adj. wertlos, verächtlich 37,25;
Subst. Geringschätzung 5, 31; un-
wertlich geringschätzig, gering-
wertig 31, 18. 49, 5.
unwirig unbeständig, nicht dauerluift
36.14.
unwnrsch unwirsch, unwillig 17, 17.
32, 23.
üppig leer, eitel 19, 14.
urdrutz Misbehagen, Verdrufs 21, 5 ;
urdrützig überdrüssig, unlustig 16,
11. 17, 13. 32, 17. 42, 34.
urlop Abschied: der weite — einen
frien u. geben 7, 17.
Ursache Ursache, Anlafs 28, 2. 35, 13.
43, 6.
Ursprung 27, 22.
urstende Auferstehung 36, 18.
urteil (hartes) Urteil 21,5. 27,5.
usbrechung Ausbruch 19, 35 L.
usbruch Flur, usbrüche 19, 35. 22, 12 L.
ussan, ussen: von u. 12, 4. 35, 24. 42,
11. 43,27. 45,8. 25. 46,4- 5. 11. 8.
auch innan.
usser Präp. aus 20, 16. 25,30. 26,26.
41,4.
usserlich 16, 12.
ussewendig äufserlich 13, 26. 16, 4.
21, 18. 25, 2. 27, 2. 6. 31,5. 36, 5.
43, 29. "
uzgaug Heraustreten, Aufgeben 23, 30.
uzgcnomenlich ganz besonders 8, 19.
uz liden 22,4. 53,31.
uzqual st. Masc. Hervorquellen 45, 26.
uz rihten besorgen 27, 4.
uzsagen subst. Inf. Aussage 46, 17.
uz sliezen 42, 3.
uzslohen: die zene 36, 2.
uz sweren (bildlich) heraus schwären
19, 5.
Schflrebrand.
79
uz triben 27, 10.
uzwirglich nach aufsen strebend,
äufserlich? 16,30.
vaterlant (das himmlische) 33, 2 L.
vegefür 8, 12. 33, 20- 37, 10.
vehten kämpfen, sich abmühen 33, 6 ;
subst. Inf. 10, 17.
veralten zu alt werden 45, 1 L.
verantwurten verentwurten beant-
worten 43J22L; rechtfertigen 9, 34 ff.
verbilden verunstalten, entstellen 38, 1 ;
herze v. 27,9. 46,19 (vgl nhd
Herzensbildung); verbildnnge Ver-
unstaltung, Entstellung, Trübung
15, 31 L. 23,11. 28, I L. 35, 13. 46,
16. 48, 25 L.
verbinden verbinden, verpflichten 16,32.
23,26. 36, 25 f.; sich v. 10, 20. 30^ I
2£LÜ2.
verblenden 11, 24. 33,5. 36,11. 44,8;
eine verblendete affenheit 10, 14 ;
verblendete widerparten 12, 15.
verbliben: eine verblibene nnnue 27, 10
zurückgeblieben, von Gott tierlassen?
verborgenliche heimlich 10, 26.
verbünnen misgönnen, einem etwas
nicht wünschen 8, 27. 13, 27 f.
verdienlich ersprießlich, würdig 3, 25.
5,25. 7, 10 L. 12, 23. 17, 24. 18, 26-
25, 17. 30. 24. 37, 19. 43,20; ver-
dienlichait ( Var. wirdikeit) 15, 10 L.
verdriessen 10,6. 47,18.21 ; subst. Inf.
Verdrufs 21, 19. 30. 12. 32, 13L; ver- I
driez (Var. verdrossenhait) Über- |
drufs, Unwille 21, 5.
verdümnisse Vcrdamnis 20, 15.
verdunsteren verfinstern 46, 18 L.
vereinberen vereinigen 12,20. 30,2. j
vergift Gift 19, 17; vergiftig 8, 25.
verhengnis.se Gnade 33, 32.
verhertet verstockt 11, 23 L.
verhonen verhunzen, verderben 12, 2.
±L2L
verirren irre führen 16, 9. 21, 21.
verjagen vertreiben 27, 10.
verkert verkehrt, schlecht 11, 23.
verkiesen, Part, verkosen, nicht be-
achten, übersehen, aufgeben 31,17.21.
verlieren (nihil Verliesen) 11,26. 13,5.
27, 9. 19 f. 41,5. 44,26.
verlüucken subst. Inf. Verleugnen 9, 31.
verlümundet in gutem Rufe stehend,
berühmt 13,24.
vermalediet verflucht 38, 2.
venuanen ermahnen 4,2.11. 16,6. 45,8.
48, 4 L. 49,8; verraanunge 24, 32.
vermessen, sich sich kühn zu etwas
entschliefsen 39, 14 ; Part Adj. kühn,
tapfer 17, 20; verraessenheit Ent-
schlossenheit, Kühnheit, Mut 5, 2.
7, 10 L. 13,2. 21,23. 30,1. 33,1. 47,
8 f. 48, 25 L. 50, 26.
vermitteln hindernd zwischen etwas
treten 46, 18.
vermögen subst. Inf. Vermögen,
Können 47, 28; «f. Neutr. Kraft,
Fähigkeit 7, 10 L.
vermüschen 19,18. 34, 18.
vernichten für nichts achten, herab-
setzen 31, 16 L.
Vernunft : über all sinnlich v. 22, 25 L. ;
vernunftenklich 32, 7 L ; vernünftig
46, 8.
verrihten verurteilen 10,6. 42,35.
verrucht verwerflich 7, 10.
verruinet berühmt 13, 24.
versagen 28, 33.
versamelt gesammelt : ein v. gemüte
23^15.
versehen 9, 3. 38, 20 ; sich v. rechnen
auf, gewärtig sein 8, 29. 26, 15.
versmehte Fein. Beschimpfung , Ver-
achtung 22, 20 ; versmohen 35, 32.
53, G : subst. Inf. 39,3; Part, die ver-
smehteu 49, 18 ; versmoherin der weite
14, 18. 32, 2S.
verspiweu, H_Plur. Praet. verspnwetent,
anspeien, verschmähen, verachten
5, 27 f. 20, 0.
versprechen absagen, aufgeben 3, 15;
ablehnen 5, 28.
verspützen (mhd. spiuzen) verspeien,
bespeien 20, 6.
verstelen stehlen, wegnehmen 29, 18. 48,
25 L ; sich v. sich wegstehlen 15, 29.
80
Philipp Strauch
verstricken bestricken 11, 25; ver-
pflichten 36, 26.
verswenden hingeben 25, 33 ; beseitigen \
47, 9.
vertören betören 32, 1 L.
vertragen nachsehen, Geduld haben
vertrösten, sich 31, 24 L,
vertruwen antrauen 3, 19. 22, 19. 23, 1.
34, 19. 43, 33 L.
vertuuckelen 4G, 18.
verfallen : mit einem wihe 40, IG.
verfeien verfehlen : streiche v. 44, 29.
verflechten, sich sich verstricken 33, 14.
verdecken beflecken 8, 24; die flamme
(bildlich) ist verflecket hübe ge-
worden 50, 24.
verflissen beflissen 12, 1 f.
Verfolgung 31. 24 L.
verwegen 35, 31 f. ; verwegeuliehe mutig i
3,15. 18,31.
verwesen vertreten 15,7; verschen, ent-
schädigen 17, 2.
verwirren, sich 33, 14.
verworfen geringwertig, armselig 39,9.
49, 6_ L ; Verworfenheit Gering-
seh Atzung 39, 7 ; verworf enlich herab-
setzend, demütigend 39, 15.
verzagen subst. Inf. 5, 32, IS, 3; 8t.
Neutr. 45, 10 L.
verric (Var. verzüchung) Verzicht
25, 3.
verzihen verzeihen 1 8, 5 f. 25, 29; ver-
weigern, versagen 28, 33; sich v.
verzichten auf, aufgeben 7, 18. 13, 1.
17, 1- 41, 15 ; st. Xeutr. Absagen
8,20.
veste Festung (bildlich) 48, 25 L.
figure Bild. Gleichnis 52, 18.
flücht«al Flucht 32, 29 L.
volleherten ausdauern, ausharren 4, 34.
2A3,
vollekummeuheit 48, 20.
vor gen vorausgehen, den Weg ebnen?
43, 19.
vor gesin schützen 22, 7.
vorhte der hellen 48, 24. 49,9; vürhtlich
furchtbar 48, 7,
forme Vorbild, Muster 3, 22.
vortragen vorführen, zeigen 51, 13.
8 Franciscus 4,20. 7,22. 11,1. 88,17.
39, 1. 51, 25.
frevenliche mutwillig 25, 28.
fride und früude 10, 25. 12,21. 27,23.
29,27. 35,22; vgl. 33, 18 L; fridelich
43,31; frideliche Adv. 14, 3. 25, 9.
42,35: fridesam 20,10L. 29,7. 43, 8 f.
frilich(e) aus freien Stücken 22, 12.
24. 13. 35,32; fr. und froliche 3, 16;
ohne weiteres 41, 7.
fro und frolich 18, 34 f.; frölich und
fro 28, 12. 29, 13. 32 f.
fröudendautz 43, 32.
fröudenrich 17, 26. 22, 14. 17. 25, 3.
20, 16. 47,6.24. 49, 13 L. 19.
fruht 4, 10. G, 4. 28, 5. 30. 30, 29. 31, 10.
32. 14. 34. 7. 13 usw.; fruhtber 19.
7.11. 21, 15. 24,32. 25, 17. 27, 19.
34. 15. 36. 23. 51. 15; fr. und nütze
9,18. 19,32. 45,22. 46, 30 f. 51,11;
fruhtberkeit 33, 27; fruhtberliche
15.9. 20, 10 L. 50, 28 f. 53,31.
fmranien helfen, nützen 27, 9.
füllerich Fresser 49, 22.
fundieren gründen, stiften 7, 24. 15,
14. IG, 33. 27, 1.
fuoz : under uwere füsse trettent 2^
18f.
vürgon vorübergehen, vorbeigehen
43, 21.
vlir heben vorhalten 18, 2.
vürkomen vorwärts kommen 42, 22 f.
vürkomen, fürkummen zuvorkommen
39, 7; verhüten 8, 14 ; vorsorgend
behüten 27, 28; fürkummenheit vor-
sorgliche Bewahrung 35, 12.
vüreatz Vorsatz, Absicht 3, G.
furseheu vorher ausersehen 26, 26 L.
vürsihtig einsichtig, verständig 13, 2.
31,22 L. 34, 20. 35,21 L; vürsihti-
keit 33. 3; v. gottes göttliche Vor-
sehung 53, 10.
fürwurf Gegenstand 7, 10 L.
wackerheit : mit w. der sinne sensu
Semper vigilantissimo 48. 14.
Schürebrand.
81
wandel Lebenswandel 23, 13.
warnunge 40, 10. 41, 17 L.
warten warten auf, erwarten 13, 19. I
31.24 L; dienen 15, 22. 33, 29.
wartespiel Schauspiel ? 32, 11.
we oder wol 49, 14.
wehsseln einen "Wechsel, Tausch vor-
nehmen 14, 19.
weichertzikeit krankhafte Weichheit,
krankhaftes Hingeben 29. 9.
weisse Waizen 53, 12.
wel welcher 33, 26. 28.
werben streben 33, 11.
werden: 2. Sing, l'räs. wnrst 52. 1 1 ; i
'S^Sing. wurt 4, 33. 5,25. 8,13. 10, 1
18. 14,13. 17,29. IS, 2. 20, 24 usw.
twir. , vgl. wurf 52, 22 ; verwurreut
33, 14; unwursch (s. o.) ; wurtschaft
(s «.) ; wnste 40, 25.
wergmeister (Christus) 29, 21.
weachen waschen 49, 5.
wesenlieb dauerhaft, sicher 44, 14.
45, 18.
westerbar Täufling 17,21.
wideme Morgengabe, Hochzeitsge-
schenk 23,2. 6. 24,9; widem(e)brief
22, 28. 23, 20. 24^ lOi widengabe
24, 9 L.
wider bilden widerbilden ein Ebenbild
von etwas darstellen 53, 17-20.
widerdries Verdntfs, .•'l'rgcr21,7.31,2fif.
widerparte Gegenpartei 12, 11. 15;
Zwiespalt 12, 5.
widerpartie Gegenpartei 43, 2 L.
widerroteu abraten 41, 20.
widersache Fem. Feindschaß, J'lur.
Intriguen 11, 5.
widerslaben ins Gegenteil umschlagen,
verwandeln 19, 23.
widersnallen ynit heftigen Worten ent-
gegnen: st. Neutr. one alles w.
43, 20.
widerspenig widerspenstig 20, 1 .
widerwertig 21, 13. 28, 6 L. 31.24L.
32,12. 42,25. 43,22. 4<j, 14. 47,35.
51. 4 f.; widerwertikeit 3, 17. 4, 9.
15^ 10, 16. 18, 33. 21,11 L. 34, 24 f.
43, 9 f. 47, 29. 50, 29.
widerzeme widerwärtig, unangenehm,
unlieb 19, 29. 20, 5 L. 15_L. 32, 20.
wile, die derweil 40, 5.
wile Nonnenschleier S, 11. 42, 9.
willenbrecheu subst. Inf. 28, ti. 34, 10.
51, 5 f.; st. Neutr. 13, 4 f. 31, 24L.
willenklich freiwillig 36, 30 L.; willig
eifrig 22, 19.
wiltvang tri Wer Schöfsling 36, 21.
wilunge Verschleierung bei der Ein-
kleidung einer Nonne 49, 30.
winckel 15, 30.
Wintertnr 39, 19.
wisele Wiesel 52, 13.
wisliehe 53, 31.
witsweifng mit den Augen umher-
schweifend, unachtsam , oberfläch-
lich 7, 2; witsweiffikeit Umher-
schweifen 23, 15- 46,21.
\yogentcagen,aufs Spiel setzen 31 , 10.25.
wolgeraüt 17,31. 43.31.
wolgetru wende 13, 21.
wollust Genufs, Wolleben 49, 20.25;
w. des libes 33, 6.
worhafteeliche 18, 10.
w ücbern Frucht bringen 30, 7.
wurtschaft Hochzeit , Fest 6,31. 31,4.
49^19.
wurtzeln Wurzel fassen 40, 29 L.
wuterieb 5,34. 20,6.
aale: in ire zale kumment 23, 34.
zancken 13, 7.
Zartheit Weichlichkeit 29, 3.
zeffelunge Zanken, Streiten 31, 17
(vgl. schwäb. zefern, Schneller 2^
1087).
zerbieget aufgeblasen 17, 17. 32, 24.
zerqwirsehen ( l'flr.zerquitzschen) zer-
quetschen 36, 3.
zerslachen 36, 2 L.
Zerstörer (Christus) 34, 5.
zerfliesseu 28, '.12.
zerzerren zerreifsen 36, 3.
zil 42.21. 44,28; gesast zil 33, 13;
zilen streben 47, 5.
zisterne: fule z. 45,25; zisternewaaser
46, 16.
Philipp Strand]
zit : in zit und (noch) in ewikeit 18,11.
25. 26, 17 f. 35. 23: zit Mose. 32, 33;
zitlich 14,23. 17, 3 L. 32, 1 L. 33,(5.
6*. rttic/t gefeile,
zornmütig 5, 33 f. 11,22. 19,34. 22,
12 L.
zuhtmeister Erzieher 48, 24. 4!». 8.
züker Einkehr 11, 9. 17, 12. 30, 22. 2«.
35, 7. 15. 38, 21 ; zu keren : mit zu
gekürtem hertzen attento co nie 48, 13.
zu komen zum Ziel kommen: des man
otieh vil neher zu keine wodurch
man auch besser fahren würde 37, 3 f.
zükunft Ankunft 13, 18.
, SYhürehrand.
ziival Begebenheit, Ding: weltlicher z.
7, 17 ; Unsicherheit züvalles und anc-
hanges 27, 31 ; sorgliche ziivelle 4,3;
ziivelle von ussen 44,11: tegeliche
z. Einnahme, Eingang 25, 4 ; zü-
vallen 21,26. 44,11. 52,23.25.53,
4.12; züvfillende zufällig, improvi-
siert 15, 24 ; zuvellig zufallend 28, 4.
züversiht der ewigen fröuden, des
ewigen riches 48, 24 f. 49, 10.
zulluht 52, 12.
zweigunge Spaltung 12,5.
zwifel: sunder zw. 18,11. 20,24. 21,
17: snnder allen zw. 30,8.
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Der junge Herder und Winckelinann.
Von
Arnold E. Berger.
6*
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"TTT" lc ^ manns Erstlingsschrift 'Gedanken über die Nach-
T t ahmung der griechischen Werke' 1 ) enthält seine ganze
Lebensleistung im Keime. Mit einer erstaunlichen Sicherheit
ist hier bereits der Weg eingeschlagen, auf dem er nur ruhig
fortzuschreiten brauchte, um all die goldenen Früchte ein-
zusammeln, die er zwölf arbeitsvolle Jahre hindurch in silbernen
Schalen darbot.
Am Eingang des Werkchens steht der Satz: 'Der einzige
Weg für uns, grofs, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu
werden, ist die Nachahmung der Alten'. Mit einer kurzen
Wendung wird dann die römische Kunst bei Seite geschoben,
man erwartet ein glänzendes Bild der griechischen, aber statt
eines farbenreichen Gemäldes erscheint eine ruhige historische
Betrachtung, welche die Blüte der griechischen Kunst aus
den auf das glücklichste zusammentreffenden Bedingungen des
griechischen Nationallebens erklärt und damit die an den Anfang
gestellte Forderung der Griechennachahmung eigentlich wieder
aufhebt. Über diese Entzweiung des historischen Sinnes mit
sich selbst ist Winckelmann nie hinausgekommen; er erkannte
sehr wohl, dafs wir Neueren unter ganz abweichenden örtlichen
und kulturellen Bedingungen aufgewachsen sind, dafs 'die Er-
ziehung der Alten der unsrigen sehr entgegen gesetzet' ist
(Versuch einer Allegorie, Werke*) 2, 158), dennoch beharrte er
streng auf seiner Forderung: allerdings gibt es in der Kunst
*) Neudruck der ersten Ausgabe von 1755 in den ' Deutschen Litteratur-
denkmalen des 18. und 19. Jahrhunderts ' Nr. 20 (1885).
*) Ich citierc nach der Gesamtausgabc der Winckclraannschen Werke,
die von C. L. Fernow begonnen, von Heinrich Meyer und Johann Schulze fort-
gesetzt, in 8 Bänden (Dresden 1808—20) erschienen und von Friedrich Förster
durch 3 Nachtragsbande (Berlin 1824—25) abgeschlossen worden ist. Ich be-
zeichne diese Ausgabe im folgenden mit WW.
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86
Arnold E. Berger
überhaupt zwei Wege, die Nachahmung der Natur und die Nach-
ahmung der Griechen; der zweite Weg aber ist der kürzere, und
erst die griechische Kegel kann uns zur Nachahmung der Natur
zurückführen.
Winckelmann predigt diese Sätze 'mit der Feinheit eines
Griechen und mit der gedrungnen Kürze eines Künstlers. Es
sind nur hingeworfene Gedanken, leicht, und wie im Fluge
gestreuet; aber sie leben und sind voll Lieblichkeit und tiefer
umfassender Wahrheit' (HW 1 ) 8, 451). Was hier in leichtem
Umrifs entworfen war, erweiterte sich in der 'Geschichte der
Kunst des Altertums' (17G4) zu einem Geschichtsgemälde von
epochegründender Kraft. Die ungeheure Bedeutung dieses Werkes
für unsere Bildungsgeschichte ist unbestritten, in ihrem vollen
Umfang aber noch bei weitem nicht wissenschaftlich erkannt
Die biographische und kunstwissenschaftliche Seite der Aufgabe
hat mustergültige Bearbeitung erfahren, ihre im weiteren Sinne
bildungsgeschichtliche Seite dagegen ist bisher nur vereinzelt
und von begrenzten Anschauungsweisen her untersucht worden.
Eine umfassende Arbeit, die Winckelnianns Bedeutung für Genie-
zeit, Klassizismus und Romantik darlegen will, ist von mir
bereits 1889 begonnen und grofsenteils ausgeführt worden; ich
hoffe, sie in wenigen Jahren abgeschlossen vorlegen zu können.
Als eine vorläufige, sehr bescheidene Probe mögen diese Blätter
hinausgehen, die von dem Gedankenaufbau nichts verraten, viel-
mehr nur eine Sammlung von Lesefrüchten bieten wollen, um
Herders Abhängigkeit von Winckelmann in ein schärferes Licht
zu rücken.
Zu keinem Genius hat der junge Herder mit gröf serer Be-
wunderung aufgeschaut, als zu dem 'nordischen Griechen'. Das
rastlose Bedürfnis des Kritisierens, Tadeins und Bessermachens,
dem er sonst gern, bisweilen in verletzender Schärfe fröhnte, 2 )
ging hier in dem Gefühl tiefwurzelnder Verehrung beinahe völlig
unter. Konnte doch Herder dasselbe und mehr von Winckelmann
bekennen, was Lessing von Diderot sagte (Lachmann -Muncker
8. 288): dafs er ihm einen grofsen Teil seiner Bildung schulde;
>) Mit dieser Abkürzung ist Saphans Herderausgabe bezeichnet, nach
der alle Citate gegeben sind.
2 ) Vgl. hierzu den sehr bezeichnenden Brief Mendelssohns an Herder
vom September 1781 (Aus Herders Nachlaß II, 226).
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Der jtmge Herder und Winckelmann.
87
denn neben Kant und Hamann war Winckelmann der mächtigste
Lehrer seiner Jugend. Eine innige Verwandtschaft der Naturen
zeigte sich wirksam: beide waren Sühne des gestaltlosen Nordens,
beide mit der Gabe der inneren Anschauung verschwenderisch
ausgestattet; beide aus einer glücklichen Mischung sehlesischen
und norddeutschen Blutes geboren, in kleinen Verhältnissen auf-
gewachsen, von geistiger Abhängigkeit und Pedantentum beengt,
dennoch von ungebeugtem Selbstgefühl, hohen Zielen und voll
Sehnsucht nach B irkungen auf die Menschheit. Bei beiden jene
Folgerichtigkeit der Entwicklung, deren Keime schon in der
Erstlingsschrift beinahe vollzählig enthalten sind, bei beiden der
angeborene Gesehichtsbliek, die geniale Intuition, die einer weit-
spannenden Belesenheit zur Seite steht, bei beiden die Verachtung
von 'System und Kegelkram \ eine wunderbare Gabe des An-
eignens, Nachlebens und Charakterisierens und die stets fest-
gehaltene Beziehung zwischen Kunst und Seelenleben. Erst bei
dem Auftreten Herders hatte Winckelmann die Empfindung, dafs
er auch in Deutschland verstanden werde. Er liefs im Januar
1708 durch seine Schweizer Freunde dem 'Pindarischen Scribenten',
der die 'sogenannten Fragmente über die neue deutsche Lite-
ratur' verfafste. seine -Erkenntlichkeit bezeugen' (WW 11,283.
285). Herder meldete seinem Freunde Hamann nicht ohne Stolz:
'Winckelmann hat mir seine Achtung bezeigen lassen' (Herders
Briefe an Hamann, hrsg. v. 0. Hoffmann, 1889. S. 45. 138), im
ersten kritischen Wäldchen vergafs er nicht anzumerken, dafs
er 'das Glück hatte, von Winckelmann einen ermunternden
Blick des Beifalls zu erhalten' (HW 3, 187), und noch 1780
gedachte er jenes schmeichelhaften Wortes (Aus dem Herderschen
Hause, 1881, S. 57).
Die Ausgabe der Winckelmannschen Schriften traf bei
Herder 'auf einen schönen und freien Zeitraum' seines Lebens.
Er las sie 'mit der jugendlichen Empfindung eines heitern
Morgens, wie den Brief einer Braut von fernher, aus einer ver-
lebten glücklichen Zeit, aus einem glücklichen Himmelsstriche'
(HW 8, 441). Herder hat nicht viel geschrieben, was sich mit
seiner Lobschrift auf Winckelmann (1778) in dem warmen
Zauber ihrer jugendlichen Herzensberedsamkeit vergleichen liefse.
Mit wie grofsem Sinne weifs er die Erscheinung des Mannes zu
fassen, mit wie freiem, kühnen Griff sein Werk auf eine Höhe
zu stellen, zu der die Nörgelstimme der Kritik nicht mehr hinauf-
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88
Arnold E. Berger
reicht! An jedem Satze dieser Schrift hat die Liebe gearbeitet,
und wo ihn seine Aufgabe nötigt zu zeigen, ' was nach Winckel-
mann noch zu tun sei', da streut er seine Anmerkungen, so
gewichtige Einwände sie enthalten, doch nur bescheiden hin wie
ein freundliches Blumenopfer, 'voll Dank und Liebe für die
schönen Stunden und süfsen Träume und Bilder', die ihm seine
Schriften geschenkt hatten (H\V 8, 482). In der wenige Jahre
später erschienenen Würdigung Winckelmanns sind selbst diese
kritischen Einwände unterblieben, und der Ton andächtiger Ver-
ehrung erklingt in völliger Reinheit (HW 15, 30 ff., vgl. 2, 371 f.);
ein Nachhall von ihm, der letzte, schwingt noch im 11. Stück
der Adrastea von 1803 (HW 24, 342 ff.).
Herder bekannte. Winckelmanns Hauptwerk siebenmal ge-
lesen zu haben (HW 3, 187), 'genauestes Excerpieren' (2,386)
gab ihm 'Gedanken in die Seele, die später als Anmerkungen
aufs Papier flössen und sich vermehrten' durch die Kenntnis
von Kunstwerken und andern Schriften (8, 440 f.). Kein Wunder,
dafs seine Jugendarbeiten von Nachklängen Winckelmanns erfüllt
sind. Auch dichterisch hat er den Manen seines grofsen 'Lands-
mannes' gehuldigt in einem pathetischen Lobgesang, den er
später noch zweimal umzuformen suchte (HW 29, 296 ff.). Das
Bild Winckelmanns hing unter wenigen verehrten im Arbeits-
stübchen des Jünglings (Lebensbild 2. 257) wie des Mannes (Aus
dem Herderschen Hause S. 36). Seine Briefe sprechen den ge-
liebten Namen nicht anders als mit Ehrfurcht aus, seine ge-
druckten Arbeiten selten ohne Kührung und Dankbarkeit. 'Ein
grofser Mann unsrer Zeit' ist er ihm. 'ja vielleicht der gröfste
in der Kenntnis der Altertümer und der antiken Schönheit'
(HW 1, 49), ' ein Markgraf deutscher Hoheit ' (3, 250). Er nennt
ihn wiederholt mit den griechischen Schriftstellern in einem
Atem. Noch 1780 empfiehlt er seinem jungen Freunde Georg
Müller, er solle 'die Griechen lesen: Xenophon, Plutarch, Winckel-
niann' (Aus dem Herderschen Hause S. 64). Er betrachtet
Winckelmann 'als einen würdigen Griechen, der aus der Asche
seines Volkes aufgelebt ist, um unser Jahrhundert zu erleuchten'
(HW 3, 186). Das ' Winckelmannsche Gebäude der Kunst-
geschichte' ist ihm 'ein griechischer Palast, an Materialien ein
Werk der Oyklopen, an Bauart und Form ein Mächtnis der
Götter, in Auszierung eine Arbeit der Grazien und Musen',
welch ein grofser ergötzender Blick, der sich au der Ordnung,
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Der junge Herder und Wlnckelmann.
R9
Harmonie und Vollkommenheit der Teile und des Ganzen weidet !
Einheit und Mannigfaltigkeit! Gröfse und Schönheit! zum An-
staunen und zur süfsen Anschauung des Schönen!' (3, 470). Er
möchte sich an dieser Geschichte \so gern ein Ideal der Ge-
schichte in jeder Wissenschaft gedenken' (2, 126); eine 'Ge-
schichte der Wissenschaft, besonders der Dichtkunst des Alter-
tums von einem zweiten Winckelmann' (4, 169) ist einer seiner
Lieblingswünsche. 'Über die Kunst und die Schönheit der
Griechen spricht er, dafs ein Proxenides das Gesetz geben
würde: von ihr soll nur Winckelmann sprechen. 1 ) In ihr ist
mir sein Name so grofs, dafs es das Ziel meiner Wunsche wäre,
über die griechische Poesie und Weisheit das mir selbst sein zu
können, was er in der griechischen Kunst für Welt und Nach-
welt geworden: denn in Erklärung derselben aus ihren Ursachen
und Gründen, in Untersuchung ihres Wesens und ihrer Zeiten
hat ihn die griechische Muse und ihre Gesellin, die göttliche
Grazie, gesalbet und begeistert, dafs viele, die seine Richter
haben sein wollen, kaum verdienten die Leser desselben zu
sein' (2, 119).
Das 'Denkmal Winckelmanns' verweilt mit besonderer
Liebe auf dessen ersten Schriften, die Herder den ersten tiefen
Eindruck der Persönlichkeit gaben. Der ' Geschichte der Kunst'
trat er bereits mit reiferem kritischen Verstände gegenüber, als
er sie Anfang 1765 kennen lernte. Das beweisen seine Worte
an Hamann im Februar d. J.: 'Den Winckelmann habe durch-
gejagt und durchgekrochen. Man kann ihn lesen als den
Künstler, den Geschichtsschreiber und den Altertumskenner; bei
dem ersten bin ich in Absicht seiner Statuen ein maulaf tischer
JiQyoz, im dritten habe ich ihn überhüpft, am zweiten aber
habe genug zu lernen und den Kopf zu schütteln gehabt'
(Hoffmann S. 9). Dies Kopf schütteln des Lernbegierigen wird
uns noch zu beschäftigen haben; sein Herz hing nicht so sehr
an diesem Hauptwerke Winckelmanns wie an seinen früheren
Arbeiten. Die Miedanken von der Nachahmung' nennt er sein
'erstes und vielleicht seelenreichstes Buch', welches unter allen
seinen Schriften 'an Salbung und blühendem Jugendgeist immer
die erste bleiben' werde (HW 8, 451). Ähnlich hatte er schon
') Vgl. dazu WW 4, 24 und die Anmerkung Suphans HW 1, 538 zu
220, 147.
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90
Arnold E. Berger
1769 von demselben Buche gerühmt, es sei 'mit der reichsten
Salbung und gleichsam in der aufwachenden Morgenröte seiner
Empfindung gebildet' (4. 89), und er hielt damit wohl ein
Lieblingswort Hamanns fest, der ihm ein Jahr zuvor geschrieben
hatte, dafs er an Winckelmanns letzten Arbeiten 'die philo-
sophische Salbung und das Mark seiner Erstlinge vermisse '.»)
Die Erkenntnis, dafs das erste Werk eines Schriftstellers in
gewissem Sinne sein bestes sei, ist Herder an Winekelinann auf-
gegangen: 2 ) 'alsdenn ist seine Seele noch Keim, der alles in sich
fafst, Duft, Blüte, Baum. Früchte. Er umfafst mehr als er hat
ahndet mehr als er weifs, schwebt aber noch in seligem Traume
und gibt sich selbst hin'. 'Zum erstenmal arbeitet er noch un-
befangen in dem Paradiese der Welt, die er sich selbst dichtet,
seine Seelenkräfte sind noch unzeiteilt, und er möchte gern, wie
die Kinder, die zu sprechen anfangen, alles auf Einmal geben,
alles auf Einmal reden.' 'Man zeige mir Eine Stelle seiner
späteren Schriften, wo sie Ideal, Geist ist, und ich will ihm in
den „Gedanken von der Nachahmung'', vorzüglich in der „Er-
läuterung" derselben den Ort zeigen, wo die Knospe oder der
Keim schon dasteht, nur in schwebender, jugendlicher Kürze und
Freude' (8, 451 f.) :t )
Herders Bekanntschaft mit diesen frühesten Schriften
Winckelmanns ist schon für 1764 nachzuweisen. Der * schöne
und freie Zeitraum' seines Lebens, in dem er sie kennen lernte,
l ) Hamanns Schriften hrsg. von Friedrich Roth, Bd. 8, 383. Nach dieser
Ausgabe ist auch weiterhin citiert.
*) Vgl. auch HW8, 209: 'Das erste unbefangene Werk eines Autors ist
meistens das beste; seine Blüte ist im Aufbruch, seine Seele noch Morgen-
röte u. s. w.'
3 ) Für den Kenner ist hier die Winckelmannsche Sprachfärbung deutlich
zu spüren, wenn auch der urkundliche Nachweis mühsam zu gewinnen ist.
Poch vergleiche man Wendungen wie diese: 'Auf dieser Jugend blühet die
Gesundheit, und die Stärke meldet sich wie die Morgenröte zu einem
schönen Tage' (WW 4, 81). 'Ein schöner Knabe, welcher wie zwischen
Schlummer und Wachen in einem entzückenden Traum halb versenkt,
die Bilder desselben zu sammeln und sich wahr zu machen
anfängt' (4, 89 f.). 'Die Freude schwebet wie eine sanfte Luft, die
kaum die Blätter rühret, auf dem Gesichte einer Leukothea' (5, '250). Bei
angespannterem Nachsuchen dürften sich noch schlagendere i'bercinstimmungen
ermitteln lassen, aber die Verwandtschaft des Sprachtenors erhellt wohl aus
diesen wenigen Beispielen schon.
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Der jnnge Herder und Winckelmann. Ol
waren seine Königsberger Lehrjahre seit dem Sommer 1762. Er
traf zusammen mit einem 'schönen Zeitpunkt der Literatur
Deutschlands', d.h. mit dem Erscheinen der 'Briefe die neueste
Literatur betreffend' (1759 — 65) und den Anfängen der Schrift-
stellerei Hamanns. Ob der Kantersche Buchladen ihm die
Bekanntschaft mit Winckelmanns Schriften vermittelt hat, ob
ihn Kant darauf hingewiesen oder erst Hamann, das wird sich
nicht mehr feststellen lassen; aber ganz deutlich ist es, dafs der
Enthusiasmus, mit dem er Winckelmann auf sich wirken läfst,
von Anfang an kein unbedingter ist, dafs er vielmehr als Kritiker
dieser Schriften unter dem Einflufs Hamanns steht.
Es lassen sich zunächst kaum zwei grölsere Gegensätze
denken, als Hamann und Winckelmann. Hier der Zauber einer
geschlossenen, willensstarken, von einem durchaus einheitlichen
Ethos durchglühten Persönlichkeit, dort das unerquickliche Schau-
spiel eines niemals fertigen, unklaren, unharmonischen Charakters.
Hier ein starkes, ruhiges Ausschreiten nach sicher erfafstem Ziel,
dort ein schlotteriges Sichgehenlassen und ein ruheloses Umher-
schweifen. Hier Würde, Gehaltenheit, Sehnsucht nach der
höchsten Schönheit, nach Einfalt, Stille und Gröfse, dort ein
resignierter Cynismus, Mangel alles Mafs- und Schönheitsgefühls,
Neigung zu krausen, bunten, verschnörkelten, ineinander ge-
packten und barock stilisierten Gedankenmassen, die hühnische
Schärfe und das faunische Spottlächeln des 'Ziegenpropheten'.
Dennoch verband diese beiden Heterogenitäten der gemeinsame
Zeitdrang zum Individuellen und Ursprünglichen, zu den leben-
strömenden Quellen der 'Natur', der Systemhafs, der Trieb zu
historischer Auffassung und vor allem der Glaube an die 'niederen
Seelenkräfte', die alsbald als die höheren, als die eigentlich
lebenzeugenden erkannt werden sollten. Beide begegneten sich
auch in der Verehrung der Allegorie. Die Bibel ist für Hamann
eine 'Allegorie wichtiger und prophetischer Wahrheiten, in ein-
fache, lebhafte und erstaunend ähnliche Bilder eingekleidet'.
'Die wahre Poesie ist eine natürliche Art der Prophezeiung'
oder, wie er am 29. August 1765 an Herder schreibt: 'Die
höchste poetische Kunst ist, die Allegorie in seiner Gewalt zu
haben'. Für Winckelmann war die 'Göttergeschichte nichts als
Allegorie'. 'Die Wahrheit, so liebenswürdig sie an sich selbst
ist, gefällt und machet einen stärkeren Eindruck, wenn sie in
eine Fabel eingekleidet ist: was bei Kindern die Fabel, im
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Arnold E. Berger
engsten Verstände genommen, ist, das ist die Allegorie einem
reiferen Alter. Und in dieser Gestalt ist die Wahrheit in den
ungesittetsten Zeiten angenehmer gewesen, auch nach der sehr
alten Meinung, dafs die Poesie älter als Prosa sei, welche durch
die Nachrichten von den ältesten Zeiten verschiedener Völker
bestätiget wird' (WW 1, 170. 168). Wenn man meinen sollte,
Hamann, der eigensinnige Kündiger des Selbstgewachsenen, des
natürlich Angestammten, des national und persönlich Eigenartigen
und der 'Idiotismen', müfste den 'Griechen' Winckelmann allen-
falls als sonderbaren Schwärmer gelten lassen — etwa wie Lichten-
berg, dem er nichts als ein 'Enthusiast' war (Vermischte Schriften.
Göttingen 1801—6. I, 311 f., vgl. 260 ff.), oder Diderot, der ihn
als 'enthousiaste charmant ', als 'aimable fanatique' mit Rousseau
zusammenstellte und ihm sogar Donquixoterie vorwarf (Salon
1765. Les sculpteurs) — so belehrt ein Blick in die Schriften
des Magus von dem völligen Gegenteil: er beugte sich vor der
Gröfse dieses Mannes, weil auch er sich als seinen Schüler be-
kennen mufste, nur dafs sein dankbares Lernen zugleich ein
Weiterdenken war. Schon am 9. Januar 1760 schrieb er seinem
Bruder in Riga: * Winckelmanns Gedanken von der Nachahmung
der griechischen Werke . . . machen dem deutschen Genie in den
schönen Künsten Ehre', und gleich darauf spricht er die frucht-
bare, auf seinen Schüler Herder vererbte Erkenntnis aus: 'alle
Anmerkungen des Winckelmann über die Malerei nnd Bildhauer-
kunst treffen auf das Haar ein, wenn sie auf Poesie und andere
Künste angewandt werden' ("Roth 3, 5 f.). Im nächsten Jahre
gedenkt er am 7. Februar der Mendel ssohnschen Rezension seiner
'Sokratischen Denkwürdigkeiten' im 113. Literaturbrief und fügt
hinzu: 'Die Vergleichung der Winckelmannschen Schreibart ist
der schmeichelhafteste Zug für mich' (3, 50). Am 17. Oktober
1764 (3, 302) rühmt er an Herder 'die jungfräuliche Seele eines
Virgil und die Reizbarkeit des Gefühls, welche mir den Umgang
der Liefländer immer so augenehm gemacht und dem Winckel-
mann ein so ei bauliches Sendschreiben 1 ) in die Feder geflöfst
hat'. In einer Anzeige der Königsberger Zeitung von 1764
gedenkt er der autobiographischen Aufzeichnungen Winckelmanns,
wie sie der Schlufs des 16. Teils der Literaturbriefe gebracht
') 'Von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst',
1763 an den jungen Lief Kinder F. Ii. von Berg gerichtet (WW 2, 379 ff.).
Der junge Herder und Winckelmann.
93
hatte, als eines 'merkwürdigen Kabinettstücks dieses gelehrtesten
Virtuosen unserer Zeit' (3. 249), und die Abhandlung von der
Fähigkeit der Empfindung des Schönen führt er in einem
späteren Aufsatz derselben Zeitung rühmend auf (3, 417). In
seiner Besprechung der beiden ersten kritischen Wälder Herders
(3, 429 ff.) hebt er hervor 'jene weise Ruhe, welche die Werke
der Griechen atmen', die ' Winckelmann durch Nachahmung
wirklich erreicht zu haben scheint ', und am Schlüsse wünscht er,
dafs ein Lessing oder Herder, ihre Mufse und Talente zu voll-
endeten Werken sammelnd, 'die Verdienste eines Winckelmann
um den Ruhm seines Vaterlandes, um die Lauterkeit und Macht
der deutschen Sprache, um die Wiederherstellung des griechischen
und attischen Geschmacks an weiser Ruhe, sittsamem Nachdruck,
sorgfältiger Nachlässigkeit, ungezwungener Würde u. s. w. über-
treffen möchten'. Wird hier Winckelniann als bahnweisendes
Muster aufgestellt, so mischt sich anderwärts auch leiser Tadel
in die Anerkennung, z. B. wenn er 1766 an Herder schreibt
(3, 360): 'Den Versuch des Winckelmann habe ich mit wenig
Genüge lesen können ')' und etwa zwei Jahre später abermals
an Herder: 'Winckelmann ist gar nicht der Mann seiner Jugend
mehr. Seine historischen und praktischen Einsichten mögen zu-
nehmen, aber ich finde nicht mehr die philosophische Salbung
und das Mark seiner Erstlinge'. Doch seiner Verehrung des
'grand Winckelmann' (8, 197) tut solcher Tadel wenig Eintrag:
trauernd gedenkt er 1772 des armen 'Brandenburgers, der in
seinen Sünden starb, weil er die gutherzige Torheit beging, einen
Erzlügner und Erzmörder für seinen Mitgenosseii seines be-
geisterten Geschmacks anzusehen' (4, 94), und mit einer An-
spielung auf Herders 'Torso' für Th. Abbt fügt er hinzu: 'Hat
der Geschichtschreiber der Kunst gar keinen Torso von Denkmal
verdienet?' Fünf Jahre später, am 13. Oktober 1777, wiederholt
er diese Mahnung an Herder: ' Ich wünsche Winckelmann etwas
mehr als einen Torso, kein Fragment, sondern ein Exegi perennius
et altius Ihrer deutschen Muse' (5, 256). 1778 führte Herder
diese längst gehegte Absicht aus.
>) Er meint den 'Versuch einer Allegorie besondere für die Kunst'
(1766), Winckelmann« schwächste Arbeit. Und auch Herder, der ihm das
Bnch geschickt hatte, hatte darüber geurteilt: 'Der erste Abschnitt ist für
mich alles, im folgenden wenig, und das meiste handwerksmäßig schon'
(Hoffmann, S. 26).
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Arnold E. Berger
Schon in seiner ersten Schrift (1756) geht Hamann auf ge-
schichtliches Begreifen aus, auch in der Folge spielt der Begriff
der örtlichen und nationalen Bedingtheit bei ihm eine hervor-
tretende Rolle, ohne dafs sich eine unmittelbare Abhängigkeit
von Winckelmann darin verriete; er steht nur unter dem Ein-
druck ähnlicher Anregungen wie dieser, und namentlich seine
Leibnizstudien führen ihn auf die Methodik des Entwicklungs-
gedankens immer wieder hin. Das Bedürfnis nach umfassender
praktischer Wirksamkeit, nach erzieherischer Betätigung, das ihn
eine Zeitlang mit ähnlicher Heftigkeit beseelte wie später seinen
feurigen Jünger Herder, empfing seine Richtung aus dieser neu-
erlebten Erkenntnis von der geschichtlichen Bedingtheit alles
Gewordenen, und so schrieb er schon am 22. September 1758:
'Unsre Erziehung mufs nach dem herrschenden Geschmacke
der Zeit, des Landes und des Standes, zu denen wir gehören,
eingerichtet werden' (Roth 1,304). In der Einleitung zu den
' Sokratischen Denkwürdigkeiten' (1759) erklärt er — und man
mufs dabei an die künftigen Arbeiten Herders denken — 'dafs
unsere Philosophie eine andere Gestalt notwendig haben müfste,
wenn man die Schicksale dieses Namens oder Wortes 'Philosophie'
nach den Schattierungen der Zeiten, Köpfe, Geschlechter
und Völker, nicht wie ein Gelehrter oder Welt weiser selbst,
sondern als ein müfsiger Zuschauer ihrer olympischen Spiele
studiert hätte oder zu studieren wüfste' (2, 151), und die Fort-
setzung dieser Stelle weist deutlich auf Winckelmann: 'Ein
Phrvgier, wie Aesop, der sich nach den Gesetzen seines
Klima, wie man jetzt redet, Zeit nehmen mufste, klug zu
werden.' In dieser Wendung liegt eine unverkennbare Ironie,
und das führt uns auf den kritischen Gesichtspunkt hin, von dem
aus Hamann den oben (S. 85) erwähnten Zwiespalt Winckelmanns
zu verstehen und zu lösen suchte. Lehrte dieser die Natur mit
griechischem Auge betrachten, so waren jenem die Griechen
'durchlöcherte Brunnen'. 'Einige behaupten, dafs das Altertum
die Albernen weise mache. Andre hingegen wollen erhärten,
dafs die Natur klüger mache als die Alten. Welche mufs man
lesen und welche nachahmen? Wo ist die Auslegung von beiden
die unser Verständnis öffnet? Vielleicht verhalten sich die
Alten zur Natur wie die Scholiasten zu ihrem Autor. Wer die
Alten, ohne Natur zu kennen, studiert, liest Noten ohne Text'
(2, 220 f.). Er fügt an derselben Stelle hinzu: 'Diese Frage
" Dlyttized by tüoögle
Der junge Herder und Winckelmann.
05
hat mit dem Grundsatz aller schönen Künste eine genaue
Verbindung' und deutet damit an, woher ihm diese Erkenntnis
geworden ist. »Sie taucht zuerst in den ' Sokratischen Denk-
würdigkeiten ' auf, wo im Anschluis an Winckelmann die Schön-
heit als höchstes Kunstprinzip des Altertums bezeichnet, aber
zugleich die Gegenwart in einen entschiedenen Gegensatz dazu
gestellt wird. 'Bei der Kunst, in welcher Sokrates erzogen
worden, war sein Auge an der Schönheit und ihren Verhältnissen
so gewohnt und geübt, dafs sein Geschmack an wohlgebildeten
Jünglingen uns nicht befremden darf . . . Überdies wurden
Schönheit, Stärke des Leibes und Geistes nebst dem Reichtum
an Kindern und Gütern in dem jugendlichen Alter der Welt für
Sinnbilder göttlicher Eigenschaften und Fufsstapfen göttlicher
Gegenwart erklärt,') Wir denken jetzt zu abstrakt und
männlich, die menschliche Natur nach dergleichen Zufälligkeiten
zu beurteilen. Selbst die Religion lehrt uns einen Gott, der kein
Ansehen der Person hat ' (2. 21 f.). Denkart und Sprache in
ihren Wechselwirkungen bestimmen den Charakter eines Volkes
im Gegensatz zu anderen und offenbaren ihn ebenso gut, als es
ihre ' äul serliche Bildung' und 'ein Schauspiel öffentlicher Hand-
lungen' tun kann (2, 123; damit ist eine direkte Berichtigung
Winckelmanns gegeben, bei dem allerdings die Beschaffenheit der
Sprache und ihrer Werkzeuge durch den 'Eintlufs des Himmels'
bedingt erscheint und die menschliche Gestalt wie die besondere
Denkart durch die Natur des jeweiligen Landes, während die
tiefere psychologische Verknüpfung von Sprache und Denkart
bei ihm noch nicht vollzogen ist). 'Wie die Natur eine gewisse
Farbe oder Zuschnitt des Auges einem Volke eigen macht [vgl.
WW3, 48 f.], ebenso leicht hat sie, uns unbemerkte, Modifikationen
ihren Zungen und Lippen mitteilen können' (2, 124). Ent-
scheidend für die Art der Sprache ist die Lebensgemeinschaft, in
der sie wirkt: die Absicht der Mitteilung und des Verkehrs der
Gedanken wird bestimmend für die Wahl der Wörter und die
Bildung der Redensarten. Wer also 'in einer fremden Sprache
>) Vgl. dazu WW 1, 9—18. — Ähnlich hat dann Klopstock das Recht
und die Würde der christlichen Kuust gegenüber Winckelmanns Griechen-
vergötterung betont, Seine Kritik der 'Gedanken über die Nachahmuug' im
3. Bande des 'Nordischen Aufsehens' (vgl. dazu HW 3, 249 ff.) ist am be-
quemsten gedruckt bei Back und Spindler 'Klopstocks sämmtliche sprach-
wissenschaftliche und ästhetische Schriften ' Bd. 4 (Leipzig 1830), S. 126 ff.
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Arnold E. Berget
schreibt, der mufs seine Denkungsart wie ein Liebhaber zu be-
quemen wissen. Wer in seiner Muttersprache schreibt, hat das
Hausrecht eines Ehemanns, falls er dessen mächtig ist'.') Vor
allem ist die Art der Sprache ganz abhängig von den sinnlichen
Eindrücken und der mit ihnen gebildeten natürlichen Denkart.
' Wir wissen vielleicht selbst nicht recht, was wir in den Griechen
und Römern bis zur Abgötterei bewundern . . . Gleich einem
Manne, der sein leiblich Angesicht im Spiegel beschaut, nachdem
er sich aber beschaut hat, von Stund an davongeht und vergiist
wie er gestaltet war, ebenso gehen wir mit den Alten um . . .
Narzifs (das Zwiebelgewächs schöner Geister) liebt sein Bild
mehr als sein Leben' (2, 289). Wozu sollen wir Kopisten
werden, da wir Originale sein können, Bürger eines freien
Staates, denen kein 'ästhetischer Moses' dürftige Satzungen vor-
schreiben darf (2, 196 f.). Auch wir haben Anteil an der gött-
lichen Natur, in unserem Gemüt 'das Ebenbild des unsichtbaren
Gottes', und je lebhafter diese Idee ist, 'desto fähiger sind wir,
seine Leutseligkeit in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken,
zu beschauen und mit Händen zu greifen'. Sie lehrt uns den
'natürlichen Gebrauch der Sinne', geläutert 'von dem unnatür-
lichen Gebrauch der Abstraktionen'. 'Ich rede mit euch,
Griechen, weil ihr euch weiser dünkt denn die Kammerherrn
mit dem gnostischen Schlüssel ... Ihr wollt herrschen über die
Natur und bindet euch selbst Hände und Füfse durch den
Stoicismus' (2, 283 ff.). 'Die Natur wirkt aber durch Sinne und
Leidenschaften. Wer ihre Werkzeuge verstümmelt, wie mag der
empfinden?' (2, 280). Darum sind Kegeln verwerfliche Ein-
schränkungen: was das Genie erleuchtet ist 'etwas ganz anders,
das weit unmittelbarer, weit inniger, weit dunkler und weit ge-
wisser als Kegeln' führt (2, 430), — ein Diderotsches Wort
übrigens, das Hamann schon 1761 sich angeeignet hatte (Roth
>) DemgeniüTs verlangt Herder 17GG in einem Briefe au Scheffner von
dem Übersetzer, man müsse bei der Vergleichung mit dem Originale sehen,
'dafs er über die Idiotismen das Recht eines Hausherrn und Ehemannes
gehabt hat' (Lebensbild I, 2, 89). Ähnlich ist seine Ausführung in den 'Frag-
menten' (HW I, 405; auch hier kehrt der Ausdruck 'Hausherr' wieder). Und
dasselbe Merkwort notierte sich dann der junge Goethe in sein Straßburger
Tagebuch: 'Wer iu einer fremden Sprache schreibt oder dichtet, ist wie
einer, der in einem fremden Hause wohnt' (Vgl. übrigens J. Minor,
J. G. Hamann, 1881, S. 39.)
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Der junge Herder und Winckelmann.
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3, 81). als er dessen 'Theater' studierte, wovon seine Schriften
manche bisher nicht beachtete Spuren aufweisen.
Den Hintergrund aller dieser Ausführungen bildet die
leidenschaftlich bekämpfte Theorie von der Nachahmung der
würdigsten Muster, auf welche die damalige Kunstübung seit
Generationen sich gründete. Mit den Vertretern dieser platt
rationalistischen Theorie, dafs es nur einen vernünftigen Ge-
schmack gebe, der zu allen Zeiteu sich gleich bleibe, zum
mindesten jederzeit, wenn er entartet war, durch die Mittel der
Vernunft wieder geläutert und gebessert werden könne, durfte
zwar Winckelmann nicht ohne weiteres zusammengestellt werden.
Was ihn hoch über jene erhob, war eben seine geniale Geschichts-
anschauung: er beurteilte die griechische Kunst nicht nach dem
Allerweltsmafsstab der 'Vernunft des gegenwärtigen Zeitalters',
sondern als den idealen Ausdruck des griechischen Lebens; er
erfüllte damit die höchste Forderung, die Hamann an den Kunst-
richter zu stellen hatte: 'Zum Urteilen gehört, dafs man jeden
nach seinen eigenen Grundsätzen prüft und sich selbst an die
Stelle des Autors setzen kann. Wer ein Richter des Menschen
sein will, mufs selbst ein Mensch werden' (Roth 3, 116). Winckel-
mann war in seiner Seele in der Tat ein Grieche geworden.
Aber solche Genialität läfst sich von andern nicht nachmachen,
und wo die Griechenanbetung ohne solche Kraft des Nachlebens
als Postulat auftritt oder gar zum Lehrsatz erstarrt, da mufs
sie notwendigerweise in dieselbe falsche Bahn einmünden wie
die gelehrte Nachahmungstheorie. Darum begegnete Hamann dem
hochgeschätzten Geschichtsschreiber der Kunst dennoch mit dem
heftigsten Widerspruch: der einzige Weg für uns, grofs, ja wenn
es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist nicht die Nach-
ahmung der Alten, sondern die Entfesselung der Stärke unsrer
eignen Natur in ihrem besonderen sinnlichen Leben, in ihrer
besonderen Denkart und Sprache, in ihrem besonderen Gefühl
von der Welt, in ihrem Schauen des Endlichen, in ihrem
Glauben an das Unsichtbare, Göttliche. Nicht der Zuwachs des
Wissens kann uns auf diesen Weg leiten, nicht Abstraktionen,
die uns klug und alt machen, sondern die Naivetät des Gefühls,
in der sich die Wärme und die Tatkraft der Jugend erneut.
Die Quellen der Verjüngung fliefseu nicht im klassischen Alter-
tum: die Materialien des schaffenden Geistes sind Natur und
Schrift, das Heil kommt von den Juden, aus dem Morgenlande,
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Arnold E. Berger
aus der Bibel, aus den ursprünglichen Zuständen des Menschheits-
lebens, und * wahrlich, Kinder müssen wir werden, wenn wir
den Geist der Wahrheit empfahen sollen, den die Welt nicht
fassen kann, denn sie sieht ihn nicht und kennt ihn nicht'
(2, 271 f.). Hamanns Schriften durchweht das Morgengefühl
eines siegreich aufsteigenden Tages; stürmischer noch, erwartungs-
voller und atemloser lebt das gleiche Gefühl in seinem ent-
deckungsfrohen Schüler. Beide verschmähen es darum, mit
Winckelmann in der Anschauung antiker Kunstoffenbarungen
beseligt auszuruhen; sie drängen ungeduldig vorwärts: nicht
Kopisten, sondern Originale heilst ihre Losung, und was sie er-
wecken wollen, das sind — deutsche Klassiker.
In der ersten selbständigen Abhandlung, die Herder ver-
öffentlichte 'über den Fleifs in mehreren gelehrten Sprachen'
(HW 1, 1 ff., vgl. 30. 7 ff.) erklärt er mit Anlehnung an Winckel-
manns 4 Krläuterungen ' die Verschiedenheiten der Sprachen aus
dem Kinflufs des Klimas: 'es schufen sich tausend Sprachen nach
dem Klima und den Sitten von tausend Nationen. Wenn hier
der Morgenländer unter einem hei I sen Scheitelpunkt glühet, so
strömt auch sein brausender Mund eine hitzige und affektvolle
Sprache fort. Dort blüht der Grieche in dem wohllüstigsten und
mildesten Himmelsstrich auf 1 ): sein Leib ist, nach Pindars Aus-
druck, mit der Grazie übergössen, seine Adern fliefsen von
sanftem Feuer, seine Glieder sind ganz Nerve, seine Sprachwerk-
zeuge fein, und unter ihnen entstand also jene feine attische
Sprache, die Grazie unter ihren Schwestern 2 ). Die Römer, die
Söhne des Mars, sprachen stärker und holten erst aus Griechen-
l ) Vgl. 'die kühlen Winde aus der See überstrichen die wollüstigen
Inseln im ionischen Meere und die Seegestade' WW 1, 134; 'das attische Ge-
biet genol's einen reinen nnd heitern Himmel, welcher feine Sinne
wirkte' 140.
") Za der Pindarstelle vgl. WW5, 247. Zum Weiteren: 'Wenn die
Natur bei dem ganzen Baue des Körpers wie bei den Werkzeugen der Sprache
verfähret, so waren die Griechen aus einem feineu Stoffe gebildet ; Nerven tind
Muskeln waren aufs empfindlichste elastisch und beförderten die biegsamsten
Bewegungen des Körpers' 1, 138. Dazu aus Herders erster Königsberger
Schulrede: 'Est totum corpus nervus, est tota anima ignis ac flamma etc."
Auch sonst verrät sich in dieser lateinischen Bede (HW 30, 1 ff.) die Lektüre
Winckelmanus: 'nti ex multarum Crotoniatarum facie Zeuxis imaginem effinxit'
(30, 5) beruht auf WW 4, 62. Herder bringt das in den 'Fragmenten' wieder
(HW1, 144).
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Der junge Herder und Winckelmann.
99
land Blumen, ihre Mundart zu verschönern (vgl. W 1, 138.
4, 10 ff.). Noch männlicher redet der kriegerische Deutsche; der
muntre Gallier erfindet eine hüpfende und weichere Sprache, der
Spanier gibt seiner ein gravitätisches Ansehen, sollte es auch
blofs durch Schälle sein' (vgl. WW 1,1331). Aber alsbald
nimmt der Schüler Hamanns das Wort: der Gelehrte, der fremde
Sprachen kennt und in seiner eignen ein Barbar bleibt, ist
nichts als ein lächerlicher Allwisser. Wir sollen unsem Geist
bereichern und beweglich erhalten an dem Studium fremder
Sprachen, aber der Leitfaden durch ihr Labyrint sei unsere
Muttersprache. Ihr sind die Erstlinge unseres Fleifses zu opfern,
denn niemand kann grofs werden in einer fremden Sprache. 1 )
Die fragmentarische Abhandlung über die Ode (HW 30, Gl ff.)
knüpft an die nämlichen Ausführungen Winckelmanns an. Die
Ode wird ein 'Proteus unter den Nationen' genannt, wie Kant
(Hartenstein 2, 279) den Geschmack in seiner Wandelbarkeit
einen 'Proteus' nennt. Sie zeigt überall ein anderes Gesicht:
'die Empfindung des Morgenländers ist, wie sein Klima, hitzig.'
'Durch Umwege kamen die Griechen hinter den Vorhang der
Morgenländer und ihrer Schüler, der Ägypter' (vgl. dazu I, 4, 3 ff.
und die bekannten Ausführungen Winckelmanns). Das 'wol-
lüstige, mäfsige Klima' der Griechen 'kühlte ihre Oden meistens
zu einzelnen sanften Empfindungen ab'. Hier läfst Herder
einige Sätze über die Dithyrambe einfliefsen, die sich mit seiner
Rezension über Willamovs Dithyramben (HW1,68) nahe be-
rühren. Er eignet sich den Ausdruck ' bacchischer Parenthyrsus '
l ) Satzbau und Ausdruck zeigen Hamanns Weise. Entlehnungen im
einzelnen sind z. B. : 'so weinte Alexander am Grabe Achills nach dem Ruhm
des Überwinders; an Alexanders Bilde schuf sich Cäsar zum Helden und Peter
an der Säule des Richelieu zum Schöpfer von Rnfsland' (1, 5), womit zu ver-
gleichen ist Hamann 2, 17: 'Wenn Cäsar Tränen vergiefst bei der Säule des
macedonischen Jünglings (vgl. auch 4, 270) und dieser bei dem Grabe Achills
mit Eifersucht an einen Herold des Ruhmes denkt' und 2, 13 f.: 'Der Ge-
schichte der Philosophie ist es wie der Bildsäule des französischen Staats-
ministers ergangen ... ein Monarch, der Name eines ganzen Jahr-
hunderts, gab die Unkosten zum Denkmal . . . Ein Schöpfer seines Volks.'
Ähnlich Herder 1, 25: 'War Peter der Grofse nicht ein wahrer Patriot, da er
als der Name und das Wunder unsres Jahrhunderts der Vater seines alten
und der Schöpfer eines neuen Vaterlandes wurde? . . . was war's, das seine
Hände um die Säule des Richelieu schlug?' Das Bild von Alexander und
Cäsar auch HW 2, 266. Zu HW 1, 6 vgl. Hamanns Ausführungen bei Roth
2, 123.
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Arnold E. Berger
an (32, 64. 78 f.«; vgl. 1, 311. 323. 543). einen ursprünglich rhe-
torischen Kunstausdruck, den Winckelmann unter dem Wider-
spruch Lessings in die Sprache der bildenden Kunst einführte
(vgl. Blümner, Lessings Laokoon. 1876. S. 314). Wie sehr sich
'in der Kunst die griechische Empfindungsart des Schönen von
der unsrigen unterschied' (:*2, 65) hatte er eben erst von
Winckelmann gelernt. 'Die Ader der Römer war trockner und
kälter.' Auch das Wort 'Nimm meine gläsernen Augen, die ich
von den Hörnern borgte . . . und Horaz wird dir ein Gott
scheinen' ist nur eine ironische l T mdeutung eines berühmten
Wortes des Nikomachus bei Winckelmann (1, 7). Die Besonder-
heit der nördlichen Nationen in der Empfindung bestimmt ihre
Oden noch näher: der Italiener ward, durch Vermischung der
Sieger und Besiegten, ein freier Mutloser, ein weicher Liebhaber,
der 'Petrarchs zeigte'. 'Der Gallier, dessen Empfindung ein
fliegendes Jucken und seine Bewegung ein hüpfender
Tanz 2 ) ist, singt Witz statt Empfindung, und selbst sein schwer-
fälliger Rousseau hüpfende Oden.' Die Britten sind 'voll
bardischer Züge' (vgl. WW 3, 63), nur die deutsche Ode hat
einen unbestimmten Mischcharakter. Auch hier tritt der Ha-
mannsche Standpunkt entschieden hervor: unsere Gegenstände
mufs unsere deutsche Ode behandeln; lafst uns unsere Menschen
nach unserem Gesicht malen, ohne poetische Farben aus einem
fremden Himmelsstrich zu holen. Aber von Winckelmann hat
er gelernt, Stilepochen abzugrenzen. Er sucht den Ursprung
der Ode in dem unmittelbar ausbrechenden subjektiven Affekt;
in der Folge wurde sie mehr objektiv, das verminderte Gefühl
wurde durch die Phantasie ersetzt , doch blieb diese noch am
Individualfall haften. Es folgte die rührende, die bewundernde
Ode, die immer kälter, betrachtender, allgemeiner wurde, bis sie
den Schein der Empfindung und die individuelle Bestimmtheit
verlor, um eine moralische Predigt über einen allgemeinen Satz
») Das 'freche Fener' und die 'Franchezza' (32, 79) sind von Winckel-
mann geprägte Ausdrücke (vgl. WW 1, 34).
«) Nach Winckelmann meldet sich die Fähigkeit der Schönheitsempfin-
dung in der Jugend 'wie ein fliegendes Jucken in der Haut ' (WW 2, 388).
Herder wiederholt dies Bild HW 8, 227. 325. Von den Galliern berichtet
Winckelmann (WW 1, 133) das Wort Julians, dafs 'zu seiner Zeit mehr
Tänzer als Bürger in Paris gewesen'. In der Abhandlung 'über den
Fleifs u.s. w.' redet darum Herder von dem ' tänzerischen Gallier ' (HW30.7).
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Der junge Herder und Winckelmann.
101
zu werden. Auf die Naturdichter folgten Kunstpoeten, zuletzt
wissenschaftliche Reimer. 'Schöpfer, Zauberer, Künstler und
Handwerker' bezeichnen die Stufenfolge der Odendiehtung.
'Diese vier Gattungen der Dichtkunst sind die Alter
der Menschheit: das erste empfindet, das zweite denkt mecha-
nisch, das dritte erfindet, das vierte denkt durch Freiheit.' 'Des
eigentlichen Dichters Trieb ist Wut, seine Worte Pfeile, sein
Ziel das ganze Herz; dies ist das Göttliche, Unaussprechliche
der Dichtkunst. Gemildert ist sein Zweck Rührung und sein
Trieb Aufweckung. Noch mehr geschwächt heifst sein Stachel
Vergnügen und seine Absicht die Neigung zu gefallen. Die
entfernteste uneigentliche Triebfeder ist Grundsatz und sein
Endzweck Nutzen' (32. 7(5). Herder unterscheidet die Ode des
Affekts und die Ode der Handlung. 'Handlung der Ode ist das,
worin uns selbst Winckelmanns allegorischer Parrhasius nicht
erreicht, und wir die Alten kaum erreichen' (32, 77; vgl. 1, 221).
Diese Bemerkung geht auf die Darstellung des atheniensischen
Volkes in einem allegorischen Gemälde, von der Winckelmann
wiederholt redet (WW 1, 55 f. 202. 2, 472). Aus ihm stammt
auch die Erwähnung der spartanischen Tänze, der 'zärtlichen
Lieder nackter Mädchen' (vgl. WW 1, 15. 4, 57). aus ihm 'jene
stille Gröfse, die in den Statuen der Alten rührt', die aber
nicht der Ode, sondern der Epopöe zukommt. Und der Satz,
dafs die niederländischen Maler ihre Landschaftsstücke dem
Öl und dicken Himmel zu danken haben (32, 81), ist der
Erstlingsschrift Winckelmanns entnommen (WW 1, 54; vgl. auch
die Bemerkung über den 'dicken Himmel' Thebens WW 1, 140).
Auch in dem ' Versuch einer Geschichte der lyrischen Dicht-
kunst' (32, 85 ff.) sucht Herder die Frage nach dem Ursprung
der Poesie zu lösen, ' denn so wie der Baum aus der Wurzel, so
mufs der Fortgang und die Blüte einer Kunst aus ihrem Ur-
sprung sich herleiten lassen. Er enthält in sich das ganze Wesen
seines Produktes, so wie in dem Samenkorn die ganze Pflanze
mit allen ihren Teilen eingehüllet liegt; und ich werde unmög-
lich aus dem späteren Zustande den Grad von Erläuterung
nehmen können, der meine Erklärung genetisch macht.' Hier
fällt zum ersten Male das inhaltsvolle Wort 'genetisch', von dem
unten noch zu sprechen sein wird. Ebenso wenig wie die
bildende Kunst — das eben hatte ja Winckelmann gelehrt —
ist die Dichtkunst auf einmal entstanden; sie fing an mit elenden
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Arnold E. Berger
Versuchen, schlechten Spielen, aus denen ziemlich spät Hand-
griffe wurden, noch langsamer Künste, sehr spät Kegeln und
noch später Wissenschaft. Mit Entschiedenheit wendet sich
Herder gegen die Ansicht vom göttlichen Ursprung der Poesie
wie gegen die andere, dafs alle Nationen sie von einem Volke
entwandt hätten. Er ist noch ganz mit Winckelmann einig,
wenn er sagt: 'man hat soviel Lehrgebäude von der Wanderung
der Künste und Wissenschaften, dafs man weiter kommt, wenn
man keines annimmt und in jedem Volk selbst den Samen
sucht, der die Künste und Wissenschaften hat hervor-
bringen können'. Nach Winckelmann (WW 4, 72) schufen
die alten Künstler 'die Gegenstände heiliger Verehrung, welche,
um Ehrfurcht zu erwecken, Bilder von höheren Naturen ge-
nommen zu sein scheinen mufsten. Zu diesen Bildern gaben die
ersten Stifter der Religion, welche Dichter waren, die
hohen Begriffe'. Ähnlich Herder (32,101): 'Die Dichter, die
damals zugleich alles, Priester und Regenten, Gelehrte und
Helden waren ', suchten des göttlichen Namens würdig zu werden,
ihren Ruf zu unterstützen und den Glauben des Volkes zu
nähren (vgl. 1,310). Weltweise gab es sehr spät; 'diese selbst
entstanden aus Dichtern, dichterisch sprachen sie ' und brauchten
die göttliche Anbetung des Pöbels zu ihrem Vorteil. Die da-
malige Art der Weltweisheit 'kleidete die Wahrheit in Er-
dichtungen' ('Allegorieen ' hatte Winckelmann gesagt). 'Not-
wendigkeit und Bedürfnis ist die Mutter der Dichtkunst, und
die Religion ist eine von den ersten Bedürfnissen, die ihre Er-
findung notwendig machte' (32. 105). So hatte auch Winckel-
mann behauptet, dafs die Kunst unter allen Völkern auf gleiche
Art entsprungen sei, indem bei allen 'der erste Same zum Not-
wendigsten vorhanden gewesen', und 'obgleich die Kunst, so
wie die Poesie, als eine Tochter des Vergnügens angesehen
werden kann, so ist gleichwohl nicht zu leugnen, dafs das Ver-
gnügen der Menschlichkeit ebenso notwendig ist, als diejenigen
Dinge, ohne welche sie nicht bestehen kann; und man kann be-
haupten, dafs die Malerei und die Bildung der Figuren
oder die Kunst, unsre Gedanken zu malen und zu bilden, älter
sei, als dieselben zu schreiben ... Da aber die ersten
Bildungen mit Figuren der Gottheiten scheinen angefangen zu
haben, so ist die Erfindung der Kunst verschieden nach
dem Alter der Völker und in Absicht der früheren oder
Der junge Herder und Winckelmann.
103
späteren Einführung des Götterdienstes' (WW 3, 6). Aus
der Furcht leitet Herder mit Hume die Religion her: durch
Gebete, Opfer, Gebräuche mufste die zürnende Gottheit gewonnen
werden. Da solche Gebete aber nicht Einzelnen überlassen
blieben, sondern vom ganzen Volke ausgingen, so mufsten sie
notwendig Gesänge mit rhythmischen Mafsen sein (32, 107). An
den sinnlichen Fall einer Gefahr z. B. knüpften sie an, sie waren
also voll lebendiger Handlung. Orpheus malte z. B. in seinen
Hymnen die Nacht nicht 'mit aller ihrer dunkeln Pracht' (vgl.
die Darstellung der Nacht bei Winckelmann 2, 549), sondern er
besang sie als Gebärerin der Götter und Menschen, als den
Ursprung aller Dinge, die Hervorführerin der Sterne u. s. w.
Die Grazien beschreibt er nicht, wie die neueren Dichter 'bis
auf den Nagel am Fufs'. sondern er zeigt sie in reizvollem
Tanze (vgl. WW 2, 519. 3, 186. 4, 121). ' Alles lebt und tut
Taten' (112). 'Leidenschaft und Handlung ist die Seele der
Dichtkunst' (122), dieser Hamannsche Satz wird schliefslich an
der religiösen Poesie der alten Hebräer veranschaulicht. Wie
hier, so wird auch in dem Fragment 'über die verschiedenen
Religionen ' (HW 32, 145 ff.) mit Winckelmann der ' politische
Zweck der Religion' betont, und ein Lieblingsbild Herders
erscheint hier zum ersten Male: er wünscht sich 'Phlegma
und Feuer', um sich an einer Geschichte der Religion zu ver-
suchen. So beginnt auch eins seiner gleichzeitigen Gedichte:
'Stirb, Phlegma! — du mein Lied sei Feuer!' (HW 29, 24G).
In den Fragmenten rühmt er von Winckelmann, 'wie er seine
Werke, so wie Raphael seine Gemälde, mit Feuer entwarf und
mit einem glücklichen Phlegma vollendete' (HW 1, 218). Und
aus Winckelmann hat er diese Wendung entlehnt (vgl. 'Man
mufs mit Feuer entwerfen und mit Phlegma ausführen'
W T W 1, 255; 'Entwirf mit Feuer und führe mit Phlegma aus'
5, 224), der sie aber seinerseits an der zweitgenannten Stelle
auf einen 'brittischen Dichter' zurückführt, womit Roscommon
gemeint ist ('To write with fury, but correct with flegme',
Essay on poetry). An oben bereits angezogene Winckelmannsche
Gedankengänge erinnert es ferner, wenn in einem weitereu
Entwurf Herders (32, 148) davon ausgegangen wird, dafs die
Völker in ihrer Kindheit sich ähnlicher sind, als in späteren
Zeiten ausgebildeter Charaktere: -so lange sie das Notwendige
suchen ... so enthüllet sich bei allen einerlei Gestalt der Seele
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Arnold E. Berger
und fast auf einerlei Art', die älteste Poesie ist überall 'theo-
logisch -philosophisch -historische Nationaltradition in sinnlicher
bildervoller Sprache '.
In dem schwungvollen Aufsatz, der Herders Ideal vom
Kanzelredner umschreibt (HW 32, 3 ff.), begegnen mancherlei
Wendungen, die an Winckelmann erinnern: * Redner Gottes!
grofs im Stillen, ohne poetische Pracht feierlich, ohne
ciceronianische Perioden beredt'. 'Meine ganze Seele ist
Auge', 1 ) 'dieser stille Ton der Seele . . . gleich einem stillen
See, der auf einen belebenden sanften Hauch des Abendzephyrs
wartet' (vgl. Winckelmann 4. 137: ; die Stille ist derjenige
Zustand, welcher der Schönheit, sowie dem Meere, der eigent-
lichste ist, und die Erfahrung zeiget, dafs die schönsten Menschen
von stillem gesitteten Wesen sind'). Ganz aus Winckelmanns
Seele geschöpft muten aber die folgenden Worte Herders an:
'das Anschauen gebiert Wollust, denn ich fühle es, dafs ich
die Grofsheit und Würde und Einfalt fafse, die die schöne
Natur ist; und jedes neue Anschauen gebiert neue Wollust, so
lange ich neue Züge entdecke, wodurch ich mich der ganzen
Idee nähere, die der Künstler dachte'. Unter den nun-
mehr oft bei Herder wiederkehrenden Winckelmannschen Schlag-
worten 'Stille,*) Würde, Einfalt, Gröfse' erscheint hier zum
ersten Male die -Grofsheit' (vgl. WW 3, 82. 4,27.209. 5,224.
232. 236. 248. 250 u. s. w.), gleichfalls in Herders Sprachschatz
fortan übernommen (vgl. HW 32, 533).
Der erste Entwurf über das Problem 'wie die Philosophie
zum besten des Volkes allgemeiner und nützlicher werden kann'
(HW 32, 31 ff.), enthält nur geringe Spuren der Winckelmann-
lektüre: 'siehe sie mit den Augen des Menschen, und sie wird
dir eine Venus scheinen (vgl. oben S. 100), aber nicht jene
himmlische Venus, die Schwester der Weisheit, sondern die
irdische, die Schwester der Gelehrsamkeit' (diese Unter-
scheidung beruht auf WW 2, 518. 4, 113 f.). 'Sein Brustbild,
verstümmelt wie Dagon (vgl. Hamann, Roth 7,62), und Hände
») Vgl. indessen Suphans Bemerkung zu 'ganz Ohr', 'ganz Seele' u. b. w.
H\V4.508f.
') 'Sei in mir, Stille!' heifst es schon in einem Gedicht aus dem März
1764 (HW29, 8; vgl. 31, 10). 'Die innerliche Gemütsruhe' wird 31, 15 ge-
priesen. Ganz durchzogen von diesem Winckelmannschen Grundakkord ist
die Bückeburger Predigt über die 'stille Gröfse Jesu' (31, 312 ff.).
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Der junge Herder und Winckelmann.
105
und Kopf sind von Wohlthaten der Neueren dazugesetzt, wie die
meisten römischen Statuen. Diese betrieben Viele, aber nicht
Winckelmann'. Letztere Bemerkung" zielt auf eine ganz bei-
stimmte Ausführung Winckelmanns (WW 6, 346 f.). Die 32, (50
angezogene Behauptung Longins, dafs Poesie älter sei als Prosa,
war auch von Winckelmann als eine 'alte Meinung' bezeichnet
worden (vgl. oben S. 92).
Die Rigaer Einführungsrede 'von der Gratie in der Schule'
(HW 30, 14 ff.) ist allerdings vom Geiste Shaftesburys beherrscht
(vgl. F. J. Schmidt, Herders pantheistische Weltanschauung.
Diss. Berlin 1888, S. 10 f. Hatch in den Studien zur vgl. Litt.
G. I, 1901, S. 112 f.), und ihr pädagogisches Ideal deckt sich mit
der ' iuoral grace ' des englischen Philosophen, wie sie neuerdings
von Pomezny hübsch beleuchtet worden ist ('Grazie und Grazien
in d. d. Litt, des 18. Jhs.' 1900, S. 44). Aber in die Fassung des
Begriffs sind doch auch hier Winckelmannsche Farben ein-
geschlossen, denn was er hier 'unter dem menschlichen Bilde
eines Lehrers und eines Schülers zeichnen' will, ist das, 'was
die Griechen, die unnachahmlichen Griechen mit dem Namen der
himmlischen Venus benannten'. Das deutet auf eine der
berühmtesten Stellen der Kunstgeschichte, von der zwiefachen
Gratie: 'Die eine ist. wie die himmlische Venus, von höherer
Geburt und von der Harmonie gebildet und ist beständig und
unveränderlich, wie die ewigen Gesetze von dieser sind ... Die
zwote Gratie ist, wie die Venus von der Dione geboren, mehr
der Materie unterworfen, sie ist eine Tochter der Zeit, und nur
eine Gefolgin der ersten, welche sie ankündiget für diejenigen,
die der himmlischen Gratie nicht geweihet sind. Diese läfst
sich herunter von ihrer Hoheit und macht sich mit Müdigkeit,
ohne Erniedrigung, denen, die ein Auge auf dieselben werfen,
teilhaftig; sie ist nicht begierig zu gefallen, sondern nicht un-
erkannt zu bleiben. Jene Gratie aber, eine Gesellin aller Götter,
scheinet sich selbst genugsam und bietet sich nicht an, sondern
will gesuchet werden; sie ist zu erhaben, um sich sehr sinnlich
zu machen, denn das Höchste hat, wie Plato sagt, kein Bild.
Mit den Weisen allein unterhält sie sich, und dem Pöbel erscheinet
sie störrisch und unfreundlich; sie verschliefset in sich die Be-
wegungen der Seele und nähert sich der seligen Stille der gött-
lichen Natur ' (WW 5, 245 f.). So sagt auch Herder von seiner
Gratie, dafs sie 'das Gesicht heiter macht und los von den
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Arnold E. Berger
stürmischen Affekten, die die Stirn verdunkeln' (30, 17),
sie 'bestreue Gedanken mit Einfalt'. Noch deutlicher wird
die Anlehnung an Winckelinann in dem Bruchstück einer Ab-
handlung über die Gratie in der Schule (HW 30, 29 ff.). 'Die
griechische Draperie — hatte Winckelinann (WW 1, 30) gesagt
— ist mehrenteils nach dünnen und nassen Gewändern ge-
arbeitet, die sich folglich, wie Künstler wissen, dicht an die
Haut und an den Körper schliefsen und das Nackende desselben
sehen lassen. Das ganze oberste Gewand des griechischen
Frauenzimmers war ein sehr dünner Zeug; er hiefs daher Peplon,
ein Schleier.' Von diesem Satze 1 ) macht Herder folgende An-
wendung: 'Selbst die Wahrheit, der doch ihre nackte Unschuld
statt aller Keize sein sollte, selbst diese mufs einen leichten
Schleier sich gleichsam wie einen seidnen Nebel umwerfen,
damit ihre Schönheiten blofs durchschimmern, und alsdenn be-
zaubern sie erst'. 'Die Griechen setzten sogar unter andern
einen Preis: wer mit der meisten Grazie küssen könnte, und die
ehrwürdigsten Richter schämten sich nicht darüber zu urteilen'
— Herder entlehnt diesen Satz aus dem 4. Buch der Kunst-
geschichte: -an dem Feste des Philesischen Apollo war auf den
gelehrtesten Kul's unter jungen Leuten ein Preis gesetzet' (WW
4, 8; vgl. 1, 110). Wenn Herder meint, einige werden den Namen
der Grazie verwechseln 'mit einer Schulaktrice, einer Tänzerin
oder einer Hofmeisterin in Komplimenten' (30, 31), so erinnert
das an Winckelmanns Spott, über 'die bei den Neueren übliche
Tanzmeistermäfsige Gratie' (WW 4, 157). Zu dem Satze
'Apelles hatte schon eine Grazie, die seinen Pinsel leitete, und
Parrhasius, der Freund des Sokrates, ward durch sie unsterblich'
(HW 30, 31) ist zu verweisen auf WW 5, 249. 7, 107. 'In
Winckelmanns Geschichte der Kunst — fährt Herder fort — ist
ihr, dieser Göttin der Keize, ein Altar von Marmorsteinen auf-
gebauet, und Winckelinann, der verehrungswürdige Enthusiast
[vgl. Diderots Wort, oben S. 92], der sich in ihre griechische
Schönheit bis zur weisesten Narrheit verliebt hat, betet vor
ihr an.' Dafs 'Plato vor ihr niederkniet' (HW 30, 32), hat
Herder gleichfalls aus Winckelinann entnommen (WW 5, 246).
Dafs 'Sokrates die drei Gratien Athens meifselte' ist eine
Reminiscenz an die Oesersehe Vignette am Schluls von Winckel-
') Er klingt wieder HW 1, 162 (45). 223 (153). VgL 8, 22 f.
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Der junge Herder und Winckelmann.
107
manns ' Gedanken ' (vgl. S. 44 des Neudruckes von 1885). ' Die
Grazie, die Pallas auf den Mund des Ulyfs ausgolV (30, 32) ist
wörtlich entlehnt aus WW 5, 247: 'Dieses war die Gratie, welche
Pallas über den Ulysses ausgofs', und eben daher stammen 'die
Töchter des Jupiters, von der Harmonie geboren, nackt wie die
Wahrheit, voll der edlen Einfalt, die sich der seligen Stille
des Olymps nähert; ihre Locken fliegen unter immergrünenden
Kränzen hervor, Kränze sind in ihren Händen, ihre Hände sind
zusammen um einander geschlungen' (30, 33).
In der Abhandlung 'Haben wir noch jetzt das Publikum
und Vaterland der Alten ' (HW 1, 13 ff.) erinnert die Bemerkung
über den Ursprung der bildenden Kunst an das erste Kapitel
des Winckelmannschen Werkes: 'Jenes Mädchen, das den Schatten
ihres Liebhabers an der Wand mit einer Kohle umrifs, um sein
Bild zu haben, war ohne ihren Willen die Erfinderin der Malerei. 1 )
Jener Grieche, der einen Stamm behieb, oben rot färbte und ihn
statt der Füfse unten von einander sägete, schnitzte die erste
Götzenstatue.' Und mit einem originellen Nachklang eines be-
rühmten Rousseauschen Schlagwortes aus dem 'Discours sur
rorigine de Tinegalit^' fährt Herder fort: 'Und jener Hausvater,
der seine Familie in einen Kreis von Zelten sammelte und einen
Zaun umherzog, war der erste König, der ein Publikum stiftete'.
Winckelmann hatte in der Verfassung der griechischen Staaten
eine Ursache ihrer Kunstbltite gefunden, die Freiheit war dort
die Mutter aller grofsen Begebenheiten gewesen (WW 4, 12 f.,
vgl. 6,4. 72. 96. 123. 157. 171. 308 u. s.w.). Herder führt dieses
Bild weiter aus und kommt zu dem Schlufse, dafs das Publikum
der Alten ausgestorben sei sowohl in Absicht der Regierung wie
in Absicht der Redner 2 ) und Schriftsteller. Aber trotz der ver-
änderten politischen Anschauungen, trotz der veränderten Religion
') Vgl. HW 8, 41 und Herders anmutiges Gedicht 'Die Erfinderin der
Künste' HW29, 123, sowie die Anmerkung dazu ebd. S. 726. Über Herders
Neigung zu Paramythien Suphans Bemerkungen HW 2,369; Haym, Herder
1, 164 Anm.
s ) Hamann (Roth 2, 219) hatte von den alten Rednern gesagt: 'Sie
legten Begebenheiten zum Grunde, machten eine Kette von Schlüssen, die in
ihren Zuhörern Entschlüsse und Leidenschaften wurden'. Dem setzt
Herder entgegen: der geistliche Redner habe heilige Entschlüsse auf eine
ganze Lebenszeit zu erregen, 'Entschlüsse, die nicht im Taumel der
Leidenschaft, sondern in einer heitern stillen Seele [das Winckel-
mannsche Schlagwort!] aufblühen müssen'.
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108
Arnold E. Berger
haben wir noch, wie die Alten, ein Vaterland, für das es süfs
ist zu sterben, dessen süfser Zuname Freiheit ist, wenn auch
eine gemäfsigtere Freiheit, als die des Altertums. Auch hier
arbeitet Herder im wesentlichen mit Gedanken Shaftesburys
(vgl. Hatch a. a. 0. S. 91 ff.).
Herders Vorbericht zu der 'Parallele zwischen den grie-
chischen und französischen Tragödienschreibern ' (HW 32, 140 ff.)
spricht nachdrücklich eine aus Winckelmann gewonnene Er-
kenntnis aus: 'Jede Bekanntschaft mit den Griechen, diesen
Meistern des Theaters, den Lieblingen der tragischen Melpomene
und den Erstgebornen der Minerve, bildet, da sie die nächste
Stelle nach dem Ideal einnehmen, zur Einfalt, zur Stärke
der Leidenschaft, zur Schwere des tragischen Ausdrucks'. 'Lieb-
linge der Minerva' nennt Herder die Griechen wiederholt (z. B.
1, 28"). 2, 113), der Ausdruck stammt aus Winckelmanns 4. Buch
(WW 3, 58). Aber sofort hören wir wieder den Schüler Hamanns:
es ist lehrreich, die überschätzten Franzosen gegen die Griechen
zu halten, doch noch lehrreicher, den Gesichtskreis zu erweitern
und neben 'die handelnden Griechen und die sentimen tsvollen
Franzosen den malenden Britten zu setzen; wollten die Musen,
wir hätten von allen drein gleichviel gelernt!'
Anklänge an Winckelmann sind auch in den fragmentarischen
'Betrachtungen über das verschiedene Urteil von der mensch-
lichen Schönheit' (HW 32, 15 ff.) zu spüren. Der Begriff der
Schönheit verliert sich vielfach in den Geschlechtstrieb (vgl.
WW 4, 40), sodafs man oft 'statt der Juno eine schöne Wolke
oder statt der entflohenen Gratie ihren Gürtel' hält. 'In dem
Klima, wo die Natur zu schwach ist, schöne Köpfe von aufsen
zu bilden ', erzeugt auch das Gehirn keine Schönheitsbilder. Die
'griechischen Wettspiele über die schönste Person und den
schönsten Kufs' werden abermals erwähnt.
Diese Betrachtungen setzen sich fort in der geistreichen
Abhandlung 'Ist die Schönheit des Körpers ein Bote von der
Schönheit der Seele?' (HW 1, 43 ff.), welche in der Hauptsache
von Kants 'Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und
Erhabenen' abhängig ist,») aber auch Anregungen von Shaftes-
') Tgl. C. Jaskulski, I ber den Einflufs der vorkritischen Ästhetik
Kants auf Herder (Ztschr. f. d. Oesterreich. Gymn. 51, 1900, S. 193 ff.), eine teils
tibertreibende, teils unvollständige Darstellung, die ihren Gegenstand zu
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Der junge Ilerder und Wrackelmann.
109
burys Moralphilosophie ') und Winckelmann verarbeitet hat. Ein
Winckelmannscher Satz in Hamannscher Prägung eröffnet die
Betrachtung: 'Die Alten, insonderheit die alten Griechen, hielten
so viel auf die edle Bildung des Körpers, dafs ihre Weisen . . .
dieselbe für ein Sinnbild göttlicher Eigenschaften und
für Fufsstapfen von der Gegenwart der Götter er-
klärten' (vgl. oben S. 95). 'Hat es doch Völker gegeben, bei
denen Adel des Geistes und Schönheit des Körpers beinahe ein
unterscheidendes und allgemeines Merkmal ihres Charakters ge-
wesen ' — Herder denkt natürlich an die Griechen — 4 und gibt
es doch noch Völker, bei denen die Schönheit und Häfslichkeit
nichts seltnes ist, weil eine von beiden allgemein ist' — er
meint einerseits die Georgier und Circassier, anderseits die
Chinesen, Kalmücken und Neger, denn er fährt fort: 'ine ich
mich nicht, so habe ich diesen Einfall in Montesquieu, Montagne
und Beaumelle gelesen', und wir fügen hinzu: bei Kant, Hume
und Winckelmann (vgl. WW 1, 12. 135. 4, 40 f.). Herder findet
den in Frage stehenden Satz bei Plato mit 'edler Einfalt'
verteidigt. Und gleichfalls einer Winckelmannschen Prägung
bedient er sich, wenn er vom 'Gewächs des menschlichen
Leibes' redet. 2 ) Die Winckelmannsche Technik der Beschreibung
von Statuen wird unverkennbar nachgebildet: 'Siehe jenen Mann,
dessen starker Körper von seiner starken Seele zeigt. Ein-
förmig ist der Umrifs seines Körpers, in seiner Gestalt ist
wohlgebildete Form, Freiheit in der Stellung, Macht in
der Brust, die Leichtigkeit in den Beinen, die Stärke
in den Schultern. So wird auch sein Geist sein, der sich mit
diesem Körper geformt hat. Siehe! Aufrichtigkeit ist in
seiner Stirn, die Vernunft zwischen den Augen, die Ge-
sundheit in seinen Wangen, die Lieblichkeit auf seinem
Munde, sein männliches Feuer in den Augen: siehe, das ist der
Spiegel seiner Seele.' Merkwürdigerweise steht dieser Satz bei-
isoliert betrachtet. Welche Stelle den beiden Abhandinngen sowie den
Winckelmannschen Schriften in der Entwicklungsgeschichte der physio-
gnomischen Studien nnd der induktiven Ästhetik zukommt, gedenke ich in
meinem Winckelmannbuck nachzuweisen.
•) Vgl. Hatch a. a. 0. S. 105 f.
*) 'Gewächs' für 'W r uchs' W r W 7 3, 2. 57. 69. 4,7. 46. 59. 63. 65 ff.
72. 81. 89. 93. 110 f. 115. 119. 123 u. s. w. Auch Goethe, Heinse, Sturz,
Forster u. a. bedienen sich des Ausdruckes.
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110
Arnold E. Berger
nahe wörtlich bei Rafael Mengs 'Gedanken über die Schönheit
und den Geschmack in der Malerei' (Zürich 1762). In der Aus-
gabe von 1774 heifst es dort S. 33 f. wie folgt: 'Die Ein-
förmigkeit in Umrissen, die Gröfse in der Gestalt, die
Freiheit in der Stellung, die Schönheit in den Gliedern, die
Macht in der Brust, die Leichtigkeit in den Beinen,
die Stärke in Schultern und Armen, die Aufrichtigkeit
in der Stirne und Augenbrauen, die Vernunft zwischen
den Augen, die Gesundheit in den Backen, die Lieblich-
keit in dem Munde'. Als die gemeinsame Quelle war zu-
nächst Winckelmann zu vermuten, doch vermochte ich eine
gleichlautende Stelle bei diesem bisher nicht nachzuweisen; somit
dürfte Herder aus Mengs geschöpft haben.«) Mit Winckelmannschem
Griffel zeichnet er auch das Bild des 'schönen Frauenzimmers':
'Das sanft gesenkte Profil ihres Gesichts, die zarte Völligkeit
ihrer Bildung, die geistige Natur in ihrem ganzen Wesen ver-
kündigen einen ebenso schönen Geist. Siehe! dieser wohnt in
ihren Augen, auf ihrer Stirn, den Wangen, den Lippen'. Auf
Winckelmann beruft er sich für den Satz: 'nur die mittleren
Gegenden sind die Werkstätten der Natur, wo sie die Schönheit
des Körpers und Geistes gemeinschaftlich zur Reife bringen, aus-
bilden und erheben kann' (vgl. WW 4, 6). Die drei Stufen des
Geschmacks an menschlicher Schönheit, die Herder hier unter-
scheidet, decken sich mit den von Kant angenommenen (Jaskulski
a. a. 0. S. 203 f.), aber er erläutert sie mit Hilfe Winckelmannscher
Erwägungen: die erste Geschmacksstufe 'findet die Schönheit in
der Farbe, etwas, was zwar immer die Schönheit erhebt, aber
nie sie ausmacht' (vgl. 'die Farbe trägt zur Schönheit bei,
aber sie ist nicht die Schönheit selbst, sondern sie erhebet die-
selbe überhaupt und ihre Formen', WW 4, 49 t). Der zweite
Grad würdigt die 'feine regelmäfsige Bildung', die einen ebenso
regelmäfsigen Geist verspricht, 'der vielleicht stille wie ein
stilles Meer an einem Sommerabende, sanft, keiner grofsen
Leidenschaft fähig'. 'Die dritte und höchste Stufe der Schön-
heit ist der geistige Reiz, die Anmut und Grazie, die
alles vorige belebt.' Der Schlufs der Abhandlung weist auf
Winckelmann hin, der 'auf den Flügeln seiner Einbildungskraft
in der Statue des Apollo im Belvedere zu Rom so unendliche
') Herder zitiert diese Schrift von Mengs z.B. 1,399. 4,89; vgl. 4,508.
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Der junge Herder und Winckelmann.
111
Schönheiten geistiger Gottheit findet, dafs er sich bis zur Ent-
zückung erhebt'.
Herders 'Fragmente über die neuere deutsche Literatur'
knüpfen bekanntlich an die Literaturbriefe an. Wie Winckelmann
sein Werk mit der Bemerkung einleitete, seine Geschichte der
Kunst sei keine blofse Erzählung der Zeitfolge und der Ver-
änderungen in derselben, seine Absicht sei zugleich, 'einen Ver-
such eines Lehrgebäudes zu liefern', so erklärt im Gegenteil
Herder, 'die Briefe über die N. Literatur haben kein Lehr-
gebäude 1 ) liefern wollen, doch aber nennen sie es ein Ge-
mälde der Literatur in den letzten Jahren' (HW 1, 144). Ein
vollständigeres Gemälde ist es, das ihm selbst vorschwebt, ein
Gemälde, 'wo kein Zug ohne Bedeutung auf das Ganze wäre',
ein Gemälde, das 'die Natur des Titian ['sein Fleisch ist Wahr-
heit und Leben' WW 2, 420J mit der Grazie des Oorreggio ['in
ihr bestund der Vorzug des Apelles und des Correggio in neueren
Zeiten' WW 1, 257; 'Grazia t'orregiesca' WW 5, 252] und der
bedeutungsvollen Idea des Raphaels [vgl. WW 1, 16. 4,64] zu
verbinden suchte'. Diesem pragmatischen Gemälde müfste eine
Geschichte der Literatur zugrunde liegen, auf die es sich stützte.
'Auf welcher Stufe befindet sich diese Nation? und zu welcher
konnte und sollte sie kommen? Was sind ihre Talente, und wie
ist ihr Geschmack? Wie ihr äufserer Zustand in den Wissen-
schaften und Künsten? Warum sind sie bisher noch nicht höher
gekommen, und wodurch könnte ihr Geist zum Aufschwünge
Freiheit und Begeisterung erhalten ? Alsdenn rufe der Geschicht-
schreiber der Literatur aus: Wohlan, Landesleute, diese Bahn
laufet und jene Abwege und Steine vermeidet; so weit habt ihr
noch, um hierin den Kranz des Zieles zu erreichen! Man stelle
ihnen die Alten als Vorläufer, die Nachbarn als Nebenbuhler
vor und suche die Triebfeder des Nationalstolzes so rege zu
machen, als man das Nationalgenie untersucht hat'. Also was
Herder sich zur Ergänzung der Literatlirbriefe wünscht, ist in
der Tat ein 'Lehrgebäude' der deutschen Literatur, zwar nicht
im Winckelmannschen, aber im Hamannschen Sinne: zur Er-
ziehung deutscher Klassiker. In der Abhandlung über die Ode
(oben S. 100 f.) hatte Herder die Methode Winckelmanns auf die
>) Herder braucht dies Wort schon früher (HW 1, 74. 32, 124), ferner
1, 294. 2, 123 ff. 135 u. s. w. Vgl. SuphanB Anmerkung HW 1, 535 zu S. 74.
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112
Arnold E. Berger
Geschichte der Dichtkunst übertragen und in ihr vier Stilepochen
unterschieden (WW r>, 210 f.). Mit der gleichen Methode sucht
er jetzt in Probleme der Sprachgeschichte einzudringen und
schreibt ein Kapitel 'von den Lebensaltern einer Sprache'
(1,151 ff.), denn die Gesetze der Veränderung sind überall die
gleichen : bei dem einzelnen Menschen, bei dem ganzen Menschen-
geschlecht, in jeder Nation, in jeder Familie, sogar in der toten
Welt: vom Schlechten zum Guten, zum Vortrefflichen, dann
wieder zum Schlechteren und Schlechten, — das ist der Kreis-
lauf aller Dinge. Jede Kunst, jede Wissenschaft keimt, trägt
Knospen, blüht auf und verblüht.
Die älteste Sprache sind Töne und Geberden, unmittelbar
ausbrechende Leidenschaften. Winckelmann hatte die Ver-
schiedenheit der Sprachen und Mundarten aus der Verschieden-
heit der Sprachwerkzeuge, diese wieder aus der Verschiedenheit
des Klimas erklärt: in kalten Ländern sind die Nerven der
Zunge starrer und weniger schnell als in wärmeren; daher
haben alle mitternächtlichen Sprachen mehr einsilbige Wörter,
mit Konsonanten überladen, deren Aussprache andern Nationen
schwer oder unmöglich fällt (WW 1, 135 f. 3, 47 ff.). Herder,
mit den Anschauungen Blackwells und Hamanns vertraut,
charakterisiert zwar die älteste Sprache auch als 'einsilbig,
rauh und hoch', aber nicht den ungeübten Redewerkzeugen
schreibt er das zu, sondern den stärkeren Leidenschaften, die
im Naturstande unmittelbarer hervorbrechen: der primitive
Mensch sprach nicht, sondern 'tönte'. Die Furcht, die Hume
an den Anfang der Religionsentwickelung gestellt hatte, stellt
Herder auch au den Anfang der Sprachentwickelung. Entsetzen,
Furcht und Verwunderung schwanden, je vertrauter man mit
den Gegenständen wurde. Man gab ihnen Namen, die von der
Natur abgezogen waren, die Sprech werk zeuge wurden biegsamer,
die Accente weniger schreiend. Man sang und nahm Geberden
zu Hilfe. Das ganze Wörterbuch war noch sinnlich. Die Sprache
trat in das Jünglingsalter, Feuer und Wildheit mäfsigten sich,
der Gesang Hofs lieblicher. Man nahm auch unsinnliche Begriffe
auf, die man aber mit sinnlichen Namen nannte: die Sprachen
waren voll von Bildern und Metaphern. Nicht nur Blackwell
und Hamann, sondern auch Winckelmann hatte ja hervorgehoben,
was Klopstock bestritten hatte, dafs die Poesie älter als die
Prosa sei und früher zur Vollkommenheit gelangte (WW 1, 168 f.
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Der junge Herder und Winckelmann.
113
4, 31). Es folgt das männliche Alter der Sprache, das Zeitalter
der schönen Prosa. 'Je mehr die Dichtkunst Kunst wird, je
mehr entfernt sie sich von der Natur' (HW l, 154). Ähnlich
hatte Winckelmann erklärt: 'Der ältere Stil war auf ein Systema
gebaut, welches aus Regeln bestand, die von der Natur ge-
nommen waren und sich nachher von derselben entfernt hatten
und idealisch geworden waren' (WW 5, 235). Und wie dieser
gesagt hatte, dafs 'die Natur sich verliere unter Regeln und
Vorschriften', so auch Herder: 'je mehr Regeln eine Sprache
enthält, desto mehr verliert die wahre Poesie'. Das hohe
Alter der Sprache weifs statt der Schönheit blofs von Richtig-
keit, 'diese entziehet ihrem Reichtum,') wie die Lacedämonische
Diät die attische Wohllust verbannet' (vgl. WW 1, 139). Das
ist das philosophische Zeitalter der Sprache. Poesie und Prosa
ist also nicht ein willkürlich geschaffener, sondern ein historisch
gewordener Unterschied. Wir stehen jetzt im Zeitalter der
Prosa, also in der Mitte zwischen dem Sinnlichen und dem
Richtigen, zwischen dem Schönen und dem Vollkommenen; und
wie wir die Gunst dieser Stellung nutzen müssen, wird nunmehr
beredt entwickelt. 2 ) Eine Winckelmannsche Unterscheidung wird
aufgenommen mit dem Satze (HW 1, 167): 'die Alten sprachen
durch Bilder, wir höchstens mit Bildern; und die bildervolle
Sprache unsrer schildernden Dichter verhält sich zu den ältesten
Poeten wie ein Exempel zur Allegorie, wie eine Allegorie zum
Bilde in einem Zuge'. Fast wörtlich kommt Herder im
'Torso' darauf zurück: 'Freilich ist die Einfalt der Alten der
erste Vorzug ihres Stils, dafs sie nicht in Bildern reden,
sondern Bilder geben (HW 2, 278)'. Winckelmanns Satz
lautet: 'Die griechischen Dichter von Homerus an reden nicht
allein durch Bilder, sondern sie geben und malen auch
Bilder, die vielmals in einem einzigen Wort liegen und
durch den Klang desselben gezeichnet und wie mit lebendigen
Farben entworfen werden' (WW 3, 59), während 'die Dichter
') Vgl. Hamanns bekannte« Wort (Roth 2, 151): 'Die Reinigkeit einer
Sprache entzieht ihrem Reichtum, eine gar zu gefesselte Richtigkeit
ihrer Stärke und Mannheit'.
*) Abhängig von diesen Ausführungen Herders ist, oft bis auf den
Wortlaut, die Abhandlung von Lenz 'Über die Bearbeitung der deutschen
Sprache im Elsafs' (Schriften hrsg. v. Tieck 2, 318 ff.), ebenso die auch von
Hamann beeinflußte 'Über die Vorzüge der deutschen Sprache' (ebd. 2, 326 £f.).
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114
Arnold E. Berger
jenseits der Gebirge durch Bilder reden, aber wenig Bilder
geben' (G3). Von den Morgenländern hatte Winckelmann
geurteilt: 'bei jenen sind die figürlichen Ausdrücke so wann
und feurig als das Klima, welches sie bewohnen, und der Flug
ihrer Gedanken übersteiget vielmals die Grenzen der Möglich-
keit' (WW 3, 58). Herder weist auf den arabischen Dichter,
welcher mit der Fülle seiner Synonymen 'durch ein Wort
malen und durch diese mit einem Zuge entworfne Bilder viel-
seitiger sprechen' kann, als wir (108).
Und wie Winckelmann seine Untersuchungen über die
geschichtlichen Grundlagen und über das Wesentliche der Kunst
durch seine herrlichen Beschreibungen der Denkmäler para-
digmatisch erläuterte, so ergänzt Herder jetzt seine theoretischen
Ausführungen über Sprache und Stil durch die Aufstellung
grofser Muster. Die Heine der neun ' Originalschriftst eller ', die
'die Ehre unsrer Literatur' sind, eröffnet aber eine begeisterte
Anerkennung Winckelmanns, dessen Werke 'der Unsterblichkeit
würdig und der Name unsres Jahrhunderts sind' (HW 1, 219;
vgl. Hamann, Roth 2, 13: 'ein Monarch, der Name eines ganzen
Jahrhunderts'). Herder rühmt von ihm dasselbe, was Winckelmann
von Raphael rühmt: dafs er 'die besten Blüten jeder antiken
Schönheit in seine Seele gesammelt'. Er ist 'einfältig im Vor-
trag, natürlich in der Ausführung, erhaben in den Schilderungen'.
Das Muster eines echten Kunstrichters, wie es Herder im
Eingang der zweiten Sammlung aufstellt, scheint aus dem Geiste
Winckelmanns entworfen zu sein. Dieser hatte die Archäologie
aus dem trüben Dunkel antiquarischer Notizengelehrsamkeit auf
die helle Höhe der freien Anschauung, der ästhetischen Würdigung
und der geschichtlichen Erkenntnis gehoben. Vor jedem Kunst-
werk suchte er in sich die Idee zu erneuern, die in der Seele
des Künstlers gewirkt hatte, und von daher alle Einzelheiten
gegen das Ganze abzuwägen. Ist er hierin ganz der hingebende
Schüler, so wird er eben dadurch zu dem grofsen Lehrer seiner
Zeitgenossen : er unterrichtet über die Fähigkeit der Schönheits-
empfindung, über ihr Wesen und ihre Ausbildung, er zeigt, wie
man die Kunstwerke zu betrachten, Geschmack und Urteil zu
schulen habe, und in beständiger Verbindung dieser beiden
Methoden führt er sein grofsartiges Gebäude auf, Geschichts-
darstellung und Kunstlehre in eins fassend. In denselben drei
Richtungen hat sich nach Herder die Wirksamkeit des Kunst-
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Der junge Herder und Winckelmann.
115
richters zu bewegen: 'gegen Leser, gegen Schriftsteller und
gegen das ganze Reich der Literatur überhaupt'. Dem
Leser sei er erst Diener, dann Vertrauter, dann Arzt, d. h. er
bilde sein Gefühl, seine Einsicht, seinen Geschmack. Dem
Schriftsteller sei er Diener, Freund, unparteiischer Richter.
'Suche ihn kennen zu lernen und als deinen Herrn aus-
zustudieren, nicht aber dein eigner Herr sein zu wollen.' So
hatte Winckelmann von den Kunstwerken der Alten gesagt:
'man mufs mit ihnen wie mit seinem Freunde bekannt ge-
worden sein' (WW 1, 7), man mufs sich ihnen nähern 'mit der
Hoffnung viel zu finden', so wird man 'viel suchen' (WW 1,245).
Statt 'krüppelhafte und tote Gerippe von Auszügen' zu geben,
fährt Herder fort, soll der Kunstrichter ein Buch 'bis auf Herz
und Nieren zergliedern' und (wie Winckelmann) 'ein Pygmalion
seines Autors werden'. Der ganzen Literatur endlich sei er
Schmelzer oder Handlanger oder Baumeister, ein Mitbürger im
Reiche der Wissenschaften. 'Ein kritisches Werk, das in allen
diesen drei Absichten grofs bliebe, was wäre das für ein Schatz
einer Nation!' Mit andern Worten: ein Winckelmann in Absicht
auf die Literatur.
Ein Muster solchen Kunstrichtertums legt Herder sogleich
vor: er fragt nach der Möglichkeit der Nachahmung fremder
Dichter. Bevor er in diese Erörterungen eintritt, verkündet er
noch einmal mit einem Winekelmannschen Wort das befreiende
Verdienst der Literaturbriefe: 'die Quelle des guten Geschmacks
ist geöffnet, man komme und trinke!' (HW 1, 253; vgl. WW 1,6:
'die reinsten Quellen der Kunst sind geöffnet; glücklich ist wer
sie findet und schmecket'). Er handelt zuerst über die Nach-
ahmung der Morgenländer, dann der Griechen; und hier fordert
er sogleich die Übertragung des Verfahrens der Kunstgeschichte
auf die Geschichte der Poesie: 'wo ist aber noch ein deutscher
Winckelmann, der uns den Tempel der griechischen Weisheit
und Dichtkunst so eröffne, als er den Künstlern das Geheimnis
der Griechen von ferne gezeigt? Ein Winckelmann in Absicht
auf die Kunst konnte blofs in Rom aufblühen, aber ein Winckel-
mann in Absicht der Dichter kann in Deutschland auch hervor-
treten, mit seinem römischen Vorgänger einen grofsen Weg
zusammen tun' (HW 1, 293 f.). Deutlicher noch hat Herder den-
selben Gedanken dann in dem unvollendeten Wäldchen über die
Kunstgeschichte ausgesprochen (4, 216). So oft er auf Winckelmann
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Arnold E. Berger
zu reden kommt, scheint er sich auch dessen feierlich getragener
Sprache zu bedienen, auch hier ist das leuchtende Bild der
griechischen Schönheitswelt ganz in die verklärenden Farben
Winckelmannscher Sentimentalität getaucht (1, 285 f.). Das Pro-
gramm einer solchen Geschichte der griechischen Poesie, wie es
Herder jetzt entrollt, ist mit geringen Abänderungen der Winckel-
mannschen Vorrede zur Kunstgeschichte (WW 3, 1 f.) entlehnt:
'Die Geschichte der griechischen Dichtkunst und Weisheit, zwei
Schwestern, die nie bei ihnen getrennt gewesen, soll den Ur-
sprung, das Wachstum, die Veränderungen und den Fall
derselben nebst dem verschiedenen Stil der Gregenden,
Zeiten und Dichter lehren und dieses aus den übrig ge-
bliebenen Werken des Altertums durch Proben und Zeug-
nisse beweisen. Sie sei keine blofse Erzählung der Zeit-
folge und der Veränderungen in derselben, sondern das
Wort Geschichte behalte seine weitere griechische Be-
deutung, um einen Versuch eines Lehrgebäudes liefern
zu wollen.' Daran schliefst sich eine Aufzählung der wichtigsten
Winckelmannschen Gesichtspunkte: 'Man untersuche nach ihrem
Wesen die Dichtkunst der Griechen, ihren Unterschied von
den übrigen Völkern und die Gründe ihres Vorzugs in
Griechenland; hier würde sich ein Ozean von Betrachtungen 1 )
darbieten: wiefern ihr Himmel, ihre Verfassung, Freiheit,
Leidenschaften, Regierungs-, Denk- und Lebensart, die
Achtung ihrer Dichter und Weisen, die Anwendung,
das verschiedene Alter, ihre Religion und ihre Musik,
ihre Kunst, ihre Sprache, Spiele und Tänze u. s. w. sie zu
der hohen Stufe erhoben haben, auf der wir sie bewundern
(HW 1, 294)'. Im folgenden nimmt aber wieder der Schüler
Hamanns das Wort: eine solche Erkenntnis der griechischen
Poesie würde uns von den elenden Nachahmern der Griechen
befreien. MitWinckelmann berührt er sich in der (Blackwellschen)
Behauptung, dafs die Sprache Homers 'göttlich, neu, aber im
ganzen verständlich' gewesen, 'weil damals noch nicht ein
») 'Ein Ozean von Betrachtungen, in den sich blofs ein Kenner der
Alten, ein geschmackvoller Kunatrichter und, ich möchte beinahe sagen, selbst
ein Dichter wagen kann' erinnert an Hamann (Roth 2, 122) : 'Ein Weltmeer
von Beobachtungen, die ein gelehrter Philosoph auf einfache Grundsätze und
allgemeine Klassen bringen könnte.' Vgl. auch HW 1,5: 'Aber welch ein
grenzenloses Meer sehe ich hier vor mir.'
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Der junge Herder und Wtockelmunn.
117
Unterschied zwischen der Sprache der Weisen und des Volks
war' (HW 1,298; vgl. W4, 32. 6,126). Aus dem 5. Buche
von dessen Kunstgeschichte (WW 4, 89 f.) schreibt er die köst-
liche Schilderung des jugendlichen Bacchus aus (HW 1,319 f.).
In Formeln der bildenden Kunst und Winckelmannschen Wen-
dungen bewegt sich auch die folgende Vergleichung Anakreons
und Gleims: 'Anakreons Bilderchen nähern sich meistens einem
kleinen Ideal von Schönheit und Liebe; und wenn sie dies nicht
erreichen wollen, so sieht man ein feines Porträt'. 'Die erste
Gattung schwingt sich auf zur feinen Idee der Wohllust über-
haupt; die zweite, die in die Umstände eines Individualfalls
gräbt, nähert sich der ersten, und wo sie ihr nachbleibt, gibt
sie sich eine Art von Bestimmtheit, Spuren der Menschlichkeit,
die wie ein Grübchen im Kinn, der Eindruck des Fingers der
Liebe, wie das Lispeln des Alcibiades selbst mit zur Schönheit
wird' (HW 1,330 f.; vgl. dazu 1,50. 4001 und Winckelmanns
Bemerkungen über 'sinnlich gemachte Grübchen' WW 1, 19.
4,41). Die Griechen 'hatten ihre guten Ursachen, bei ihren
olympischen Bildsäulen lieber auf Schönheit als Ähnlichkeit
zu sehen (vgl. Winckelmanns Satz über das griechische Gesetz,
'die Personen ähnlich und zu gleicher Zeit schöner zu machen'
WW1, 17; 'in allen diesen Betrachtungen war die Schönheit
allezeit die vornehmste Absicht der Künstler' WW4, 106). Da-
her ist im Alten mehr Einfalt' (HW 1, 331; vgl. WW 1, 31 f.).
'Beide Dichter sind 'Söhne der Grazie', allein der Grieche malt
mehr eigentlichen Reiz, dieser öfter Schönheit,' Auch an Gleims
Kriegsliedern rühmt Herder die 'edle Einfalt' (HW 1, 336). In
der anschliefsenden Abhandlung über die Idylle werden wieder-
um nach Winckelmanns Methode vier Zeitalter unterschieden:
erst Leidenschaft, dann Empfindung, dann Beschäftigung, endlich
tote Malerei sind ihre stilistischen Kennzeichen. Diese vier Zeit-
alter entsprechen ungefähr den vier Lebensaltern der Sprache,
wie Herder sie früher abgegrenzt hatte, und Theokrit und
Gefsner gehören ganz verschiedenen Zeitaltern an, sind also un-
vergleichbar.
Auf einem grofsartig entworfenen Geschichtshintergrunde
sucht die dritte Sammlung der Fragmente das Eindringen und
die Ausbreitung des römischen Geschmackes in Deutschland zu
verfolgen. Einige Züge zu diesem Bilde scheint Kant geliefert
zu haben (vgl. Hartenstein II, 279 f.). Auch die Renaissance hat
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Arnold E. Berger
nach Herder weniger den Geist der Alten als dessen äufsere
Schale erneut: man 'lernte, was die Alten gedacht, statt wie
sie zu denken; lernte die Sprache, in der sie gesprochen, statt
wie sie sprechen zu lernen' (HW 1, 370; vgl. 416: 'der eigent-
liche Geist der Weltweisheit ist nicht, wie ich glaube zu wissen,
was andre vor uns gedacht und gesagt, sondern es sich zu
eigen zu raachen, wie sie es gedacht und gesagt'; auch 4, 59:
'wir haben so viel zu lernen, was andre gedacht, und endlich
lernen wir selbst nichts als: lernen'). Nicht nur mit Kant war
Herder darin einig, dafs man 'nicht Gedanken, sondern denken
lernen' müsse (Hartenstein 2, 314), sondern auch bei Winckel-
mann hatte er gelesen: 'Gelehrt sein, das ist: zu wissen, was
andere gewütet haben, wurde spät gesucht', und im griechischen
Altertum 'war eine Eitelkeit weniger in der Welt, nämlich: viel
Bücher zu kennen ' (WW 4, 20) ')• So erlag seit dem 16. Jahr-
hundert vollends das Denken der Gelehrsamkeit, das Erfinden
dem Nachahmen; der ganze Zuschnitt der Wissenschaften, der
Literatur, der Bildung ward römisch und ist es noch. Dieser
gelehrte Pedantismus ist eine Hemmung des Genies. Der
' deutsche Bücherstil ' mute umgebildet werden durch Erforschung
der älteren Zeitalter in ihrer ' nervenvollen Stärke', die Sprache
mute zurückgeleitet werden zum 'Urbilde ihrer selbst'. Und
diese Erkenntnis mufs schon in der Erziehung der Jugend wirk-
sam werden, denn 'die erste Farbe, die unsrer Denkart auf-
getragen wird, verliert sich nie', und es kommt auch in diesem
Punkte 'auf den ersten allmächtigen Eindruck an; ist
dieser verfehlet, so ist alles verloren'. Wie eine ähnliche Stelle
lehrt (HW 1, 50; vgl. auch 1, 6. 400. 401), fürst diese Beobach-
tung auf Montesquieu; Herder konnte sie aber auch bei Winckel-
mann finden (WW 4, 41 f.). 'Das ist doch einmal gewils, dafs
die Römer auf einer andern Stufe der Kultur gestanden, als wir,
dafs wir sie in einigen Stücken hinter uns haben und in andern,
wo sie vor uns sind, nicht nachahmen können' (HW 1, 382).
Auch in den Kern der Wissenschaften ist dieser lateinische Geist
eingedrungen, Latein war Jahrhunderte lang das vehiculum der
Scholastik, diese hat eine wissenschaftliche Schulsprache, eine
systematische Terminologie ausgebildet, in der Wort und Begriff
') Hertier hat den ganzen Winckelmannschen Passus nochmals ausge-
schrieben HW 2, 139 f. in einem langen Centu aus dessen Schriften.
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Der junge Herder und Winckelmann.
110
sich ineinander verwebt haben, so dafs dem Denken damit ein
schädliches Joch auferlegt war, denn statt Sacherklärungen be-
gnügte es sich fortan mit Worterklärungen. Thomas Abbt hatte
das 'einen Aktienhandel mit Worten' genannt und im 271. Lite-
raturbrief schon den glücklichen Ausdruck geprägt, den Hamann
uud Herder sich alsbald aneigneten, 'dafs hundert Gedanken am
Ausdrucke selber haften und kleben' 1 )- Hier knüpft Herder
seine geniale Auseinandersetzung über das Verhältnis von Ge-
danke und Ausdruck an (HW 1, 384 ff.).
Haym hat nachgewiesen (Herder I, 42 ff.), welchen Anteil
Kants analytische Methode an diesen Ausführungen hat; ich
möchte hier zeigen, inwiefern sie durch Winckelmann angeregt
worden sind. Herder legt dar, wie überall 'bei den sinnlichen
Begriffen, bei Erfahrungsideen, bei einfachen Wahrheiten und in
der klaren Sprache des natürlichen Lebens' der Gedanke aller-
dings am Ausdruck 'klebe* (HW 1, 394). Daraus ergibt sich fin-
den Dichter, der zumeist aus dieser Quelle schöpfen mufs, dafs
sich für ihn Gedanke zum Ausdruck verhalten soll nicht wie
der Körper zu seinem Kleide [so Meier 2 ] oder zur Haut [so
Abbt] — denn ; die Farbe und glatte Haut macht nie die Schön-
heit vollkommen aus' (1,3% f.; vgl. dazu das entsprechende
Citat aus Winckelmann oben S. 110) — sondern Gedanke und
Ausdruck verhalten sich wie Seele und Körper: die Empfindung
schafft sich den Ausdruck, wie der Geist sich den Körper baut.
Diese für die Genieepoche vorbildliche Ausführung, welche auf
den jungen Goethe hinreifsend wirkte, trägt die Spuren ihres
Ursprungs noch deutlich an sich: sie ist dem Autor aufgegangen
an der bildenden Kunst und an der Lektüre Winckelmanns.
Dieser hat die Kunstlehre um einen höchst fruchtbaren
ästhetischen Begriff bereichert, indem er nämlich seine Betrach-
tung nicht blofs auf den Gegenstand in seiner mehr oder
minder gelungenen Nachahmung von Wirklichkeit oder Wirklich-
keiten richtete, sondern hinter dem Gegenstand das Erlebnis des
Künstlers suchte; dieser methodische Vorgang objektivierte sich
ihm in einem neuen ästhetischen Begriff: die Seele des Kunst-
>) Vgl. dazu Mendelssohns Bemerkung über die falsche Objektivierung
abstrakter Begriffe im 22. Literaturbrief.
*) Ähnlich einmal Winckelmann: 4 Die Bekleidung ist hier gegen das
Nackende wie die Ausdrücke der Gedanken, d.i. wie die Einkleidung der-
selben, gegen die Gedanken selbst' (WW 5, 8ü).
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Arnold E. Berger
werks. Die weitverzweigte Vorgeschichte dieses Begriffs darzu-
legen, behalte ich mir für eine künftige Untersuchung vor, auch
die Ausbildung dieses Begriffes durch Winckelmann selbst kann
ich hier noch nicht verfolgen; es genüge einstweilen der Hinweis,
dafs der in Rede stehende Begriff bereits in Winckelmanns Erst-
lingsschrift klar erfafst ist, denn die Beschreibung der Sixtinischen
Madonna daselbst schliefst mit folgenden Worten: 'Die Zeit hat
allerdings vieles von dem scheinbaren Glänze dieses Gemäldes
geraubet, und die Kraft der Farben ist zum Teil ausgewittert;
allein die Seele, welche der Schöpfer dem Werke seiner
Hände eingeblasen, belebet es noch itzo' (WW1,39; vgl.
auch 1, 34: 'sie verlangen eine Seele in ihren Figuren, die wie
ein Komet aus ihrem Kreise weichet'). Erst nachdem Winckel-
mann in andächtigem Schauen den geistigen Mittelpunkt eines
Kunstwerks erfafst hat, jenes centrale Erlebnis, aus dem die
Konzeption des Künstlers geboren wurde, geht er an die Er-
klärung des Einzelnen und weist nach, wie in jedem Zuge der
Gestalt die notwendige Beziehung auf jenes formgebende Ganze
organisch enthalten ist. An diesem schöpferischen Gedanken
Winckelmanns, an der Technik seiner Beschreibungen, die auf
ihm beruht, ging Herder, dessen Denken von dem Gesetz der
Analogie beherrscht war, die grofse Erleuchtung auf, dafs es
sich ebenso verhalte in Sprache nnd Dichtung, und er verkündet
diese ihn selbst beglückende Entdeckung in der Form eines
' platonischen Märchens ' '), das gleichsam aus Winckelmannschen
Gefühlstönen zusammengewebt ist (HW 1, 397 f.).
'Aus dem seligen Reich der Götter ward die Empfindung,
wie die Seele des Plato, heruntergesandt in den Schoofs der
irdischen einfältigen Natur. In dem Schoofs dieser gesunden und
starken und fruchtbaren Mutter sollte die Bewohnerin des
Himmels einen schönen und blühenden Körper sich zum Wohn-
hause bereiten; daher nahm sie das zarteste und feinste Geblüt
ihrer Mutter zur sanften Hülle und ward die Schöpferin des
Gebäudes rings um sich. Kein Sturm widriger Wallungen und
kein Blitzstrahl von ungesunden Zuckungen hinderte ihr Gewebe,
in welches sie ohne Gefühl gewaltsamer Störungen ihr Bild
voll ruhiger Stille eintrug als das Bild einer Freundin der
>) Eine Andeutung dieses Märchens findet sich bereits in der Rede über
die Schönheit (HWl,44f.).
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Der jnnge Herder und Winckelmann.
121
Götter und Gespielin der Göttinnen. Sie vollendete ihre
Schöpfung, sie brachte die Frucht zur Reife, sie vollführte den
Pallast ihrer Wohnung: ihr gelang das Bild ihrer selbst, das
von ihr zeugen sollte. Kurz, der himmlische Gedanke formte
sich einen Ausdruck, der ein Sohn der einfältigen Natur war,
sie aber in den schönsten Jahren seiner Mutter; er ward in
ihrem Schoofse reif ohne gewaltsame Gähningen und mit einer
stillen Gröfse vollendet. Er wand sich seiner Gebärerin sanft
vom Herzen, und bei seiner Geburt beglückten ihn die
Grazien, und Göttinnen lächelten ihn an. Nun steht dieser
Körper vor dir; willst du ihn als ein totes Kunststück betrachten,
blofs seine Farbe lieben, blofs seinen Putz anbeten, seine
Nägel an den Füfsen bewundern und umarmen eine kalte Bild-
säule, willst du im Ausdruck ohne Gedanken Schönheit
finden, — dann bist du ein elender, kurzsichtiger, fühlloser Be-
trachter! Nein, siehe diesen Körper an als ein Sinnbild der
Seele, die ihm blofs so viel körperliche Reize gab, als er-
f Odert wurden, um ihn deinen irdischen Augen sichtbar und
schön darzustellen. Begnüge dich also nicht mit gramma-
tischer Schönheit, der Wörterwahl, der Stellung der Worte und
des toten Rhytmus; denn wenn du trockne Richtigkeit suchest,
wo Schönheit dich erfüllen soll, so liesest du wie ein Mefs-
künstler und Handwerker oder Tagelöhner. Aber siehest du
den Ausdruck als ein Geschöpf, das sich die Empfindung ge-
söhaffen, als ein Sinnbild, in dem sich ihr Bildnis abdrucket,
siehest du den ganzen Ausdruck als einen Boten des Gedankens
und als den Pallast, den seine ganze Gröfse erfüllet, so wirst
du mit den Augen sehen, mit denen Plato sich der un-
körperlichen Schönheit aus dem Reiche der Geister er-
innerte ['denn das Höchste hat, wie Plato sagt, kein Bild'
WW 5, 246], mit denen Winckelmann siehet, wenn er bei dem
Apoll im Belvedere, oder dem Herkules im Torso oder dem
Laokoon oder der Niobe ins Reich unkörperlicher Ideen gerät,
du wirst mit dem Auge deine Hand leiten, mit welchem Mengs
die Schönheit siehet.' Die im Druck hervorgehobenen Worte
deuten die wichtigsten Beziehungen zu Winckelmann an; wich-
tiger als diese Einzelheiten sind die beiden Grundgedanken, die
sich am schlagendsten zusammenfassen lassen in dem berühmten
Winckelmannschen Satze: 'Die höchste Schönheit ist in Gott,
und der Begriff der menschlichen Schönheit wird vollkommen,
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Arnold E. Berger
je gemäfser und übereinstimmender derselbe mit dem höchsten
Wesen kann gedacht werden, welches uns der Begriff der Ein-
heit und Unteilbarkeit von der Materie unterscheidet, Dieser
Begriff der Schönheit ist wie ein aus der Materie durchs Feuer
gezogener Geist, welcher sich suchet ein Geschöpf zu
zeugen nach dem Ebenbilde der in dem Verstände der
Gottheit entworfenen ersten vernünftigen Kreatur'
( W W 4. 52 f.). Wörtlich benutzt ist in der Herderschen Aus-
führung ferner eine Stelle aus Winckelmanns Beschreibung des
Apoll: 4 Der Künstler hat dieses Werk gänzlich auf das Ideal
gebauet, und er hat nur eben so viel von der Materie dazu
genommen, als nötig war, seine Absicht auszuführen und sicht-
bar zu machen' (WW 0,260)'). Und auch weiterhin nimmt
Herder die Ausdrucksweisen der bildenden Kunst zu Hilfe:
4 Wenn die Stärke der Gedanken sich mit dem starken Aus-
drucke paaret, so steht ein Bild vor mir, wo der einförmige Um-
rifs des Körpers für mich blofs ein Zeuge jenes Gedankens ist,
der sich denselben formte'. Wohnt aber die Seele 'in einem
wüsten, ungestalten Hause, wo sie wie aus einem dunkeln, un-
regelmäfsigen Kerker herausblickt, wo Sehnen wie Stricke
und Adern wie unreine Kanäle sich erheben und sichtbar fort-
laufen', 2 ) so mufs uns der Traum des Plato beifallen: in dies
Gefängnis ward der Gedanke gesandt zur Strafe für die in der
Oberwelt begangenen Verbrechen. Auch das folgende Bild ist
erst aus Winckelmann ganz zu verstehen: der Originalschrift-
steller bildet sich das Ganze des Gedankens in seinem Geiste,
' stellet jeden Teilbegriff schnell an seinen Platz, in sein gehöriges
Licht, zu seinem eigentümlichen Zweck, in allem erforderlichen
Gleichmafse, das Bild schaffet sich in seinem Kopf und tritt,
vollständig an Gliedmafsen und gesund an der Farbe, mit
glänzenden Waffen hervor und wird Ausdruck ' (HW 1, 402). Es
') Herder kommt zu diesem Gedanken zurück in einem Fragment Uber
Baumgartens Denkart: 'Seine philosophischen Lehrbücher sind in ihren Vor-
zeichnungen gleichsam ganz Geist, der nur soviel Materie angenommen,
als zur Sichtbarkeit nötig war' (HW 82, 189). Und von der Bildhauerei
sagt er: 'Da wohnet eigentümlich jene unsichtbare Vollkommenheit, die sich
in der Materie offenbart und von dieser nur so viel nahm, um sich fühl-
bar zu machen' (HW 4, 75). Ähnlich HW 8, 151 f.
*) 'Ein Gewebe von strickmäfsigen Adern' WW2,386. 390. Vgl.
dazu W W 4, 53. 87. 89. 95. 4, 105 f. 5, 269 f. 7, 78 u. s. w. HW 2, 134.
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Der junge Herder und Winckelmann.
123
ist eine Wiederholung der Winckelmannschen Kunstlehre in nuce.
angewandt auf die Sprache: das geistige Urbild, das Ideal be-
stimmt die Ordnung und Auswahl der Teile und formt sich so
den kongruenten Ausdruck, in dem es erkannt werden will.
Frau von Stael hat Winckelmanns Kunstgeschichte eine
Poetik aller Künste genannt, und dafs sich aus diesem Apercu
eine ganze Abhandlung entwickeln läfst, soll mein Buch über
Winckelmann demnächst erweisen. In dieser tief eingreifenden
Darlegung Herders über Gedanke und Ausdruck findet jene Be-
obachtung der Französin eine ihrer wichtigsten Bestätigungen.
Aber auch hier entlehnt die Geniezeit von Winckelmann mehr
die Methode als das Ergebnis; die Schatzkammer des Dichters
kann nur seine Muttersprache sein, ein Originalschriftsteller
im hohen Sinne der Alten ist immer ein Nationalautor. So
bekämpft denn Herder auch den kritiklosen Gebrauch der alten
Mythologie in der neueren Dichtung. Winckelmann hatte den
Künstlern die Allegorie empfohlen, weil er die geistige Leerheit
aus der Kunst verdrängen wollte, der Pinsel des Künstlers 'soll
in Verstand getunkt sein ', er soll ' mehr zu denken hinterlassen,
als was er dem Auge gezeigt'; das erreicht er, wenn er 'seine
Gedanken in Allegorieen nicht versteckt, sondern einkleidet'
(WW 1, 61 f.). Er verlangte deshalb eine allgemein festgestellte
Allegorieensprache, ein Werk, 'welches aus der ganzen Mythologie,
aus den besten Dichtern alter und neuerer Zeiten, aus der ge-
heimen Weltweisheit vieler Völker, aus den Denkmalen des
Altertums auf Steinen, Münzen und Geräten diejenigen sinnlichen
Figuren und Bilder enthält, wodurch allgemeine Begriffe dich-
terisch gebildet werden. Dieser reiche Stoff würde in gewisse
bequeme Klassen zu bringen und durch eine besondere An-
wendung und Deutung auf mögliche einzelne Fälle zum Unter-
richt der Künstler einzurichten sein' (WW 1, 58). Einen solchen
Versuch hat Winckelmann bekanntlich später selbst geliefert.
Schon Klopstock hatte in seiner Besprechung der Erstlingsschrift
Winckelmanns gegen diese Forderungen triftige Einwände er-
hoben. Auch Herder leugnet eine so allgemein verständliche
Bildersprache, und wiederum beruft er sich auf die Geschichte:
was war die Mythologie bei den Alten? Geschichte des Vater-
lands, der Vaterstadt, Familien- und Ahnenstolz, Religion,
Allegorie, personifizierte Natur, eingekleidete Weisheit. Und
was ist sie uns? toter Bilderkram. Aber man belausche die
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Arnold E. Berger
Griechen bei dem Schaffen ihrer Einbildungskraft, nnd an ihrer
Mythologie als einer unvergleichlichen poetischen Heuristik lerne
man, selber zum Erfinder zu werden, die Kunst des Allegorisierens,
der Belebung des Stoffes, der uns umgibt, mit dichterischem
Geiste.
Man kann den Standpunkt Herders, wie ihn die erste Auf-
lage der 'Fragmente' vertritt, durch dies Kennwort bezeichnen:
Winckelmann berichtigt durch Hamann. In der zweiten Auflage
der 'Fragmente' ist aber die Entfernung von Winckelmann
stärker geworden. In der Untersuchung über den Ursprung der
Dichtkunst (vgl. oben S. 101), die hier hineingearbeitet ist, taucht
das bedeutsame Wort 'genetisch' auf, und der frühere Roman
von den vier Lebensaltern der Sprache vertieft sich hier zu
einem Versuch, den Ursprung der Sprache zu ergründen. Zwischen
Winckelmann und Herder ist Leibniz getreten. Ich kann hier
nur die wichtigsten Tatsachen kurz andeuten, an denen dieser
denkwürdige Fortgang Herderschen AVeltverständnisses deutlich
wird. Von der literarischen Grundfrage, die das gesamte künst-
lerische Hervorbringen seit dem Zeitalter des Opitz beherrschte,
war der junge Schriftsteller ausgegangen. In die Erörterung
dieser rein literarischen Frage hatte sich die leidenschaftliche
Heftigkeit eines bis dahin verkannten und mifshandelten Innen-
vermögens eingedrängt: das Hamannsche Pochen auf die 'niederen
Seelenkräfte', die aber vor Gott die höchsten sind, und in denen
der wirkende Wert des Menschen sein stärkstes Organ besitzt.
Von Kant überkam Herder die analytische Methode, welche die
Begriffe, die uns 'sinnlich klar', aber — vom Standpunkt der
Erkenntnis betrachtet — 'verworren zugleich mit den Worten
überliefert sind', durch fortgesetzte Abstraktionen deutlich dar-
zustellen und zu zergliedern hat. Jedoch die analytische Me-
thode hat ihre Grenzen: Kant hatte vor einer Reihe von Be-
griffen Halt gemacht, die er als 'unauflöslich' bezeichnete, z.B.
Gedanke oder Vorstellung, Raum, Zeit, Dazu gehören auch
wegen ihres subjektiven Ursprungs die einfachen Gefühlsbegriffe:
gut, schön, häfslich, böse, erhaben u. s. w. Ist das logische
Denken gegenüber diesen unauflöslichen Begriffen ohnmächtig,
so lag darin erst recht eine Aufforderung, ihnen den Primat
gegenüber dem Intellekt zuzuerkennen. Das war in der Tat die
Ansicht Hamanns. War aber diese Unzulänglichkeit des Ver-
standes gegenüber den 'qualitates occultae' anerkannt, so war
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Der junge Herder und Winckelmanii.
125
weder eine Ethik noch eine Ästhetik als Wissenschaft möglich.
Diese notwendige Folgerung hatte denn auch Herder in der oben
erwähnten Abhandlung, 'dafs und wie die Philosophie für das
Volk nutzbar zu machen sei', mit Entschiedenheit gezogen, in-
dem er die Philosophie schlechthin verwarf und an ihre Stelle
die Anthropologie setzte, die nicht Logik, Moral, Politik, Meta-
physik zu lehren, sondern 'die Menschen im Selbstdenken und
im Gefühl der Tugend' zu bilden habe: man mufs so spät als
möglich die 'höheren' Seelenkräfte reifen lassen. Aber eine
solche Unterschätzung der Verstandeserkenntnis konnte Herders
geistiger Anlage für die Dauer unmöglich genügen, gerade seine
hervorstechend geschichtliche Richtung widerstrebte ihr. Und
war denn nicht eine ausgleichende Vermittelung jener beiden
Gegensätze, die Hamann so scharf geschieden hatte, ihm in der
Tat durch die eigene innere Erfahrung gegeben? War nicht
immer das Gefühl ihm der Same der Erkenntnis gewesen?
jenes sich einsinnende, einschmiegende Gefühl, das sich für einen
Augenblick ganz in den Gegenstand, dem es sich hingab, zu ver-
wandeln wufste, um dann wieder frei über ihm zu schweben und
die dunkle Gewilsheit intuitiven Empfindens zur Klarheit der
Vernnnftanschauung hinaufzuläutern? Wuchs nicht sein ganzes
Forschen aus den aufwallenden Ahnungen des erregten Gefühls
hervor? empfand er nicht bei allen Entdeckungen, die er machte,
bei allen Aussichten, die sich plötzlich auf taten, einen 'inneren
Schauder', arbeitete er nicht mit jener schmerzlich süfsen
'Zeugungsbrunst', die ihm kaum genug Ruhe liefs, die Fülle der
inneren Gesichte zu ordnen und zu klären? Fand er nicht
dieselbe Seelenfähigkeit fortwährend in sich wirksam, mit der
einst der primitive Mensch sich die Sprache erfand — jene
, Reflexion' oder 'Besonnenheit', welche ,in dem ganzen Ozean
von Empfindungen, der durch alle Sinne rauscht, eine Welle ab-
sondert, sie anhält«, die Aufmerksamkeit auf sie richtet ' und ihre
flüchtige Dauer zur sinnlichen Klarheit des perlenden Tropfens
verdichtet? Nein: Gefühl und Verstand können unmöglich in
ihrem Wesen sich entgegengesetzt sein: es sind nicht Unter-
schiede der Art, sondern nur Unterschiede des Grades der
Klarheit.
Was ihn die eigene innere Erfahrung so deutlich lehrte,
das brachte ihm zugleich ein kongenialer Geist in einem System
von bewundernswertem Aufbau entgegen. Dieser Geist hiefs
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Arnold E. Berger
Leibniz. Schon in Königsberg war Herder mit dessen Philo-
sophie bekannt geworden, aber die geschlossenste Darstellung
seiner Seelenlehre trat erst 1765 in den 'Nouveaux essais' ans
Licht, und Herders Schriften weisen sogleich deutliche Spuren
dieser Lektüre auf, die ich aber hier nicht verfolgen will. Für
unsem Zweck genügt es, zwei Tatsachen hervorzuheben, die für
das Verhältnis Herders zu Winekelmann entscheidend werden:
zur Grundlage aller Geisteswissenschaften wird ihm nunmehr
die Psychologie, und es wird Ernst gemacht mit dem univer-
salen Entwicklungsgesetz, mit der genetischen Betrach-
tung aller geschichtlichen Phänomene. Herder hatte sich schon
in Königsberg mit dem Problem der Kausalität in einer Weise
abgefunden, die ihn von Kant entfernte und zu Leibniz hin-
führte. Nämlich — so hatte er von Kant gelernt — das analy-
tische Verfahren ist nur unter der Voraussetzung möglich, dafs
alle unsere Begriffe, sobald sie einen Zusammenhang bilden, im
Verhältnis der logischen Identität stehen, d. h. dafs immer die
Folge schon im Grunde enthalten ist. Nun gibt es aber nach
Hume ein Begriffsverhältnis, in dem das nicht der Fall ist; das
ist die Kausalität. Ursache und Wirkung sollen angeblich in
einem logischen Zusammenhang stehen, dennoch ist es unmöglich
eine bestimmte Wirkung ans einer bestimmten Ursache durch
die analytische Methode zwingend zu entwickeln. Das Kausali-
tätsverhältnis ist demnach kein logisches Verhältnis. Gegen
diesen Kantschen Schlufs sträubte sich Herders religiöse Natur;
diese erhob das Postulat, dafs das Kausalitätsverhältnis kein zu-
fälliges, sondern ein notwendiges sei, und um diesem Postulat zu
genügen, eignete er sich den Leibnizschen Begriff der Kraft an:
wenn ich von der Folge zurückgehe auf die bewirkende Ursache,
so reicht dazu die logische Analyse (der Folge) allerdings aus;
will ich aber umgekehrt von der Ursache zur Folge fortschreiten,
so mufs ich der Ursache zugleich die (ihrem Wesen nach uner-
klärbare) Kraft substituieren, die die Folge als ihre sichtbare
Erscheinung setzt, d. h. aber: Wirkung und Ursache sind jetzt
nicht mehr logisch, in meinem konstruierenden Intellekt ver-
knüpft, sondern real, im Zusammenhang der lebendigen Wirk-
lichkeit. Herder bemerkte den Trugschluß; nicht, den er damit
beging, er bemerkte nicht einmal, dafs er so zum philosophischen
Dogmatiker wurde, während Kant immer entschiedener den Weg
zum Kriticismus einschlug; ihm war dieser Begriff der genetischen
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Der junge Herder und Winckelmann.
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Kraft nicht nur eine unentbehrliche Hilfskonstruktion zur ein-
heitlichen Zusammenfassung von tausend Einzelbeobachtungen,
sondern zugleich eine unabweisbare Folgerung aus der eignen
inneren Erfahrung und eine Befriedigung seines religiösen Bedürf-
nisses. Denn er verstand unter der genetischen Kraft fortan die
Fähigkeit, unter diesen und keinen andern Lebensbedingungen
sich die Welt, so weit sie irgend erreichbar ist, zu assimilieren
und alles Assimilierte wiederum in diese und keine andern Taten
oder Handlungen zu verwandeln, die an der Stelle, wo wir
stehen, notwendig und Manifestationen eines Immanent -Göttlichen
sind. Wie auf diesem Grunde seine Weltansicht sich erhob, wie
neben Leibniz der Engländer Shaftesbury dabei sein wichtigster
Helfer wurde, das ist hier nicht auszuführen; aber doch mutete
der philosophische Standpunkt hier kurz umschrieben werden,
von dem er nunmehr seine — durchweg mit der gröfsten Ehr-
erbietung geführten — Angriffe gegen Winckelmann ') richtete.
Er war mit Leibniz darin einig, dafs es keinen Dualismus von
Materie und Geist, von Leib und Seele, von Gefühl und Er-
kenntnis gebe, vielmehr nur eine kontinuierliche Stufenfolge
perzipierender Substanzen: alle Monaden tragen die Vorstellungen
des ganzen Universums in sich, doch verworren. Allen wohnt
das Streben inne, die unbewufsten Vorstellungen bewirfst zu
machen; die Klarheit der Vorstellung ist aber abhängig von dem
örtlichen und zeitlichen Standpunkt jeder Monade, d. h. ihre
Vorstellungen werden immer unklarer, je femer ihr die Dinge
liegen, auf die sie sich beziehen. So entsteht eine universelle
Einheit von unendlich fein differenzierten dynamischen Ab- •
stufungen: jedes einzelne Wesen hängt zusammen mit der ganzen
Welt, die Gegenwart ist von der Zukunft voll, und voll auch
von dem Vergangenen, und Gott liest 'in dem Kleinsten der
') Auch Winckelmann steht unter Lcibnizschem Einflufs, wie schon
v. Fürstenberg gesehen hat (Briefe von und an Klopstock herausg. v. Lappen-
berg. 1867. S. 265). Es erinnert auch an die Leibnizsche Psychologie, wenn
er etwa bemerkt, dafs die Fähigkeit der Schbnheitsempfindung bei angeheuder
Jugend wie jede Neigung 'in dunkele und verworrene Rührungen eingehüllet'
sei (WW2, 388), dafs 'die ersten Eindrücke die stärksten sind und vor der
Überlegung vorhergehen', dafs 'die allgemeine Rührung, welche uns auf das
Schöne ziehet, dunkel und ohne Gründe' sein kann (395 f.)- Aber im übrigen
sind die Leibnizschen Anregungen bei ihm anderswo zu suchen, und der Ent-
wicklungsgedanke ist ihm eben noch nicht in seiner vollen Tragweite auf-
gegangen.
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Arnold E. Berger
Substanzen die ganze Folge der Dinge der Welt'. Jede deutlich
erkannte Vorstellung kann wieder auf den Grund der Seele hin-
absinken und undeutlich werden, d. h. jedes Urteil kann durch
Übung wieder zum Gefühl werden. Jede Blüte, die zur Frucht
reifte und verfiel, kann wieder zum Samenkorn werden und neue
Keimkraft entfalten. Durch solche philosophischen Einsichten
gewann Herders Methode der Geschichtsbetrachtung eine aufser-
ordeutliche Vertiefung: aus der historischen Erklärung Winckel-
manns ging ihm die historische Entwicklung hervor, aus dem
Pragmatismus die genetische Betrachtung. Und Winckelmann
mufste sich gefallen lassen, sogleich von diesem neuen Stand-
punkt geprüft zu werden (H\V 2, 112 ff.).
Die zweite Auflage der ersten Sammlung der Fragmente
brauche ich nur zu streifen: Nachklänge aus Winckelmann sind
auch hier zu bemerken, doch keine neuen Anknüpfungen von
erheblicher Bedeutung (z. B. IIW 2, 31 unten; 44 im Anfang von
Abschnitt 9; 97 u. s. w.). Eine Bemerkung in Winckelmanns
* Versuch einer Allegorie ' (' die Sonne hat in den alten und in
den mehresten neuen Sprachen eine männliche Benennung, wie
der Mond eine weibliche u. s. w.' WW2, 442 f.) gibt ihm die An-
regung zu einem kleinen Exkurs über die Idiotismen des gram-
matischen Geschlechts (HW 2, 49); auf dieselbe Frage, die
übrigens auch im 62. Literaturbrief schon gestreift wurde, kam
er dann noch einmal einige Jahre später zurück in der Rezension
der Ossiantibersetzung von Denis (HW 5, 326 f.). Die Umarbeitung
der zweiten Sammlung bringt die Abrechnung mit Winckelmann,
allerdings mit dem Bewufstsein, dafs von ihrem strengen Richter
dasselbe gilt, was Herder in einem Briefe an Scheffner (Lebens-
bild 1, 2, 191) von Lessing sagt: 'er sitzt auf Winckelmanns
Schultern und sieht also gröfser und weiter.'
Die Griechen sind die 'Lieblinge der Minerva' (vgl. oben
S. 108), die ersten und einzigen, bei denen sich Kunst und Wissen-
schaft wie zu einem Staate gebildet, ein unerreichbares Muster
in allem, was sie besafsen. Doch wo sind Völker und Zeiten
vor ihnen, die Jahrtausende, in denen der menschliche Stand
sich erzog, wo die ursprünglichsten Formen des menschlichen
Geistes? Was wissen wir denn von dieser Geschichte des Alter-
tums, als was wir durch die Griechen wissen? und was wissen
wir durch diese, als was sie wissen konnten und uns wissen
lassen wollten? Wir sollen alles Altertum durch das Medium
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Der junge Herder und Winckelmann.
129
der griechischen Geschichte sehen und sehen also nichts als —
Griechen und Barbaren. Denn die Griechen schrieben Geschichte
nicht als Weltbürger für alle Zeiten und Völker, sondern für
Griechen, mit griechischer Feder, auf griechischen Glauben, mit
griechischem Auge, oft als Feinde, immer als Fremde. Die Frage,
welchen Platz die griechische Nation gegen andere Völker und
Zeiten habe, ist ungelöst. Man nuifs die griechische Geschichte
also als eine 'orthographische Projektion der ältesten Welt-
historie studieren — ein schweres und kaum angefangenes
Studium' (115). Deshalb ist uns die alte jüdische Urkunde ein
unschätzbares Denkmal des Altertums; hätten wir nicht das
Alte Testament, so wären wir in der Geschichte des Altertums
ganz Griechen. Die Literaturgeschichte hat für uns in Griechen-
land ihren strahlenden Aufgang, und doch kann die Geschichte
des menschlichen Verstandes dort nicht erst begonnen haben.
Was die Griechen von anderen Ländern empfingen, war gewifs
nur 'roher Same, der sich nach ihrem edlen Boden, unter ihrem
schöneren Himmel, an ihrer klaren Pierischen Quelle in eine
bessere Natur veredelt', auf jedem Gebiete der Literatur gaben
sich die Griechen eine Originalmanier. — aber welcher Barbar
hätte wohl eine nach griechischer Art gewollt? 'Wer, der das
Klima, die Sprache, die Regierung, die Lebensart, die Geschichte,
die Lokal umstände Griechenlands nicht hatte und nicht haben
wollte, wer von ihnen hatte und wollte seiner Zeit und seines
Orts eine Mythologie, Poesie, Philosophie, Politik, Musik, Rednerei
und Kunst nach griechischer Denkart?' 'Könnte also derechte
Geschichtsschreiber das barbarisch nennen, was den Griechen
dafür galt?' Darf er ein Lieblingsvolk haben, nach dessen Vor-
urteilen er alles abmifst? Um die Ungeschicklichkeit dieses
Standpunktes zu erweisen, wählt Herder 'das gröfste Beispiel',
aber auch 'das verzweifeltste von allen': die griechische Kunst,
in der Winckelmann 'das Ideal aller göttlichen und menschlichen
Schönheit findet und mit griechischem Geiste preiset'.
Winckelmann ist unter den Griechen ein Grieche, aber auch
unter den Ägyptern ein Ägypter? und unter den anderen Un-
griechen auch ihr Zeitgenosse und Landsmann? Nein: sein
Auge ist das eines Griechen, sein Ideal das der griechischen
Schönheit, nach dem er alles mifst und schätzt, das ihn blind
macht gegen die Verdienste anderer Völker. Kr ist in diesem
Verfahren grofs, und doch ist es •willkürlich und bequem'. Der
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Arnold E. Berger
Hauptzweck seines Werkes ist freilich die Geschichte der
griechischen Kunst, das Wesen ihrer Schönheit, folglich eine
Lehrgeschichte; aber könnte sie nicht gleichwohl unparteiisch
sein, hätte er nicht dennoch z. B. von den Ägyptern reden
müssen, als hätte er die Griechen nie gesehen? Und können
die Griechen wirklich die ersten Erfinder der Kunst heifsen?
verrät nicht ihre älteste Geschichte zu viele Spuren, dafs Fremde
in dem Laufe ihrer Erfindungen ihnen vorgetreten, Fremde sie
aus manchem Bedürfnis gerettet, ja bei ihnen die Kultur erweckt
und beschleunigt haben? So fehlt bei Winckelmann die Kette
der Mitteilung zwischen den einzelnen Völkern, sein Werk zer-
fällt fast in so viel Teile, als er Völker beschreibt, doch wir
sehen nicht den grofsen (rang der Kunst über alle Völker und
Zeiten hin. Herder wählt ein anschauliches Beispiel. Die regel-
mäfsigen, aber eckigen, harten, übertriebenen Linien des alt-
griechischen Stils hatte Winckelmann erklärt als 'auf ein
Systema von Regeln gebaut', denn die Wissenschaft in der Kunst
gehe vor der Schönheit voraus und müsse als auf richtige Regeln
gebaut mit einer genauen und nachdrücklichen Bestimmung zu
lehren anfangen. Herder fragt sehr richtig, wie denn nach dem
natürlichen Wachstum einer werdenden Kunst sogleich an die
ersten rohen Versuche die Wissenschaft grenzen könne, und ob
denn die strengste Wissenschaft in der Kunst allemal vor der
Schönheit vorausgehen müsse? Nein, weder in Kunst noch in
Poesie pflegt sich die Schönheit aus der Regelwissenschaft
hervorzudrängen, sie ruht blofs auf dunklen, aber desto
mächtigeren Begriffen des Augenscheins. Begreiflich wird aber
alles, wenn wir ein fremdes Regelsystem untergeschoben
annehmen, auf dem die Griechen fortbauten: der ältere
griechische Stil ist der herübergenommene ägyptische.
'Von wem bekamen sie Kultur, Gesetze, Götter, Wissenschaften,
Künste? die älteste griechische Geschichte ist voll davon: durch
fremde Kolonieen'. Winckelmanns Kunstgeschichte ist mehr
'Lehrgebäude', als es eine Geschichte sein darf. Und nun deckt
Herder die Fehler Winckelmanns in der Besprechung der
ägyptischen Kunst auf; nicht was ihnen zu den Griechen fehlte,
will er, Herder, ermitteln, sondern das, worin sie Ägypter
waren, das Ungriechische, was ihnen zu ihrem nationalen Stil
gut und notwendig war. Es folgt eine Reihe geistvoller Be-
richtigungen Winckelmanns, und genial ausgeführt ist der
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Der junge Herder und Wiuckelmaun.
131
originelle Einfall (HW 2, 133 f.), einen Ägypter das Wort er-
greifen zu lassen, der in ein griechisches Museum eintretend von
Stellung, Handlung, Bewegung und Ausdruck dieser Denkmäler
aufs äufserste erschreckt, gerührt und verwirrt wird, aber am
Ende beängstigt und zurückgestofsen von diesem verewigten
Einerlei der handlungslosen Handlung und der sich nicht be-
wegenden Bewegung sich wieder beruhigt seinen grofsen, regungs-
losen Götterbildern zuwendet, die ihn mit tiefer, schweigender,
ungestörter Kuhe empfangen: nur in der Ruhe wohnt Ewigkeit.
Herder ist hier in der Tat 'mit den Ägyptern ein Ägypter' ge-
worden. 1 ) Es wäre nun zu untersuchen, wie die Griechen das,
was sie von anderen Völkern empfangen, so vortrefflich 'in ihr
gesunderes Blut zu verdauen gewufst haben'. 'Sie, die selbst
im Nachahmen Original waren', seien uns Muster, alles An-
geeignete in unsere eigenste Natur zu verwandeln. Damit lenkt
Herder wieder zur Literatur hinüber, und die Fortsetzung seiner
Betrachtungen bietet für unseren Zweck keine Ausbeute mehr.
Bevor wir von den 'Fragmenten' Abschied nehmen, seien
noch eine Anzahl einzelner Stellen vermerkt, in denen auf
Winckelmaun Bezug genommen ist. Dem Stil Mosers wird die
Geschicklichkeit gewünscht, 'die wassersüchtige Fülle in einen
Körper zu verwandeln, wo volle, gesunde Adern unter einer
feinen Haut sich verbergen' (HW 1, 221; vgl. dazu z. B. WW 1, 18).
Bei Gelegenheit Hamanns bemerkt Herder, dafs 'Erfindung und
Zeichnung Früchte der Denk- und Sehart' seien und verdeutlicht
das an dem Beispiel zweier Maler, des Barocci und Guercino.
Jener malte 'grünes Fleisch' (HW 1,229; vgl. 'Barocci, dessen
Fleisch ins Grünliche fällt' WW 2, 392), dieser ein 'trauriges
Kolorit' (vgl. WW 2, 393: 'das Kolorit, welches . . . stark, trübe
und vielmals traurig im Guercino erscheint ').' 2 ) Auf die Sprache
überträgt Herder gern die Terminologie der bildenden Kunst.
So spricht er z. B. von der Ordnung zerstückter Bilder, die man
'in der Perspektive eines Gleichnisses zeichnen' müsse (1, 271);
oder von Klopstocks 'Malereien auf der Oberfläche' (1, 296); von
Homer rühmt er, dafs er 'jede Schönheit seiner Bildung tief
eindrückt und seine Ideen nicht malt, sondern mit lebendigen
Körpern umhüllt, die von Morgenröte strahlen' (297). Wenn
») Verkürzt nahm Ilerder diese Ausführungen in die Schrift 'Auch eine
Philosophie' hinüber (in den Abschnitt über die Ägypter). Vgl. auch HW8,yö.
*) Herder kommt darauf zurück HW 8, 251.
d*
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Arnold E. Berger
man den Ausdruck 'vor dem Gedanken behandelt, so wird leicht
jene tote Bildsäule des Stils daraus, die ohne Fehler und ohne
wahrhaftig eigne Schönheiten, ohne Leben und ohne Charakter
dasteht ' (1, 414). Er verlangt eine Darstellung Herodots aus
seinem Zeitalter heraus, 'nicht wie ein Schattenumrifs an der
Wand, sondern im lebenden Bilde', und je mehr er Herodot
kennen lernt, desto ehrerbietiger nähert er sich ihm 'wie jener
antiken Bildsäule des Janus, der mit einem Antlitz ins Land der
Poeten zurück, mit dem andern in eine neue Welt hinsieht, in
ein werdendes Zeitalter der Prosa' (2,85). Vgl. ferner: 'ohne
Religion wäre sein Bild ein Schattenrifs ' (32,9). Von charak-
teristischen Wortbildungen, die Herder aus Winckelmann ent-
lehnte, haben wir 'Grofsheit', 'Gewächs' und 'Lehrgebäude'
kennen gelernt. Dahin gehört auch 'Stand' (für 'Stellung'), eiu
bei Winckelmann sehr häufiger Ausdruck, den Herder z. B. 2, 125
sich aneignet. Das bei Hamann, Herder, Goethe, Sturz u. a.
beliebte, aus der Bibelsprache entlehnte 'schmecken' im Sinne
geistigen Geniefsens begegnet bei Winckelmann wiederholt
(WW 9, 70. 257. 382). Auf die Schreibweise des jungen Herder
hat wohl neben Hamann Winckelmann den stärksten Einflufs
geübt, doch würde ein solcher Nachweis eine eigene stil-
geschichtliche Untersuchung erfordern.
In der Denkschrift für Baumgarten, Heilmann und Abbt
(HW 32, 175 ff. 2, 251 ff.) überträgt Herder seine psychologisch-
kulturgeschichtliche Methode auf das Feld biographischer Dar-
stellung. Auch hier umschwebt ihn der Genius des Schöpf ers
der Kunstgeschichte. 'Ich habe — so schrieb dieser 1757 aus
Rom (WW 9, 228) — einige Zeit her fast mit niemand als mit
dem Plato, meinem alten Freunde, gesprochen'. Er hatte
schon als Schulmeister Gleichnisse aus dem Homer 'gebetet' und
den 'Göttlichen' zu wiederholten Malen 'mit aller Applikation'
ganz durchgenossen. Schon 1757 wurde er in der griechischen
Gelehrsamkeit nach seinem eigenen Geständnis 'für den Gröfsten
in Rom gehalten' (WW 9, 231), in der Lektüre der Alten hatte
er sich vom Geiste des Griechentums erfüllen und durchdringen
lassen, er war in der Tat mit den klassischen Kunstwerken
'wie mit seinem Freunde vertraut' geworden. Auch Herder
sitzt am Grabe jener drei teuren Verstorbenen, er hält ihre
Schriften in der Hand und er liest, in der Stille ihr Andenken
feiernd. Er liest, wie wenn er Stimmen hört aus den Gräbern,
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Der junge Herder und Winckelmann.
133
er hört ihre Stimmen, wie wenn ihr Bild vor ihm seh wehte.
Ihr Geist nimmt die geschriebenen Worte zu seiner Hülle und
erseheint ihm und wirkt in seine Seele. Er fühlt einen Strahl
des Lichtes in ihm aufgehen, in seinen Adern einen sprühenden
Feuerfunken, sein Herz schlägt, er wird 'ihr Freund, ihr
Schüler, ihr Nacheiferer'. Er bekennt, dafs ihn bei dem
Andenken dieser Männer eine 'stille Gröfse' fesselt. Das
Idealbild, wie es in seiner Seele lebt, sucht er nun als Künstler
vor die Augen der Menschen zu stellen, an ihren Gräbern 'ihr
Denkmal in der Stille zu errichten'. Auf ein 'Denkmal' war es
abgesehen, der Fragmentist hat nur einen 'Torso' geschaffen.
Aber mit welcher Begeisterung hat er sein Ideal dennoch hin-
gestellt: 'Ist das Bild im Kopfe entworfen, so können freilich
aus der Kammer des Herzens Säfte heraufwallen, um dasselbe
mit Farben zu tuschen und auszumalen, die einem trockenen
Kopfe nicht gefallen dürfen'. Vielleicht ist es kein 'ikonisches',
sondern ein 'Idealbild', was er entwirft, aber doch darf er ver-
sichern, 'dafs die Andacht, mit der er schreibt, nie die Stille
wegstürme, mit der er denkt'. Die methodischen Hauptsätze
dieser Schrift wurzeln in der Leibnizschen Psychologie, sie ver-
leugnen aber auch die Beziehung zu "Winckelmann nicht.
Eine Menschenseele ist ein Individuuni im Reiche der Geister,
sie empfindet also nach der einzelnen ' Bildung ' und denket nach
der Stärke ihrer Organe. Ihre Denkart ist gleichsam ein ganzer
Körper, in dem die Naturkräfte die spezifische Masse sind,
welcher die Erziehung des Menschen Gestalt und Figur mitteilet.
Nach gewissen Jahren der Formung kann das spätere Lernen
selten die ganze Gestalt der Glieder verändern, um so mehr aber
bewirken, 'diesem Körper uusrer Denkart Kolorit und Stellung
und Gewand zu geben'. Wer uns eine menschliche Seele ge-
wissermafsen als plastisches Kunstwerk, als körperliche Er-
scheinung darzustellen verstünde, der hätte mehr geleistet, als
Parrhasius (vgl. oben S. 101) und Aristides ('der Maler der Seele',
vgl. WW 1, 55 f. 202. 6, 113. HW 8, 107). Wie ein Maler die eigenen
Züge seines Gegenstandes aufspürt, um ihm seine Gestalt vom
Antlitz zu reifsen, so mufs der Biograph 'die Originalstriche seines
Autors studieren' und dies wahre Bild an seinen wahren Platz
im Range der Geister stellen. 1 ) Und weifs er sein Bild auch
') Wenn er fordert, dafs der Biograph der Vertraute der Geheimnisse
seines Helden sein und ihn doch 'fremd wie ein müfsiger Zuschauer' müsse
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Arnold E. Herger
redend zu machen, dafs es in die Seele spricht und sich mitteilt,
so wird er ein Wundertäter, denn die wahre Weisheit pflanzt
sich 'wie durch einen Kufs aus dem entkleideten Geiste des
Andern' in den unsrigeu. Das Bewußtsein unser selbst ist ja
lebendig, aber verworren; doch wohl erkennen wir uns und fahren
aufser uns, 'wenn ein Bild unser selbst, unser zweites Ich, uns
aufstöfst\ Dann erkennen wir uns 'wie in der platonischen
Erinnerung aus dem himmlischen Reich der Geister'. So war
es Winckelmann mit den Kunstwerken der Alten ergangen, in
denen er sein Gemiitsideal 'Einfalt und Stille' herrlich ver-
wirklicht fand, ähnlich war es Herder mit Winckelmann selbst
bisweilen ergangen, so erging es ihm auch mit Abbt, der ihm
'Gedanken aus seiner Seele entwandt zu haben' schien. Daher
das Gefühl der Kongenialität als erste Forderung der biographischen
Kunst. — Auch in dieser Denkschrift entlehnt Herder charakte-
ristische Vergleiche aus der bildenden Kunst. Er lobt Baumgarten
wegen seiner 'harten und festen Andeutung der Begriffe ' (2.93).
und dieser 'ungekünstelte viereckige Umrifs, der auf nichts als
Wahrheit geht', gewährt mehr Vergnügen, 'als alle Hogarthschen
Schönheitslinien', 'als aller Stil, der sich krümmet und windet,
mit Farben spielt '. Sein Stil hat Ähnlichkeit mit dem der altera
Bildhauerei, 'da die Zeichnung nachdrücklich, aber hart, mächtig,
aber ohne Grazie war, und wo der starke Ausdruck die Schönheit
verminderte' (wörtlich entlehnt aus Winckelmanns 8. Buch:
WW 5, 225). Aus Winckelmann entlehnt Herder auch den Satz,
der die Eigenart des Baumgartenschen Stils begründen soll:
'Wie in Erlernung der Musik und [der] Sprachen dort die Töne
und hier die Silben und Worte scharf und deutlich müssen an-
gegeben werden, um zur reinen Harmonie und zur flüssigen Aus-
sprache zu gelangen, ebenso führet die Zeichnung nicht durch
schwebende, verlorene und leicht angedeutete Züge, sondern durch
männliehe, obgleich etwas harte und genau begrenzte Umrisse
zur Wahrheit [und zur Schönheit] der Form' (wörtlich nach
beobachten können, unparteiisch und doch mit einem 'kleinen Grad von ver-
liebter Schwärmerei' (2, 260), so klingt das an au Hamanns 'Sokratische Denk-
würdigkeiten' (Roth 2, 10), wo vorgeschlagen wird, die Philosophie nach den
Schattierungen der Zeiten. Köpfe, Geschlechter und Völker historisch zu ver-
folgen, aber 'nicht wie »in Gelehrter oder Weltweiser selbst, sondern als ein
mttfsiger Zuschauer ihrer olympischen Spiele' (vgl. übrigens WW 4, 32 f.),
und dazu gehöre 'ein wenig Schwärmerei und Aberglauben'.
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Der junge Herder und Winckelmann.
135
WW 5. 234). Und wiederum mit einer Winckelmannschen
Wendung findet Herder, 'dafs ihm das B<*zeiehnungsvermögen
zugewogen wäre und nur ebenso viel, als zur äufsersten
Richtigkeit nötig war' (vgl. 'der Ausdruck wurde der Schönheit
gleichsam zugewogeu' WW 4, 138. 7, 195 f.). Wenn Herder vor-
schlägt, die Ästhetik Baumgartens auf die Einfalt und Mäisigung
des Aristoteles und Longin zurückzuführen, so meint er, dafs sie
damit 'Manches an Dunst und überflüssigem Ansatz' ver-
lieren, aber auch an Wesen und Schönheit gewinnen müsse (vgl.
dazu in Winckelmanns 'Gedanken': 'Die Körper erhielten durch
diese Übungen den grofsen und männlichen Kontur, welchen die
griechischen Meister ihren Bildsäulen gegeben, ohne Dunst und
überflüssigen Ansatz' WW 1, 10). In dem Torso für Abbt
wird der griechische und der moderne Frosastil fein gegen ein-
ander gehalten: der griechische Stil sagt alles deutlich und
klar, in sprechenden Bildern; der moderne deutet an, spielt mit
einer reicheren Fülle von Beziehungen und läfst mehr erraten,
als er ausspricht. Um das zu verdeutlichen, greift Herder nach
Winckelmannschen Prägungen. Der erste Vorzug des Stils der
Alten ist 'ihre Einfalt, dafs sie nicht in Bildern reden, sondern
Bilder geben und jedes so weit ausführen, als sie es brauchen,
und wenn sie bei diesem Bilde sind, ganz in demselben zu sein
wissen' (2, 278; vgl. dazu oben S. 113). Diesem griechischen Stile
'des ganzen einfältigen Ausdrucks' steht der moderne gegenüber
als 'der Stil der Verkürzungen'. Winckelmann hatte ge-
warnt, in starken Verkürzungen die Schönheit zu suchen, 'denn
sie verbergen, was sichtbar sein sollte' (WW 2, 423 f. 4, 233), aber
nach Herder pafst dieser Stil mehr für unsere Zeit, in der es
nur wenigen glücken dürfte, 'dieser griechischen Grazie so zu
opfern 1 ), dafs sie alles, was sie sagen, ganz sagen'. Bei dem
Stilisten Abbt, bei dessen ' Hogarthschen Schönheitslinien mit
sanften Wellen, reizenden Schlängelungen, abwechselnder Farbe '
») Auch dies ein Lieblingsausdruck Herders, den er bei Winckelmann
finden konnte (z. B. WW 2, 417. 4, 136. 5. 247 u. ö.). Herders Jugendgedicht
'Ein Opfer den Gratien heilig', 1764, also vor der Lektüre der Kunstgeschichte
entstanden, ist von Winckelmauns Grazienbegriff noch nicht berührt, allenfalls
in den Versen 'die Stirn sei hoch, die Lippen mit Suada begossen, jeder
Gedanke des Haupts geformt nach hoher Einfalt' ist ein Wiiiekehuannscher
Klang zu spüren. Der Kommentar E. Naumanns (Festschrift zur lüüjähr. Jubel-
feier des Kgl. Friedr.- Wilh.- Gymnasinms zu Berlin. 1897. S. 64 ff.) war mir
nicht zugänglich.
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136
Arnold E. Berger
verweilt er mit besonders geschäftiger Liebe, ist es doch eine
oratio pro domo, in der er seinen eigenen eigensinnigen 'Stil der
Verkürzungen* zu verteidigen hatte. Wie trefflich Winckelmann
die Maxime auszuüben verstand, dal's man mit Feuer entwerfen
und mit Phlegma ausführen müsse, das hatte Herder hoch an
ihm gerühmt (oben S. 103), gewifs nicht ohne heimlichen Neid,
denn verräterisch klingen seine Worte an Ilamann (Hoffmann
S. 31): 'Ich gestehe gern, dafs ich das Phlegma eines homme
d' esprit noch gar nicht mit dem Enthusiasmus des Genies zu
verbinden weifs'. Auch in dem Aufsatze über das Schuldrama
(IIW 2, 311 ff.) treffen wir auf eine Winckelmannsche Spur. Im
Hinblick auf Lessings 'Philotas' fordert er statt 'Schuldrama'
oder • Kindeidrama ? das 'Jünglingsdrama': Jünglingscharaktere
und Jünglingssituationen von Jünglingen vorgestellt. Im Jünglings-
alter lebt recht die Bühne: hier der Funke zu Leidenschaften
und die Anlage zu Verwickelungen, hier die freiesten Charaktere,
hier Gut und Böse wie es ist, hier die Lieblingslaunen der Unart,
Biegsamkeit und Härte, hier endlich die lebhafteste Teilnehmung.
Cm Äufserung des Geistes, die Leidenschaft der Charaktere ist
es zu tun : ' in welchen Lebensaltern wird sie wohnen ? in denen,
da der Keim sprofset oder ausgebreitet dasteht; in dem, wo
sich die Knospe auftut oder blühet, im Jüngling- oder im
Mannesalter. Nun kann das Jünglings- sich nahe an das Knaben-
alter herabneigen und das Männliche sich nahe ans betagte Alter
erheben, aber weder der wahre Knabe noch der abge-
storbne Greis kann als ein solcher das Hauptsujet und eine
durch sich wirkende Triebfeder des Ganzen werden. Wohl aber
Mann und Jüngling!' 'Und so wie hier der kriegerische Jüngling,
Knabe an wildem Feuer und Mann an Heldenmut, kann es so
nicht in jeder Form der Denkart Jünglinge geben, in denen
die ganze menschliche Seele in aller Jugendkraft wirkt, der als
kindischer Mann und als männliches Kind, als ein ausschweifender
Liebenswürdiger und als ein liebenswürdiger Ausschweifender
alle unsre Zurückerinnerung wecket, den Rest unsrer
Jugendkräfte aufruft und uns sympathetisch in die Jugendfreuden
und kindischen Heldentaten der Morgenröte unsres Lebens
zaubert?' Herder wäre selbst durch das Lessingsche Trauerspiel
nicht auf diesen wunderlichen Einfall gekommen, wenn ihn nicht
Winckelmanns Lehre vom Götterideal darauf geführt hätte, 'jener
Zustand einer ewigen Jugend und des Frühlings des Lebens,
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Der junge Herder und Winckelmann.
137
wovon uns selbst das Andenken in späteren Jahren
fröhlich machen kann'; 'ein schönes jugendliches Gewächs
erweckete Zärtlichkeit und Liebe, welche die Seele in einen
süfsen Traum der Entzückung versetzen können' (WW 4, 72). Die
Darstellung der frühen Kindheit und des greisen Alters wurde
der bildenden Kunst von Winckelmann wie von Lessing (und
später von Goethe) verwehrt. Das Ideal männlicher Jugend ver-
einigt aber nach Winckelmann 'die Stärke vollkommener Jahre
mit den sanften Formen des schönsten Frühlings der Jugend',
'es zeigt Stärke, Kühnheit, Feuer und Männlichkeit im Keime,
gemildert durch den unschuldigen Reiz der Jugend', und selbst
'die Gottheiten im männlichen Alter werden durch solch eine
idealische Jugend verjüngt' (WW 4, 80 f. 94 f. 6,305). Sogar die
Vergleiche vom sprossenden Keim, von der aufblühenden Knospe
und der Morgenröte sind aus Winckelmann genommen (vgl.
WW 4, 81. 112. 6, 313).
Die Gedankenfäden der 'Fragmente' und des 'Torso' spinnen
sich in die 'Kritischen Wälder' hinüber (vgl. HW 3, VIII f.).
Der Entwurf eines Wäldchens über Winckelmanns Geschichts-
werk hat sich erhalten (HW 4, 201 ff.); wir haben einiges daraus
bereits aus der 2. Auflage der 'Fragmente' kennen gelernt. Wie
weit kann eine Geschichte 'Lehrgebäude' sein? um diese Frage
dreht sich die Erörterung zunächst. Herder sucht sie durch eine
vergleichende Kritik der griechischen Historiker und mit Hinblick
auf 'den gröfsten Geschichtschreiber unter den Neueren', auf
Hume zu lösen. Er hat diese Betrachtungen in dem 'Denkmal
Winckelmanns' (1778) wieder aufgenommen. Eine Geschichts-
darstellung mufs zugleich Lehrgebäude sein, denn man kann die
plane Folge der Begebenheiten nicht erzählen, ohne ihr inneres
Verhältnis, ihren pragmatischen Zusammenhang aufzusuchen.
Das Band zwischen Ursache und Folge wird aber nicht gesehen,
sondern geschlossen, und diese Schlufskunst ist nicht mehr Ge-
schichte, sondern Philosophie. So sind Geschichte und Lehr-
gebäude eigentlich grundverschieden, sind vollends verschieden,
wenn eine grofse Reihe Begebenheiten zu Einer Absicht, in
Einem Plan mit einer gewissen Übereinstimmung der Teile ver-
knüpft werden. Ein solches Lehrgebäude nach dem Mafsstabe
Eines Verstandes kann unmöglich in allem einfache und klare
Geschichte sein. Dann wird der Geschichtsschreiber zum ' Schöpfer,
Genie, Maler, Künstler'. Haym hat bemerkt (1,225 f.), dafs
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138
Arnold E. Berger
Herder hier auf Anregungen Abbts in den Literatlirbriefen,
Kants und Humes fufst; er hätte hinzufügen dürfen, dafs auch
Hamann gelegentlich einen ähnlichen Standpunkt geltend macht
an Stellen wie diese: 'Einen Körper und eine Begebenheit bis
auf ihre ersten Elemente zergliedern, heifst Gottes unsichtbares
Wesen, seine ewige Kraft und Gottheit ertappen wollen. Wer
Mose und den Propheten nicht glaubt, wird daher immer ein
Dichter wider sein Wissen und Wollen, wie Button über die
Geschichte der Schöpfung und Montesquieu über die Geschichte
des römischen' Reichs' (Roth 2, 17). Wenn aber Herder erklärt,
die Geschichte sei die beste, 'in welcher, was in ihr Geschichte
und Lehrgebäude sei, als ganz verschiedenartige Dinge zwar
verbunden, aber auch kenntlich unterschieden und der Grad an-
gegeben werde, was der Verfasser als Geschichte geschöpfet und
als Lehrgebäude hinzugedacht habe', so können vor dieser
Forderung nicht nur Winckelmann und Hume, sondern auch
seine eigenen geschichtsphilosophischen Arbeiten nicht bestehen.
Im 'Denkmal' führt er denn auch den Nachweis, dafs 'eine
Geschichte der Kunst, die ganz und wahr und vollständig sei',
überhaupt nicht geschrieben werden könne; dafs die Methode
Winekelmanns. aus den bekannten Nachrichten und Denkmälern
Unterscheidungszeichen zwischen Völkern, Zeiten, Klassen, Stil-
arten festzusetzen, danach zu ordnen und zu beschreiben und so
idealische historische Lehrgebäude zu liefern, die einzig mögliche
sei. Kleine Fehler in Nebensachen können auch einem Werke
nicht schaden, welches nicht eigentliche absolute Geschichte ist,
aber gröfser ist der Schaden, sobald in den Unterscheidungs-
zeichen, in den National- und Kunstcharakteren gefehlt ist. Und
in reiferer Ausführung nimmt er hier die oben besprocheneu
Einwendungen gegen den Griechenstandpunkt Winekelmanns
wieder auf. Die Griechen sollen sich ihre Kunst selbst erfunden
haben, einem fremden Volke nichts schuldig sein? Dafs jedes
Volk sich selbst Kunst erfinden könne, ist zweifellos, aber ist es
historisch erweislich, dafs sie ein jedes sich erfunden habe?
Kunst und Kunst ist nicht dasselbe. Klötze, Hölzer, viereckige
Steine sind keine Kunst und brauchten keine zu werden. Die
Frage ist also: wer schuf zuerst ein Kunstwerk als solches?
wer stellte das Mechanische der Kunst fest und gab davon
Vorbild? wer leitete auf die Idee, die Kunst etwa zum Gottes-
dienst zu brauchen, und ging also in Gewohnheit und Anwendung
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Der junge Herder und Winckelmann.
139
derselben vor? Die Erfindung ist immer nur ein Kind der
äufsersten Notdurft: so lange es irgend angeht, behilft sich
ein Volk mit Tradition, Erbteil, Nachahmung und Lernen.')
Jedes Volk kann sich Sprache, kann sich Götter erfinden,
aber hat es dieselben erfunden? Die griechischen Götter stammen
nach Herodot aus Ägypten (vgl. WW 1, 170); konnten sie nach
Griechenland kommen ohne den Begriff der Bilder und Gestalten,
unter denen sie verehrt wurden? Asieu und Ägypten hatten
Abgötterei, Kunst und Baukunst, da Griechenland noch in
Barbarei lag. Der alte griechische Stil ist der ägyptische (gegen
WW 3, 14. 7, 3). Die ägyptische Kunst ist 4 wahrscheinlich nur
aus den Mumien entstanden', ihre Statuen sind Bilder der Toten,
ihre Tempel heilige Katakomben. Das fragmentarische Wäldchen
führt iu seiner glücklichen Ergänzung Winckelmanns noch weiter
und bereichert seine Methode mit einem neuen fruchtbaren
Begriff. Der unleugbare Einflufs des Klimas auf die Bildung
der Schönheit wird von Winckelmann überschätzt, denn unter
einerlei Klima gibt es so verschiedene Bildungen, als es Provinzen
und Menschengeschlechter gibt; es müfste ja dann auch Länder
der Schönheit ohne Ausnahme geben, die Schönheit könnte auch
nicht in einem Lande ausarten und allmählich verschwinden u.s. w.
Die tätig bildende Ursache der Schönheit ist die menschliche
Seele selbst, die sich im Mutterleibe einen Körper bildet (vgl.
dazu das platonische Märchen HW 1, 45). Sie wirkt diese Bildung
durch ein weit näheres Medium als das Klima, durch das Medium
der Generation. Es gibt Geschlechter, in denen die Schönheit
erblich ist, ein solches waren die Griechen; und wie sie sich
ihres edlen Stammes bewufst waren, lehren ihre Mythen und
ihre Dichter, welche ihre Leibesschönheit von den Göttern ab-
leiteten. Die Schönheitsgestaltung war ihr Nationaleigentum,
nach dem sie auch ihre Schönheit«- und Kunstideen bildeten.
Bei allen Völkern ist das Siegel der Nation, der Gattung, des
Geschlechts ungleich kenntlicher als das Gepräge des Klimas. 2 )
Nichts beeinträchtigt diesen Nationalcharakter mehr als Wanderung
und Vermischung, die z. B. die nordischen Nationen ihrer Bildung
beraubten. Winckelmann hätte, statt nach dem griechischen
Nationalbegriffe zu urteilen, besser gezeigt, wie die Griechen
') Auch Hamann (Roth 2,2(50) bestreitet den Gemeinplatz , dafs die
Notdurft 'eine Erfinderin der Bequemlichkeiten und Künste' »ei.
*) Vgl. dazu HW 8, 48.
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Arnold E. Berger
'vor allen andern ihre Begriffe der Schönheit genutzt, erhöht
und gebildet' haben. Den Nachweis, 'warum unter allen Völkern
kein einziges in Bildung und Ideen der Schönheit Griechenland
geworden', hat Winckelmann nicht erbracht; alles Verdienst der
Griechen hält nicht schadlos für die Frage: 'wie vieles von dem
Ruhme dieses Volkes beruht auf ihrer vorteilhaften Stelle?' wie
sind sie in der Kette der Mitteilung der Kultur die Gröfsten
geworden, die sich die Vorwelt zu eigen machten und die Nach-
welt mit ihrem Vorbild erfüllten? Winckelmann ging mehr auf
eine historische Metaphysik des Schönen aus den Alten, ab-
sonderlich den Griechen aus. als auf wirkliche Geschichte.
Die beiden Wäldchen gegen Klotz (HW 3, 189 ff. 305 ff.) ent-
halten geistvolle Anwendungen der eben entwickelten Methode
auf die Geschichte der Literatur und der Münzen. Von Homer
sind wir durch zwei Jahrtausende getrennt : Juden und Christen,
Morgenländer, Franzosen, Briten, Italiener und Deutsche haben
'unser Gehirn von der griechischen Denkart weggebildet'. "Wie
gelehrt mufs also ein Auge sein, um Homer ganz in der Tracht
seines Zeitalters zu sehen; wie gelehrt ein Ohr, ihn in der
Sprache seiner Nation so ganz zu hören, und wie biegsam eine
Seele, um ihn in seiner griechischen Natur durchaus fühlen zu
können. Klotz hatte die alberne Behauptung aufgestellt, dafs
Homer durch Einführung lächerlicher Episoden, wie der des
Vulkan und Thersites, der Würde des Epos Eintrag getan habe.
Was aber den Vulkan betrifft, so war das homerische Götter-
ideal nichts weniger als das Ideal höchstvollkommener, geistiger,
allerhöchster Wesen. 'Sie haben alle ihren Charakter, der nach
Körper und Seele, nach Stärke und Denkart, nach Würde und
Neigungen, nach Ansehen und Verrichtungen so bestimmt ist,
als die Namen, die sie führen, oder die Partei, die sie im homerischen
Gedicht nehmen' (HW 3, 207. vgl. 8,37. 50 f.). Herder fufst hier
auf Winckelmann, welcher festgestellt hatte, dafs die Bildung
der Gottheiten 'unter allen griechischen Künstlern dergestalt
allgemein bestimmt war, dafs dieselbe scheint durch ein Gesetz
vorgeschrieben gewesen zu sein' (WW 4, 135); und diese Typen
standen so fest, dafs mau die einzelnen Gottheiten schon aus
dem kleinsten Teile ihres Gesichts zu erkennen vermochte: so
würde man Apollo schon an der Stirn, Juppiter an den Haaren
seiner Stirn oder an seinem Bart erkennen können, wenn sich
Köpfe fänden, von denen weiter nichts erhalten wäre (vgl.
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Der junge Herder und Winckelmann.
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\VW 4, 96). Herder überträgt diesen formalen Idealtypus in die
Poesie und folgert: 'Wie bei den alten Künstlern die Bildung
jedes Gottes ihr eigentliches Ideal, ihre Gestalt bis auf Bart
und Haupthaar hatte, so sind auch im Homer ihre Charaktere
gleichsam eine Reihe von eigentümlichen Brustbildern, von
Wesen, wo jedes aus sich, wo keins wie ein drittes handeln
mufs\ 'Man streiche in der ganzen Iliade alle Namen der
Götter und Göttinnen aus; ich will jedes von ihnen aus
ihren Reden und Handlungen erraten; und es kann aus
Homer eine solche Galerie von dichterischen Idealen seiner
Götter erbauet werden, als Winckelmann seine Ideale derselben
aus der Kunst aufstellet'. Von diesem Standpunkt aus sucht
Herder die Szenen des Vulkan zu rechtfertigen und zu zeigen,
dafs auch die Szene des Thersites durchaus an ihrem rechten
Ort stehe und in ihrem Kolorit national griechisch sei. Der
echte Kunstrichter braucht eben 'mehr als des Nikomachus
Auge, um Helena anzuschauen' (HW 3, 233; vgl. oben S. 100).
Nach Winckelmann (WW 4, 239) macht Herder die Bemerkung,
dafs den Griechen das Pferd als ein sehr würdiges Geschöpf
und Pferdeverrichtungen für sehr edle Hantierungen galten, uns
aber nicht mehr: wir können demnach unseren Gott nicht mehr
als Rosselenker bilden, wie die Griechen den Juppiter (3, 254).
Der Satz 'wenn Allegorie Wahrheit einkleiden soll, damit sie
mehr einnehme und stärkeren Eindruck mache, so mufs sie die-
selbe nicht verdecken und den Augen wegstehlen' (3, 205) beruht
auf Winckelmanns 'Gedanken' (WW 1, 62). Auch das charak-
teristische Winckelmannsche Bild vom 'fliegenden Jucken in der
Haut' bringt Herder hier wieder (3,268; vgl. oben S. 100); er
kommt noch einmal mit ausdrücklicher Beziehung auf Winckel-
mann darauf zurück in der Schrift 'Vom Erkennen und Em-
pfinden'. Klotz hatte vorgeschlagen, an Stelle der Mythologie
Allegorieen einzuführen, Herder aber verwirft jetzt diesen Vor-
schlag, den er früher (HW 1, 451) selbst gemacht hatte. — Auch
in der ' Schamhaf tigkeit ' hielten die Griechen ' eine gewisse schöne
Mitte zwischen Morgenländern und Römern. Die asiatische Hitze,
in etwas abgekühlt durch die europäische Mäfsigkeit, bestimmte
den mittleren Ton einer warmen Liebe, einer sanften Wohllust,
der Materien dieser Art bei ihnen durchgängig zu charakterisieren
scheint' (HW 3, 290; vgl. WW 3, 58 ff. 4, 511). Bei ihnen bildete
sich, wie Winckelmann gezeigt hatte, 'eine eigene Sittlichkeit
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Arnold E. Berger
des Nackten' aus (298). Die Auslegung einer Horazischen Ode
nach Seele, dichterischer Absicht, individuellem Ton. Harmonie,
in der 'jeder Gedanke von seiner Stelle Stärke empfängt' (3, 330),
verfährt durchaus nach dem Muster, welches Winckelmann für
die Auslegung von Kunstwerken aufgestellt hatte (vgl. oben
S. 119 f.). Auch in der vergleichenden Geschichte des 'Münz-
geschmacks' begegnen uns Anknüpfungen an Winckelmann:
,Das griechische Auge suchte Schönheit, eine griechische Seele
Weisheit in Schönheit, und so ward auch ihre Münze der Schön-
heit und der schönen Weisheit, der Allegorie, gewidmet' (3,390;
vgl. WW 1, 32 u. ö., über die Münzen z. B. 4, 133 f. 5, 211 ff.).
Kultur, Kunst und Weisheit überkamen sie von den Ägyptern,
von denen sie auch die reichste, bedeutendste Bildersprache, die
auf der Welt gewesen, erbten. Es fehlt uns noch 'eine wahre
Geschichte der Allegorie, die das insonderheit zeigt, wie aus
der bedeutungsvollen Bilderlehre Ägyptens die schöne Ikonologie
Griechenlands zum Teil geworden' (397). Wie zu solchem Zweck
Winckelmanns Buch über die Allegorie genutzt werden könnte,
wird von Herder anziehend entwickelt (411 ff.). 1 )
Der mit der Untersuchung über das Thema 'Geschichte
und Lehrgebäude' gewonnene Standpunkt findet eine weitere,
höchst lehrreiche Anwendung in dem 'historischen Spaziergang'
über die Keichsgeschichte (3. 402 ff.), in dem aber unmittelbare
Beziehungen auf Winckelmann ebenso wenig zu erkennen sind,
wie etwa in der späteren Abhandlung über die deutschen Bischöfe
(HW 5, 070 ff.). Überhaupt ergeben die Schriften der nächsten
Jahre für unseren Zweck nur noch weniges. In der Preisschrift
von den Ursachen des gesunkenen Geschmacks (1775) und der
anderen vom Einflufs der Regierung auf die Wissenschaften
(1780) treten unter den geschichtlichen Lebensbedingungen die
Freiheit, der Gemeingeist, die Öffentlichkeit des Lebens mit
ähnlichem Nachdruck hervor, wie bei Winckelmann; wir hören,
,dafs die kühnsten, göttlichsten Gedanken des menschlichen
Geistes in Freistaaten empfangen, die schönsten Entwürfe und
Werke in Freistaaten vollendet worden'. In der 'Archäologie
des Morgenlandes' ruft Herder vor dem von Longin einst be-
wunderten Akte der Lichtschöpfung aus : ' Welche Stille ! welche
l ) Einige direkte Winckelmannzitate sind in den Anmerkungen zn
HW 3 bereits ermittelt, vgl. zu S. 3ö3. 374. 478.
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Der junge Herder und Winckelmann.
143
erhabene Gröfse!' und gleich darauf noch einmal: 'welche stille
edle Gröfse!' (HW 6. 7). Er bewundert die 'stille Gröfse', mit
der der Schöpfer schafft (8), und bei der Schöpfung der Himmels-
lichter hat er wieder das Wort bereit: '0 wer in dieser Ein-
falt nicht Gröfse fühlt!' (9). Die von Herder entdeckte Ur-
hieroglyphe ist übrigens eine vollkommene Allegorie nach dem
Sinne Winckelmanns; verlangte dieser doch von einer solchen
drei Eigenschaften: Einfalt, die aus ihr fliefsende Deutlichkeit,
und Lieblichkeit (WW 2, 484 f. 1, 186 f.), und 'wo ist eine kind-
lichere Einfalt und lieblichere Vaterstimme als in diesem
Stück!' ruft Herder aus (HW 6, 328). Das herrliche Buch 'vom
Geist der Ebräischen Poesie' erinnert im Titel an Montesquieu,
in Methode und Behandlung an Winckelmanns Geschichtswerk;
man braucht nur den Entwurf des Buches nach seiner ersten
Ankündigung (11, 215) mit Winckelmanns Vorrede zu vergleichen.
Wie Winckelmann durch sein historisches 'Lehrgebäude' das
innerste Wesen der Kunst aufschliefsen wollte, so läfst Herder
den prophetischen Geist der Bibel aus seiner Zeit heraus vor
unseren Augen entstehen; und wie Winckelmann wird auch
Herder hier unwillkürlich zum Dichter: er gerät tiefer denn je
in jenes seherhafte Pathos, jene gehaltene Feierlichkeit der
Sprache, mit der sein grofser Vorgänger seine Geheimnisse zu
verkünden pflegte. 1 ) Das Schriftchen 'Auch eine Philosophie'
(5, 475 ff.) folgt dem Faden der Entwicklung aus der Kindheit
des Menschengeschlechts, dem Zeitalter der Patriarchen, in sein
Knabenalter, die ägyptische Periode, wobei der Verfasser die
Polemik gegen Winckelmann aus der 2. Auflage der 'Fragmente'
in Kürze wiederholt. Er schildert das Nationalleben der Phönizier,
er borgt die warmen Farben der W r inckelmannschen Palette
zu einer mit glücklicher Hand leicht hingeworfenen Skizze
griechischer Schönheitsbildung und versucht auch hier in Er-
gänzung seines Vorgängers die Verbindungsfäden mit dem Ganzen
der Weltgeschichte aufzudecken. Die Kömerzeit ist ihm das
Mannesalter der Menschheit Überall ist sein erstes Axiom, dafs
nichts sich ausbilde, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt und
Schicksal Anlafs gibt. Jede menschliche Vollkommenheit ist
national, säkular und, am genauesten betrachtet, individuell.
') Haym (Herder 2, 171 f.) hat den Zusammenhang mit Winckelmann
näher begründet.
144
Arnold E. Berger
Überall zieht die menschliche Natur soviel Glückseligkeit an, als
sie kann, aber niemals ist sie Gefäfs einer absoluten unwandel-
baren Glückseligkeit (505; vgl. Winckelmann 4,52: 'Vollkommen-
heit, für welche die Menschheit kein fähiges Gefäfs sein kann).')
Alles ist Zweck und Mittel zugleich.
Seit dem Jahre 1709 treten die unmittelbaren Einwirkungen
Winckehnanns in den Schriften Herders immer mehr zurück.
Die alten Excerptenbücher, die bei seinen ersten Arbeiten wohl
meist aufgeschlagen neben ihm lagen, waren nunmehr ausgenutzt
bestimmte Anknüpfungen, direkte Entlehnungen im einzelnen
waren also fortan so gut wie ausgeschlossen. Hatte sich doch
das beste, was ihm Winckelmann geboten hatte, fast schon in
sein eigen Fleisch und Blut verwandelt; hatte er doch, seitdem
ihm die Bedeutung des genetischen Gedankens aufgegangen war,
zu Winckelmann ein Verhältnis gewonnen, welches weniger dem
des lernbegierigen Schülers, als dem des Nacheiferers, des er-
gänzenden Berichtigers und meisternden Kritikers glich, welches
ihn im Besitze gröfserer und selbsterworbener Reichtümer jeden-
falls des Bedürfnisses überhob, von Jenem noch weiter zu borgen.
Freilich wo ihn sein Weg nach Griechenland führt, da wird er
sich immer wieder der unvergleichlichen Leuchte bedienen, die
Winckelmann vorangetragen ; und wo er ihm auf seinem eigensten
Gebiete, auf dem der bildenden Kunst, begegnet, da wird er
immer der begeisterte Jünger bleiben, dem das Schönheitsideal
des Meisters, 'edle Einfalt und stille Gröfse', so tief sich ins
Herz geprägt hatte, dafs es ihn nicht losliefs, bis er die psycho-
logisch-genetische Formel dafür gefunden hatte. Auf diese Ge-
dankenreihen müssen wir schliesslich noch einen Blick werfen,
ohne sie an dieser Stelle irgend erschöpfen zu können.
'Homes Grundsätze der Kritik mit der Psychologie der
Deutschen vermehrt und alsdann unter das Volk zurückgeführt,
das in seinen Lehrsätzen des Schönen, es sei in Kunst oder
Wissenschaft, der Naturempfindung noch am treuesten blieb,
nach der Naturempfindung dieses Volkes hellenisiert : das wäre
Ästhetik ! ' So hatte Herder in der Denkschrift auf Baumgarten
das Programm der Ästhetik formuliert (HW 32, 192). Eine ge-
schichtliche Darstellung der Herderschen Ästhetik, wie ich sie
') Vgl. 'weil das menschliche Gefäfs keiner Vollkommenheit und also
auch keines Zeicheiis derselben fähig ist' HW 8, 65.
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Der junge Herder und Winckelmann.
145
vorbereitet habe, kann hier nicht mitgeteilt werden, nur den
Anteil Winckelmanns an Herders bedeutungsvollen Arbeiten zu
dem eben formulierten Thema kann ich andeuten, werde mich
also auf die Ästhetik der Skulptur beschränken müssen. Was
an Material dazu vorliegt, sind das erste und das vierte kritische
Wäldchen sowie die Gedanken zur 'Plastik'.
Das Wäldchen über Lessings 'Laokoon' (HW 3, 1 ff.) beginnt
mit einer feinsinnigen Parallele Lessings und Winckelmanns in
ihrem schriftstellerischen Charakter. Dal's unfähige Kunstrichter
Winckelmann herabzusetzen gewagt, dafs sie sich dafür sogar
auf Lessing berufen zu dürfen geglaubt hatten, wird für Herder
der Anlafs zu gerechterer Abschätzung und Abgrenzung der
besonderen Verdienste beider. Wie Herder bei Winckelmann
gelesen hatte: 'nach des Demokritus Vorgeben sollen wir die
Götter bitten, dal's uns nur glückliche Bilder vorkommen, und
dergleichen Bilder sind der Alten ihre' (WW 1, 150), so Ist auch
für ihn Lessings Laokoon 'eine der angenehmen Erscheinungen
gewesen, um welche Demokritus die Götter bat als um die
Seligkeit seines Lebens'. 'Wie an den Ufern eines Gedanken-
meeres, wo auf der Höhe desselben der Blick sich in den Wolken
verliert', so steht er an Winckelmanns Schriften und 'über-
schaut' (3, 11), und dabei klingt wohl der Winckelmannsche Satz
in ihm nach: 'so wie der Anblick der unermefslichen Fläche des
Meeres und das Schlagen der stolzen Wellen an den Klippen des
Strandes unsern Blick ausdehnet und den Geist über niedrige
Vorwürfe hinwegsetzet, so konnte im Angesicht so grofser Dinge
und Menschen nicht unedel gedacht werden' (WW 4, 19; vgl.
3, XXIII). Herder verhehlt auch hier seine uns schon bekannten
Einwendungen gegen Winckelmanns einseitigen Griechenstand-
punkt nicht, aber im ganzen steht er gegen Lessing auf Winckel-
manns Seite, wie von Haym (Herder 1. 233 ff.) längst nach-
gewiesen ist, dessen Ausführungen keiner Ergänzung bedürfen.
Die Liebe für Winckelmann äufsert sich am Ende des Schriftchens
noch einmal in einer rührenden Totenklage um den zu früh Ent-
rissenen.
Mit der Neubegründung der Ästhetik, wie sie Herder ge-
fordert hatte, wird im vierten Wäldchen (HW 4, 1 ff.) Ernst
gemacht: aus Homes Grundsätzen entlehnt er die Methode, die
er 'mit der Psychologie der Deutschen vermehrt' (d. h. mit seiner
aus Leibniz gewonnenen Grundlehre von der stufenförmig sich
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Arnold E. Berger
entwickelnden Einheit des geistigen Lebens), die er schliefslich
'unter die Griechen zurückführt, hellenisiert ', d. h. — in der
Plastik — zum Ideale Winckelmanns entwickelt.
Die scharfsinnige polemische Auseinandersetzung mit der
Riedeischen Ästhetik, die den ersten Abschnitt füllt, braucht
uns hier nicht zu beschäftigen. In reiferer Form sind die gleichen
Grundbegriffe neun Jahre später in der Schrift 'Vom Erkennen
und Empfinden' entwickelt worden. 1 ) Auch für den zweiten
Abschnitt, in dem Herder eine sensualistische Begründung der
Ästhetik versucht, verweise ich auf Hayras treffliche Würdigung,
um mich auf die Frage zu beschränken, inwiefern diese neue
Methode der Ästhetik von Winckelmann abhängig ist. Home
hatte das 2. Kapitel seines Werkes mit der Bemerkung begonnen:
'Die schönen Künste sind alle bestimmt, dem Ohr und Auge
Vergnügen zu geben; sie lassen sich niemals herab, die andern
Sinne zu ergötzen.' Diesem Satz widerspricht Herder: 'Drei
Hauptsinne gibt es, mindestens für die Ästhetik drei, ob es gleich
gewöhnlich ist, ihr nur zwei, das Auge und Ohr, einzuräumen.
Jeder von diesen Sinnen hat eigentümliche erste Begriffe, die er
liefert und die den andern blofs appropriiert werden ' (4, 54).
'Der dritte Sinn ist am wenigsten untersucht und sollte vielleicht
der erste sein, untersucht zu werden: das Gefühl. Wir haben
ihn unter den Namen der unfeinern Sinne verstofsen, wir bilden
ihn am wenigsten aus, weil uns Gesicht und Gehör, leichtere
und der Seele nähere Sinne, von ihm abhalten und uns die
Mühe erleichtern, durch ihn Begriffe zu bekommen; wir haben
ihn von den Künsten des Schönen ganz ausgeschlossen und ihn
verdammet, uns nichts als unverstandne Metaphern zu liefern,
da doch die Ästhetik, ihrem Namen zufolge, eben die Philo-
sophie des Gefühls sein sollte' (48). Schon hier springt die
Unklarheit des Gesichtspunkts hervor, die auch in den weiteren
Ausführungen nirgends überwunden wird: Herder spricht ganz
im Sinne der älteren Physiologie vom Tastsinn als dem fühlenden
Sinn, aber die temperamentvolle Darlegung gleitet fortwährend
von da in das Gebiet des 'Gefühls' hinüber; er fafst die Sache
durchaus naturwissenschaftlich an, empirisch und experimentell,
') Es scheint noch nicht bemerkt worden zu sein, dafs das groise Citat
HW 4, 39 f. ans Diderots Abhandlung von der dramatischen Dichtkunst ent-
lehnt ist (vgl. Leasings Werke, hrsg. von B. Boxberger 8, 464).
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Der junge Herder und Winckelmann.
147
aber unversehens tiberkommt ihn der schöne Eifer, der die auf-
steigende Generation damals beherrschte: er wird zum beredten
Anwalt der 'niederen Seelenkräfte \ Die Brücke zwischen Tast-
sinn und Gefühl im psychologischen Sinne wird dadurch her-
gestellt, dafs allen Sinnen 'Gefühl zu Grunde liegt' und der
Tastsinn als der älteste und treueste aller Sinne angesehen wird.
Das Gesicht kann uns nach Herder nichts zeigen als
Flächen und Farben. Alles was körperlicher Raum, sphärischer
Winkel, solide Form ist, begreifen wir nur durch das Gefühl.
Aus Optik und Logik getraute sich Herder diesen Satz zu be-
weisen, wenn nicht drei Beispiele redender wären, als alle
Demonstrationen: der Blindgeborene Diderots, der blinde Saunder-
son, der geheilte Blindgeborene Cheseldens. Das Gefühl ist das
Organ aller Empfindung anderer Körper: wie sich die Fläche
zum Körper verhält, so das Gesicht zum Gefühl, und es ist nur
eine gewohnheitsmäfsige Verkürzung, wenn wir Körper als
Brächen sehen und das durch das Gesicht zu erkennen glauben,
was wir in unserer Kindheit nur durch das Gefühl sehr langsam
lernten. Der Sinn des Gefühls, der so sehr vom Gesicht ver-
kürzt und verdrängt ist, mufs wieder in seine alten Rechte
treten, damit man zum sicheren Begriffe körperlicher Wahrheit
komme.
Herder ist in diesen Ausführungen von zahlreichen Vor-
gängern abhängig, aber neben den theoretischen Vorgängern ist
ihm Winckelmann gleichsam als Paradigma wichtig geworden.
Übrigens sind auch Winckelmanns Schriften nicht ganz ohne
theoretische Beobachtungen über Sinnesorgane; seine oft ge-
standene Sehnsucht nach tieferer Naturerkenntnis führte ihn
darauf hin. Er achtete auf die Verschiedenheiten der Zungen-
nerven und der Sprachwerkzeuge bei den einzelnen Völkern
(z.B. WW 3, 47 ff.), auf den Einflufs der Ernährung, überhaupt
auf die Abhängigkeit der Bildung der Organe von den Ein-
wirkungen der Aufsenwelt, er erkannte es als einen Vorzug der
Griechen, dafs 1 ihre Sinne durch schnelle und empfindliche Nerven
in ein feingewebtes Gehirn wirkten ' (3, 59), und stellte die Ver-
mutung auf, 'dafs bei Künstlern, sowie bei allen Menschen, der
Begriff der Schönheit dem Gewebe und der Wirkung der Ge-
sichtsnerven gemäfs sei, so wie man aus dem unvollkommenen
und vielmals unrichtigen Kolorit der Maler zum Teil auf eine
solche Vorstellung und Abbildung der Farben in ihrem Auge
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Arnold E. Bergfir
schliefsen mufs ' (4, 42 f.). Aber nicht nur in Nachahmung der
wahren Farbe ihrer Vorwürfe sind die Künstler verschieden,
auch in der Bildung des Schönen, weil ihr Auge ebenso wenig
wie bei üngelehrten immer richtig ist. ' Es ist aber Richtigkeit
des Auges eine Gabe, welche vielen mangelt, wie ein feines Gehör
und ein empfindlicher Geruch. Unser Auge wird vielmals durch
die Optik und nicht selten durch sich selbst betrogen' (2,891).
Über den Zusammenhang von Gesichts- und Tastsinn finden sich
allerdings bei Winckelmann nur dürftige Andeutungen. ' Ist die
Anlage zur Richtigkeit (des Auges) vorhanden, so wird dieselbe
durch die Übung gewifs: der Herr Kardinal Alexander Albani
ist imstande, blofs durch Tasten und Fühlen vieler Münzen zu
sagen, welchen Kaiser dieselben vorstellen' (2,304).') 'Derjenige,
welcher eine bräunliche Schönheit einer schönen weifsen vorzieht,
ist deswegen nicht zu tadeln, ja man könnte ihm beipflichten,
wenn derselbe weniger durch das Gesicht als durch das
Gefühl gereizt wird. Denn eine bräunliche Schönheit kann
vielleicht eine sanftere Haut als eine weifse schöne Person zu
haben scheinen, da die weifse Haut mehr Lichtstrahlen als eine
bräunliche zurückschickt und also enger, dichter und folglich
stärker als diese sein mufs. Ks würde daher eine bräunliche
Haut durchsichtiger zu achten sein, weil diese Farbe, wenn sie
natürlich ist, von dem Durchscheinen des Bluts verursacht wird,
und aus eben diesem Grunde färbet sich eine bräunliche Haut
in der Sonne eher, als eine weifse; ja eben daher ist die Haut
der Mohren weit sanfter anzufühlen, als die uusrige.'
(WW 4, 39 f.)
Auf eine 'Bildhauerkunst fürs Gefühl' deutet aber Winckel-
mann gewissermafsen schon voraus in den Briefen über die
herkulanischen Entdeckungen, wo er bei Gelegenheit des Herkules-
torso sagt: 'Künstler befühlen diesen Torso, lassen ihre Hand
auf den schönen schlangenförmigen Windungen sanft
hingleiten und rufen aus ,oh que cela est beau!' Ich habe
aber noch von niemandem das Warum sagen hören.' (2, 277).
Das Warum findet Winckelmann allerdings in der Tatsache, dal's
dieser Körper blofs Geist zu sein scheine, von allem frei, was
das Bedürfnis der menschlichen Schwachheit erfordert, ohne
l ) Herder eignet sich diene Bemerkung an, wenn er von 'dem feinen
Griff eines Albani' spricht (HW 4,73).
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Der junge Herder und Winckelmann.
149
Adern und Arterien, unabhängig scheinbar von Nahrung, Ver-
dauung und Absonderung des Blutes, 'da ein ätherischer und
belebender Geist in denselben eingegossen ist, der, keiner Ver-
änderung unterworfen, sich tiberall gleich verbreitet und eigentlich
so zu sagen die Gestalt bildet, deren Umrifs blofs ein Gefäfs
dieses Geistes zu sein scheint.' Wie aber Herder diese Be-
obachtung in seiner Weise zu verwerten weifs, wird sich gleich
zeigen. Wie eine Vorahnung der Herderschen Theorie gemahnt
es vollends, wenn Winckelraann einmal bemerkt: 'Das wahre
Gefühl des Schönen gleicht einem flüssigen Gipse, welcher
über den Kopf des Apollo gegossen wird und denselben in allen
Teilen berühret und umgibt' (2.391) oder: 'in Apollo, dem
Bilde der schönsten Gottheit, sind die Muskeln gelinde und wie
ein geschmolzen Glas in kaum sichtbare Wellen geblasen und
werden mehr dem Gefühl als dem Gesichte offenbar.'
(4, 106).
Solche Stellen würden sich vermehren lassen, indessen hat
uns Herder über den Zusammenhang seiner 'Bildhauerkunst
fürs Gefühl' mit den Beschreibungen Winckelmanns selbst das
sprechendste Zeugnis hinterlassen: 'Wenn seit Plato, wie Winckel-
mann sagt, vom Schönen nicht mit der Empfindung desselben
geschrieben worden, so sind die Schriften desselben nicht nach
einem flüchtigen Übersehen, sondern gleichsam im lebendigen
Händegefühl der Bildschönheiten verfafst worden' ') (H\V 4, 89).
Unter diesem Gesichtspunkte sind durchaus die 'Bemerkungen
bei Winckelmanns Gedanken u. s. w.' geschrieben, die aus Herders
Rigaer Notatenheften in der Suphanschen Ausgabe (8, 105—108)
mitgeteilt sind.
Auf der Intuition des Gefühls baute sich ja Winckelmanns
Kunstideal auf, und sein Gefühl in seiner anschmiegenden Liebes-
wärme nahm sich bisweilen den Tastsinn gleichsam zum Organ,
um die sanften Schwingungen der Modellierung des Nackten mit
der Empfindung eines entzückten Liebhabers zu geniefsen, der
die weichen Linien eines geliebten Körpers umtastet und in der
wollüstigen Melodie der Konturen wie in einem süfsen Rausche
•) Dazu sei erinnert an eine ähnliche Bemerkung von Sturz (Schriften,
1786. 1,37) über Winckelraann: 'er untersucht oder nmtastet vielmehr
irgend ein Kunstwerk mit dem Flammenblick, welcher in Apollos Nase Götter-
verachtung und den Herkules im Torso fand.*
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Arnold E. Berger
schwelgt, In dem Winckelmannschen Ideal, welches Herder im
ersten kritischen Wäldchen mit dem Eigensinn eines dunklen,
tiefen Gefühls gegen Lessing ausgespielt hatte, lag für den
leidenschaftlichen Anhänger der genetischen Forschungsmethode
eine Art von Nötigung, zu seinen psychologischen Voraussetzungen
hinabzusteigen, um die Unabweislichkeit, mit der es sich seiner
Stimmung bemächtigt hatte, aus seinem sinnlichen Ursprünge
begreifen zu lernen. Es ist höchst anziehend zu sehen, wie ihm
Winckelmann selbst bei dieser Ermittelung als Versuchsobjekt
dient:
'Bemerket jenen stillen, tiefsinnigen Betrachter am vatika-
nischen Apollo: er scheint auf einem ewigen Punkte zu stehen,
und nichts ist weniger; er nimmt sich eben so viel Gesichts-
punkte als er kann, und verändert jeden in jedem Augenblick,
um sich gleichsam durchaus keine scharfe, bestimmte Fläche zu
geben. Zu diesem Zweck gleitet er nur in der Umfläche des
Körpers sanft umhin, verändert seine Stellung, geht und kommt
wieder; er folgt der in sich selbst umherlaufenden Linie, die
einen Körper und die hier mit ihren sanften Abfällen das Schöne
des Körpers bildet Er gibt sich alle Mühe, jeden Absatz, jeden
Bruch, jedes Flächenartige zu zerstören und so viel als möglich
das viel winkelichte körperliche Polygon, das ihm sein Auge so
zerstückte, in die schöne Ellipse wiederherzustellen, die als solche
nur für sein Gefühl gleichsam hervorgeblasen >) war.
Wie? hatte er nicht also jeden Augenblick nötig, die Beschaffen-
heit des Gegenstandes gleichsam zu zerstören, die eben das
Wesen der Okularvorstellung ist, Fläche, Farbe, Winkel des
Anscheins? und mufste er sich nicht mit dem Auge jeden Augen-
blick einen Sinn geben, den dies nur sehr unvollkommen ersetzte,
das Gefühl? und war also der Sinn, den er anwandte, anders
als eine Verkürzung des ursprünglichen Sinnes, eine abbrevierte
Formel der Operationen des Gefühls? Und so beweiset er selbst,
indem er sie he t, dafs er, um den Effekt der Kunst zu erfahren,
die blofs durch Körper wirket, nichts als fühlen wollte und
>) Vgl. dazu die oben S. 149 angeführte Stelle WW 4, 106; ferner die
Stelle Uber den jugendlichen Bacchus: 'Die Formen seiner Glieder sind sanft
und flüssig, wie mit einem gelinden Hauche geblasen, fast ohne An-
deutung der Knöchel und der Knorpel an den Knieen' (WW 4, 89; ähnlich
5, 240).
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Der junge Herder und Winckelmann.
151
fühlte. Nun setzet, er habe diesen Effekt erfahren; setzet, dafs
sein tausendfach verändertes Umherschauen und gleichsam sicht-
liches Umfühlen der Bildsäule seine Einbildungskraft in den
Stand gesetzt, das ganze Schöne in Form und Bildung sich
innerlich so vollkommen körperlich zu gedenken, dafs das wenige
blofs Flächenartige gleichsam verschwindet und sie das Polygon
wirklich in der ganzen soliden Ellipse sich vorstelle; die Illusion
ist geschehen: was blofs ein Kompositum kleiner gerader Flächen
war, ist ein schöner fühlbarer Körper geworden — sehet, nun
empöret sich die Phantasie und spricht, als ob sie nichts als
fühlte. Sie spricht von sanfter Fülle, von jenem Weichen, das
alter Griechen leichte Hand, von Grazien geführt, mit hartem
Stein verband, von prächtiger Wölbung, von schöner Rotundität,
von rundlicher Erhobenheit, von dem sich regenden und gleich-
sam unter der fühlenden Hand belebten Marmor. Warum
spricht sie lauter Gefühle? und warum sind diese Gefühle, wenn
sie nicht übertrieben sind, keine Metaphern? Sie sind Erfah-
rungen. Das Auge, das sie sammelte, war nicht Auge mehr,
das Schilderung auf einer Fläche bekam; es ward Hand, der
Sonnenstrahl ward Finger, die Einbildungskraft ward unmittel-
bare Betastung: die bemerkten Eigenschaften sind lauter Ge-
fühle' (4, 65 f.).
So sucht sich Herder den psychologischen Vorgang zu
erklären, aus dem die Beschreibungen Winckelmanns hervor-
gewachsen sind, und mit diesem Vorgang zugleich die tiefe
Wirkung jener durchaus ' gefühlten ' Beschreibungen. Seine Ent-
deckung wurde höchst folgenreich für die Jugend der Genieepoche:
Sehen ist der 'kälteste Sinn', er weifs nichts von Form und
Gestalt; die Begriffe von diesen wurden zuerst ausschliefslich
durch den Gefühlssinn erworben; in der Kunst wird aber
jenes ursprüngliche Verhältnis wiederhergestellt, das
Auge setzt sich an die Stelle des Gefühls und bemüht
sich zu sehen, als ob man tastete und griffe. Wieder-
hergestellt findet Herder dies ursprüngliche Verhältnis auch in
den Beschreibungen Winckelmanns. Hören wir ihn weiter:
'Und eben daher erkläre ich auch die Begeisterungen der
Liebhaber, die in dieser Kunst gewifs die andern übertreffen.
Wenn der Kenner der Malerei sein Gemälde beschreibt, so hat
er Fläche vor sich: er setzt ihre Figuren in ihrer Anlage und
Gegenwart auseinander, er schildert, was er vor sich siehet.
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Arnold E. Berger
Lasset aber den Liebhaber des Apollo im Belvedere und des
Torso und der Niobe beschreiben: er hat nicht Fläche, er hat
Körper, den er fühlt, zu schildern oder vielmehr nicht zu schildern,
sondern andern fühlbar zu machen'). Da tritt seine fühlende
Einbildung in die Stelle des kältern, aus einander setzenden
Auges, da fühlet sie den Herkules immer in seinem ganzen Körper
und diesen Körper in allen seinen Taten. Sie fühlet 2 ) in den
mächtigen Umrissen seines Leibes die Kraft des Riesenbezwingers,
und in den sanften Zügen dieser Umrisse den leichten Kämpfer
mit dem Achelous; sie fühlet die grofse prächtige Brust, die den
Geryon erdrückte, und die starke, unwankbare Hüfte, die bis
an die Grenzen der Welt gesehreitet, und die Araie, die den
Löwen erwürget, und die unermüdbaren Beine und den ganzen
Körper, der in den Annen der ewigen Jugend Unsterblichkeit
genofs. Die fühlende Einbildungskraft hat hier kein Mals, keine
Schranken. Sie hat sich gleichsam die Augen geblendet, um
nicht blofs eine tote Fläche zu schildern; sie siehet nichts, was
sie vor sich hat, sondern tastet wie in der Finsternis und
wird begeistert von dem Körper, den sie tastet, und durchzeucht
mit ihm Himmel und Hölle und die Enden der Erde und fühlet
von neuem und spricht alles, dessen sie ihr Gefühl erinnert.
Tote Maleraugen, verarget ihr nicht, dafs sie nicht biofs aus
einander setzt und pinselt und klecket und, wie ihr, betrachtet
Kennt ihr etwas unerschöpflichers und tieferes als Gefühl? etwas
begeisternders als das Solidum seines schönen Gegenstandes?
und etwas lebhafteres als die von ihm erfüllte Einbildungskraft?
Wie die Fläche zum Körper, so verhält sich eure Schilderung zu
solcher Beschreibung.'
Feuriger und geistreicher ist das ganz neue und eigenartige
der Winckelmannschen Beschreibungen nirgends gewürdigt und
bis in seine feinsten psychischen Voraussetzungen verfolgt worden:
diese Auslegung gehört zu den bezeichnendsten Urkunden der
Genieepoche.
Aus der totalen Verschiedenheit der sensualistischen Grund-
lagen ergeben sich nun nach Herder durchgreifende Unterschiede
zwischen Plastik und Malerei. Die Malerei arbeitet für einen
•) Ähnlich Frau v. Stael über Winckelmann : 'sa description produit la
m£rae Sensation que la statue.
s ) Zum Folgenden vgl. Winckelmanns Beschreibung de« Herkulestorso
(WW 1).
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Der junge Herder und Winckelmann.
153
Gesichtspunkt, aus dem und für den sie alles erfindet, verteilt,
zeichnet, färbt. Die Skulptur hat so viele Gesichtspunkte, für
die sie arbeiten mufs, als es Radiuspunkte in dem Zirkel gibt,
den ich um ihr Werk ziehe, und aus deren jedem ichs betrachten
kann. Aus keinem übersehe ich das Werk ganz, jeder zeigt mir
nur eine kleine Fläche und, wenn ich den ganzen Umkreis durch
bin, noch nichts als ein Polygon von vielen kleinen Seiten und
Winkeln. Daraus macht erst die Einbildungskraft ein Ganzes,
und dies körperliche Ganze ist also nicht ein Geschöpf meines
Auges, sondern meiner Seele. 'Es gibt also durchaus keine Bild-
hauerei für das Auge, nicht physisch, nicht ästhetisch. Nicht
physisch, weil das Auge keinen Körper als Körper sehen kann;
nicht ästhetisch, weil, wenn dies körperliche Ganze in der Bild-
hauerei verschwindet, alles Wesen ihrer Kunst und ihres eigen-
tümlichen Effekts verschwindet ' (4, 64). Die schöne elliptische
Linie, welche sich 4 mit Pracht und Schönheit um den Körper
gleichsam umherwälzet und ihn mit ihrer beständigen Einheit
in Mannigfaltigkeit, mit ihrem sanften Gufs mit einem schöpfe-
rischen Hauche bildet,' diese Linie, welche Winckelmann ' so ent-
zückend preist' [vgl. WW 1, 217. 4, 58 f.], kann nicht durch das
Gesicht begriffen werden, weil das wandernde Auge immer nur
winklige Flächen sieht> also die runde Schönheitslinie und damit
das Wesen der Kunst zerstört (4, 64 f. vgl. 8, 125). 'Jede Figur
der Malerei ist an sich nichts, sie ist alles aufs Ganze der Fläche
des Auges; jeder Körper der Skulptur ist nur wenig aufs Ganze,
er ist an sich selbst, für die fühlende Hand alles — welcher
Unterschied! (68)'. Eine ganze Reihe grundsätzlicher Kunst-
fragen: Komposition, Gliederung, Darstellung des Häfslichen,
Statuenkolorit u. s. w. berührt Herder im Vorbeigehen und blickt
'auf ein grofses Feld von Dingen, die sich aus diesem einzigen
Prinzipium des schönen Gefühls bei der Bildhauerkunst erklären
liefsen (71)'; alle ihre Gesetze folgen daraus, und alle Irrtümer
und Ausschweifungen in Kunstübung oder Kunstkritik, sogar
noch bei Winckelmann, stammen aus der Vermischung der
Grenzen zwischen Skulptur und Malerei. Nun aber die Haupt-
sache: das antike Ideal der Plastik, wie es uns Winckel-
mann erschlossen hat, ruht ganz auf diesem Grund-
gesetz. 'Die weise Einfalt der Alten und die selige Ruhe und
der genaue Kontur und die nasse Draperie, die sie ihren Statuen
gaben, erklärt sich offenbar aus diesem Gefühl, das gleichsam
154
Arnold E. Berger
in der Dunkelheit tastet, um sich nicht vom Gesichte zerstreuen
zu lassen, und hier sich aller Ergiefsung der Einbildungskraft
überläfst' (72). Denn weder bei dem übertriebenen noch bei
dem häfsliehen hat die Einbildungskraft, die blofs dem Gefühle
folgen soll, freien Spielraum; die 'selige Ruhe* allein läfst 'der
Schönheit Platz, die dem Gefühl ewig gefället und die Ein-
bildungskraft in sanfte Traume wieget '.') Wenn ich eine
häfsliche Bildsäule in Gedanken betaste, so komme ich, statt
den schönen Umrifs zu finden, auf 'Brechungen des Körpers, die
ein kaltes Zittern durch die Glieder jagen; ich fühle in dem
Augenblick dieses verzerrenden Bruches eine disharmonische
Schwingung meiner Gefühlsnerven und gleichsam eine Art inner-
licher Zerstörung meiner Natur' (69). Ebenso bei der Draperie:
wenn diese nicht nasse Draperie ist, wenn ich nur Gewand,
drückendes Gewand fühle, so geht die schöne Form des Körpers,
das Wesen der Kunst verloren (72). In der Bildhauerei wohnt
eigentlich jene 'unsichtbare [nur fühlbare] Vollkommenheit', von
der Winckelmann redet, 'die sich in der Materie offenbaret und
von dieser nur so viel nahm, um sich fühlbar zu machen [vgl.
oben S. 122]; da wohnet jenes Urbild von Bedeutung und sanftem
Ausdruck und Wohlförmigkeit .' (75; vgl. 8, 151 f.).
Wirkt aber die Bildhauerei unmittelbar nur fürs Gefühl —
so fragt Herder weiter — welche Gewalt war es dann, die sie
den feinen Werkzeugen des Gefühls entrifs und endlich per-
spektivisch darstellte? Dieselbe Gewalt, antwortet er, die uns
in unserer Erziehung das Auge an die Stelle des Gefühls setzen
lehrte: also das Gesetz der Bequemlichkeit oder des kleinsten
Kraftmafses. Diese Gewohnheit nahm die Bildsäule aus den
Händen des sie hervortastenden Künstlers, des 'sie umher-
fühlenden Liebhabers' und stellte sie für sein Auge, und damit
war die Bahn zur Perspektive betreten, für die sich das Auge
zuerst an der Baukunst, an architektonischen Profilen, Säulen-
reihen, Laubengängen u. s. w. geübt hatte. Der Juppiter des
Phidias sollte nun dem in die Feme fühlenden Auge dasselbe
sein, was er ursprünglich dem Gefühl geworden wäre. Da aber
das Gesicht nur den Eindruck von Bild und Fläche gibt, so
mufste, um die gleiche Wirkung zu erreichen, die Masse verstärkt
') Vgl. 'die Seele in einen »Ufsen Tranm der Entzückung versetzet 1
(WW 4, 72). Ausführlicher hat Herder die gleiche Ansicht begründet
HW 8, 155 f.
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Der junge Herder und Winckelmann.
155
und die Bildhauerkunst kolossalisch werden. 'Der Juppiter des
Phidias erklärt sich damit so innig aus dem Wesen der fort-
gehenden Kunst wie aus seiner Parallele, die man gewöhnlich
aus Homer ziehet; und das längere Mafs der Beine des Apollo,
das nach Hogarths Bemerkung so sehr zu seiner Gröfse im Ein-
drucke beiträgt, beweiset was ich sage im Kleinern (83)'. Da*
Gefühl, welches Körper sehen lernt, ist Irrtümern über die
Gröfse ausgesetzt, die ins Gigantische verlaufen. Dem Kinde,
das sehen lernt, kleben erst alle Gestalten im Auge, sie ent-
fernen sich und werden 'kolorierte Riesenbilder', daher bei
Kindern die Neigung zum Wunderbaren und Fratzenhaften ; der
blindgeborene Cheseldens lernte unterscheiden, die Bilder vom
Auge trennen, und er sah — Riesengestalten (85). Auf diesem
kindlichen Standpunkt blieb die ägyptische Kolossalplastik
stehen, 1 ) während die Griechen von der plastischen Perspektive
zur malerischen f ortschritten, die das Kolossalische nicht mehr
verträgt. 'Ein Volk, das einmal den Weg gefunden, Statuen
aufser der Proportion des Gefühls blofs fürs Auge zu machen,
hatte die Bahn offen, sie auch für mancherlei Gesichtspunkte
des Auges zu machen. Und da es in der architektonischen Ver-
zierung der Schauplätze, wie wir wissen, so weit gekommen war,
so sind wir eben damit unmittelbar am perspektivischen Relief
und mit diesem an der eigentlichen Skulptur selbst, die sie, wie
wir wissen, ebensowohl zur Verzierung anwandten (88).'
Im Garten zu Versailles hing Herder solchen Gedanken
weiter nach, wovon uns umfängliche Aufzeichnungen erhalten
sind (HW 4, 443 ff., 479 ff.; 8, 88 ff.). Nichts ist dem Wesen der
Kunst mehr zuwider als völlige Bekleidung. Die Griechen be-
kleideten so wenig als möglich oder, wenn sie mufsten, auf eine
Art, die das Gewand als Gewand vernichtete: durch Wasser-
gewänder (vgl. Winckelmann oben S. 10(5). Die Malerei dagegen
kann die schöne Oberfläche eines Körpers, welche ja nur Bild
ist, durch schöne Draperie ersetzen; sie kann anderseits — fügt
Herder paradox genug hinzu — keine Wassergewänder malen,
weil sie Oberfläche ist Daran schliefsen sich Beobachtungen
») Damit mufs man einen Brief Herders an Merck vom September 1770
zusammenhalten: 'Ihr steht alle meiner Natur noch zu nahe, gute Kinder!
Ihr tastet noch . . . und sehet nicht. Da wird der weichen, wannen, fühlenden,
freundschaftlichen Hand alles gröfser, runder, kolossalischer — aber auch
dunkler, und ihr habt noch kein Ganzes von Anblick!' (Lebensbild 3, 1, 116).
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156
Arnold E. Berget
über das Kostüm überhaupt, über Bildung der Haare und Augen-
brauen, Adern. Knorpel, Sehnen u.dgl., wo man überall den
Schüler Winekelmanns sprechen hört, 1 ) Man hört ihn nicht
minder sprechen in der Erweiterung, die seine Theorie jetzt auf
das metaphysische Gebiet empfängt: 'Es ist nicht blofs genug,
dafs sich alles unter unsern Händen erwärme; es mufs ein
Geist in diesem Fühlbaren wohnen, der unmittelbar zu unserm
Geiste spreche : durch eine Sympathie, durch eine Anziehung, die
sich der Wollust nähert * (8,91). Ahnlich 8.159: 'Im Ganzen
der Bildsäule herrscht bis auf die Regung jeder Muskel Kon-
venienz mit der (Testalt ihres innern ZuStandes , und sie ist,
wenn es nicht zu kühn klingt, eine sinnlich gemachte geistige
Natur, die fühlbar gewordne Gestalt einer menschlichen Seele'.
'So wie nun diese attraits — fährt Herder an der erstgenannten
Stelle fort — in der Natur lebender Schönen schwer zu erklären
und aufzuzählen sind, so selbst in toten, in der Skulptur. Zuerst
ich mufs vergessen, dafs es Stein ist, und die Miene, den Seelen-
zug, den der Körper auf dem Gesicht verewigt hat, gleichsam
gegenwärtig fühlen. Setze einen blinden Gefühlvollen, lasse ihn
tasten und sagen, was er fühle.' Herder nimmt hier voraus,
was Lavater später das dunkle physiognomische Gefühl nannte.
') Nur einzelne Beispiele brauche ich hier hervorzuheben: die Haare
des Apullo 'fliegen um das Haupt, wie durch eine sanfte Luft bewegt, aber
sind aufgebunden und machen nicht einen eignen Körper am Körper'
(8, 89, 366); das geht zurück auf WW 6, 261. Zu den 'Adern, Knorpeln und
Sehnen' (8,90. 140 ff.) vgl. oben 8. 122; über das griechische Profil (ebenda)
redet Winckelmann an zahlreichen Stellen. Aus ihm stammt da« bei Herder
(8, 90, 369) wiederklingende Wort von den 1 gepletsehten Nasen' (vgl. WW 3, 56.
4, 40). Herders Bemerkungen über enge Taillen und Schnürbrüste (8, 90 f.)
knüpfen au an die Winekelmanns über die 'heutige pressende und klemmende
Kleidung' (WW 1, 11). 'Schönes Gefühl', das den Körper 'mit einem fühl-
baren Gypse überzog' (8, 102. 40f>), beruht auf Winckelmann (vgl. oben S. 149).
Die Polemik gegen Winckelmanns Auffassung der nassen Gewänder (WW 1, 30),
am ausführlichsten 11 W 8, 137 f. Daselbst 8. 138 sind das 'Ooische Gewand'
und der Vergleich der jugendlichen Brust mit der 'Traube' Nachklänge aus
Winckelmann (vgl. WW 1, 26. 4. 226). Zu der Betrachtung des Laokoon 8, 139
vgl. auch Herders Gedicht 'Laokoons Haupte' 1768 (HW 29, 303). Die beiden
Winckelmannzitate auf S. 141 stammen aus dessen Beschreibung des bel-
vederischen Apoll (WW 6, 260 f.). Dafs die Augenbrauen nicht 'abgetrennte
Härchen", sondern nur 'einen feinen scharfen Faden' zeigen sollen (8, 142
oben), stammt ebenso aus Winckelmann (WW 4, 204 f.) wie der Ausdruck
'Augenbrauen der Gratien\
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Der junge Herder und Winckelmann.
157
Herder ist von seinem anfangs sehr besonnenen Standpunkt
gegenüber der Physiognomik zeitweilig durcli Lavater abgedrängt
worden, um dann desto entschiedener zu ihm zurückzukehren.
Schon in der Rede über die Schönheit hatte er an das viel-
zitierte Beispiel von Sokrates erinnert, den ein Physiognomist —
er meint ZopjTiis (vgl. Hamann, Roth 2, 24. 6, 231) — nach
seiner 'Bildung' als den Lasterhaftesten ausschrie, worauf
Sokrates nur entgegnete: 'Das alles wäre ich geworden, wenn
mich nicht die Weisheit gebessert hätte'. An demselben
Beispiel hat Herder in der Lemgoer Rezension von Lavaters
zweitem Versuch seine Meinungsverschiedenheit entwickelt; im
übrigen geht aus der überfliefsenden Panegyrik dieser Be-
sprechungen ebenso wie aus einigen mit Lavater gewechselten
Briefen nicht gerade der viel besonnenere Standpunkt Herders
hervor. Mit Hamaunscher Färbung preist die 'Älteste Urkunde'
den Menschen als Gleichnis und Ebenbild Gottes, als Inbegriff
der Schöpfung, sein Antlitz als Einheit der Mannigfaltigkeit,
seinen Körper als Hülle und Bild der Seele. Mit diesem
Herderschen Hymnus auf die menschliche Wohlgestalt eröffnete
Lavater sein Werk, der leicht erregte Autor selbst verfolgte
diese Gedanken in einem Briefe an Lavater (Aus Herders
Nachlafs 2, 102 f.) bis zu einer phantastischen Parallele des
menschlichen Leibes mit dem Weltgebäude. Wenn aber seine
Schwärmerei den Flug ins Übersinnliche richtet und als Ziel
der Physiognomik hinstellt, 'das Bild Gottes im Menschen iu
Stufen und Gängen und Graden der Vollkommenheit mit An-
schauung zeigen', den Weg zu weisen, 'um in .Jesu Bildung ver-
wandelt zu werden', so kliugen doch in demselben Briefe deutlich
die Grundgedanken der 'Plastik' an. 'Die Griechen haben den
äufserlichen Menschen so gekannt, wie wir ihn nie kennen
können und werden.' Zu der Winekelniannschen Bemerkung,
daXs Schönheit, Macht, Stille, Glückseligkeit, das Dasein des
irdischen Menschen niemand besser gezeigt habe, als die
Griechen, welche Bewegung. Trieb, Seele in jeder Stellung und
Biegung jedes Gliedes zum Ganzen recht 'abgewogen' (vgl. zu
diesem Ausdruck oben S. 135), fügt er hier noch hinzu: 'vom
geistigen Menschen haben sie nichts gewulst'. Aber als er in
der 'Plastik' von 1778 die Gedanken dieses Briefes wieder auf-
nimmt, hat er alle solchen mystischen Beigaben entschieden ab-
gestreift; die Feder in Winckelmannsche Begeisterung getaucht
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158
Arnold E. Berger
ist er ganz zum Griechen geworden, er beklagt, wie Jener, dafs
er 'nicht für Griechen' schreibe und entwickelt seine herrlichen
physiognomischen Erkenntnisse durchweg an der rückhaltlos be-
wunderten Plastik der Hellenen. An diesem Thema wird der
durchgreifende Unterschied der Herderschen und der Lavaterschen
Auslegungsweise deutlich: Herders Physiognomik will die
Menschengestalt in ihrer zweckerfüllten Schönheit begreifen,
und deshalb sieht er die physiognomische Einheit von Seele und
körperlicher Erscheinung vorzugsweise mit Winckelmann und
Mengs in der idealen Sphäre der Kunst verwirklicht, während
Lavater die menschliche Gestalt bis in alle Einzelheiten nur
deuten will und darum seine physiognomische Methode vor
allem auf das Leben selbst anwendet, ohne zu bemerken, dafs
sich mit dieser Übertragung der Methode auch ihre Voraus-
setzungen verschieben müssen, dafs im zweiten Falle eine ganze
Reihe von Faktoren in Rechnung zu bringen sind, die das
Identitätsverhältnis von seelischem Motiv und organischer Dar-
stellung durchkreuzen oder aufheben. Eine tiefere Begründung
dieser beiden Richtungen der physiognomischen Forschung mufs
ich mir für meine spätere Darstellung aufsparen, schon hier
aber möchte ich darauf hinweisen, dafs in den Herderschen Vor-
arbeiten zur ' Plastik ', die die symbolische Bedeutung der schönen
Gestalt an Stirn, Nase, Mund, Kopf u. s.w. im Anschluls an
Winckelmann und durchweg vom Standpunkt des 'Fühlenden' ent-
wickeln, eine Reihe von glücklich charakterisierenden Wendungen,
psychologischen Beobachtungen, Streiflichtern auf nationale" oder
typische Unterschiede begegnen, die in Lavaters Hauptwerk
nachklingen, was durch eine eigene Untersuchung aufgeklärt
werden soll. Die feinen Beobachtungen Herders stützen sich
zum Teil auf seine gründliche Anschauung der Pariser Bühne;
er schliefst seine lehrreichen Aphorismen über mimischen Aus-
druck: 'Das ist Geberdensprache, die aus Statuen zu lernen,
mit Dichtern zu erläutern, aus der menschlichen Natur zu be-
weisen, fürs Theater anzuwenden, aus ihr eine neue Oper zu
schaffen ! ' (8, 94. 4, 479 ff.). Alle seine zerstreuten Beobachtungen
schliefsen sich aber nun unter einem neuen und höchst frucht-
baren Gedanken zusammen: 'alles was da ist, ist zu Zwecken,
so auch der menschliche Körper; und nicht blofs zwischen den
Geschlechtern gibts also ein Band des Notwendigen, des Guten
und Bequemen. Jedes Glied ist da zu seinem Zweck,
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Der junge Herder und Winckelmann.
ir,o
von dem es auch seine Gestalt hernimmt: hats diese, so
ists zu jenem gut, es ist was es sein soll, es ist also in
seiner Gestalt angenehm, es ist ein fühlbarer Begriff
der Vollkommenheit (8,94).' Liest man weiter, wie Herder
zeigt, dafs jedes Monstrum von Gestalt häfslich sei, weil es ein
fühlbarer Mangel der Vollkommenheit oder gar ein fühlbarer
Begriff der Unvollkommenheit sei, so wird es wahrscheinlich, dafs
diese Betrachtung einerseits an das erste Kapitel der Diderotschen
' Essais sur la peinture anderseits an Piatons * Tunaus ' anknüpft,
was hier noch nicht nachgewiesen werden kann; der Grund-
gedanke selbst ist ihm jedenfalls in der Anschauung auf-
gegangen : an den Beschreibungen Winckelmanns, vor den Skulp-
turen in Paris und in Mannheim. Doch scheint sich eine
Nachwirkung der Platonlektüre darin zu verraten, wie der
Sensualismus sich jetzt mehr zur Metaphysik zurückbiegt. Wenn
nämlich in der Zweckmäßigkeit der Gestalt jedes gesunde Glied
ein fühlbarer Begriff der Vollkommenheit ist, jedes falsch oder
ungesund entwickelte ein fühlbarer Mangel einer solchen, so
ergibt sich, 'wie der Begriff des Schönen im Gefühl ans Wahre
und Gute grenzt (8,94). Schönheit ist nicht tote Symmetrie,
die Kunst gibt ja viel mehr Unebenmafs als Symmetrie: das
Schöne ist Gefühl der Vollkommenheit, das um so stärker
ist, je mehr es Sympathie erwecken kann, es wirkt demnach in
der Darstellung des Menschen am stärksten. Und wieder erklärt
sich Herder in seiner Weise einen Winckelmannschen Idealbegriff:
die ewige Jugend der Götter und Helden. Da fühlen wir, hatte
Winckelmann gesagt, die ganze Vollkommenheit des menschlichen
Gliederbaus 'an dem Mangel der Sehnen und Nerven, die sich
in der Blüte der Jahre wenig äufsern ' ( WW 4, 95). Herder
fügt hinzu, dafs die Jugend 'die Aussicht auf eine lachende
Welt und also den schönen Begriff der Hoffnung' gebe, und
erläutert weiter: 'der Begriff der Vollkommenheit liegt
zwischen Ruhe und Tätigkeit, dafs weder jene noch diese
allein sei; die Seele nicht zu sehr beschäftigt, der Körper nicht
zu sehr, beide nicht zu wenig. Da ist die edle Stille der
Griechen.' Dagegen gemahnt die einförmige Symmetrie der
ägyptischen Kunst an den Tod (8, 95). Herder verliert sich noch
weiter in die lockenden Gänge der Spekulation : vom Gefühl
mufs alles ausgehen und dahin zurückkommen. 'Welche vor-
treffliche Unternehmung, alle Begriffe dahin zu reduzieren, zum
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160
Arnold E. Berger
Gefühl und auf die Sinne!' Er fragt, wie wohl ein Blinder
Sprache ersonnen hätte, wie er die Welt auffassen müsse; er
untersucht, wie weit wir wohl kämen, wenn wir nichts als Gefühl
besäfsen. 'Mit Gefühl alle Stellen aller Hagedorne und aller
Winckelmanne, Webbe, Zanotte und Watelette durchgegangen,
so lösen sie sich in das Gefühl der schönen, nackten, treuherzigen
Natur auf, und mit welcher Wollust kann dies in der Bildhauerei
der Natur des Marmors gleichsam hervorgefühlt werden. Da
alle Lehrbücher weg ... da gewinnt alsdenn die ganze Lehre
von der schönen Natur Einfalt, Reiz, Grazie ihren ersten wahren
Eindruck (8,102)'.')
Die sensual istische Grundlage der Ästhetik, welche das
vierte kritische Wäldchen mit so entschlossener Konsequenz an-
gestrebt hatte, hat Herder nicht weiter ausgebaut: schon die
Schrift über den Ursprung der Sprache beginnt zurückzulenken.
Nur die 'Bildhauerkunst fürs Gefühl' hat er nicht aufgegeben,
nur sie hegte der Lobpreiser des Gefühls wie einen eifersüchtig
gehüteten Lieblingsgedanken, und nach einer Reihe von Jahren
noch liefs er ihn in einer seiner küstlichsten und jugendfrischesten
Schriften Gestalt gewinnen: in der 'Plastik' von 1778 (HW 8, 1 ff.
Der Entwurf von 1770: 8, llGff.).
Sie gibt zunächst nur eine erweiterte Ausführung jenes
sensuulistisehen Grundgedankens, aus dem die Grenzbestimmung
von Malerei und Plastik entwickelt wird: die Kunst des Gesichts
scliildcrt die grofse Tafel der Natur, das Nebeneinander; die
Kunst des Gefühls stellt schöne Formen dar, das Ineinander.
Bildnerei ist Wahrheit, Malerei Traum; jene ganz Darstellung,
diese erzählender Zauber. Der zweite Abschnitt nimmt die
Fragen der Bekleidung, der Färbung, der Schilderung des Häfs-
lichen auf, deren leitenden Gesichtspunkt wir bereits aus den
Vorarbeiten vou 1709 kennen. Die Bildnerei kann nicht be-
kleiden, weil das Kleid nichts völliges, rundes, sondern nur Hülle
ist, fremde, unwesentliche Last; vollends in Stein, Erz, Holz
') Noch deutlicher als hier bezeichnet Herder den Zweck seiner Ober
Winckelmanus metaphysische Schönheitslehre weit hinausführenden Unter-
suchung so: 'er ist keine Lobrede aufs .Schöne in dem unbestimmten,
begeisterten Tone, in dem wir seit Winckelmanu jauchzen; er ist
keine üppige Beschreibung, um sinnliche Triebe zu erregen: er ist Theorie
der Schönheit aus ihrem ursprünglichsten ^'inne, und da suche ich für
jeden eigentlichen Begriff sein eigentliches Wort (HW 8, 131 f.)'.
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Der junge Herder und Winckelmann.
161
gebildet wird es zum herabhangenden Klumpen. Deshalb war
auch im Morgenlande, wo der Körper stets verhüllt erscheint,
die Bildnerei unmöglich, im jüdischen Lande gar nicht erlaubt;
bei der römischen Kunst war die Kleidung ein Hindernis, noch
mehr im Mittelalter und vollends in der Neuzeit. Nur die
Griechen stellten ihre Mannorbilder in schöner Nacktheit hin,
und wer denkt jetzt bei dem Laokoon daran, dafs er eigentlich
als Priester bei dem Opfer vor versammeltem Volke bekleidet
gewesen? ! ) Wo aber die Griechen ihre Statuen bekleiden mufsten,
da wählten sie nur durchscheinende und nasse Gewänder, nicht
ein Kleid, sondern 'gleichsam ein Kleid, wie die Götter Homers
gleichsam Blut haben' (8, 23; nach Winckelmann, vgl. WW 7, 84 f.).
Dagegen kann die Malerei das Kleid bearbeiten als das edelste
was es ist: gebrochenes Licht, Zauberduft fürs Auge, der alles
erhöht, Nebel und schöne Farbe. Auch das Nackte hat in der
Malerei eine völlig andere Bedeutung. Färbung nach der Natur
wirkt auf der Bildsäule häfslich, weil Farbe nicht Form ist,
dem tastenden Sinn nicht bemerkbar. Ebenso müssen Adern,
Knöchel und Knorpel in die Fülle des Ganzen verflöfst werden,
weil sie dem Gefühl widerstehen; die Haare müssen dem Gefühl
nie Wald, sondern sanfte nachgebende Masse werden, die sich
endlich selbst verliert; die Augenbrauen werden nur angedeutet,
von dem darübergleitenden Sinn mehr geahnt als empfunden,
ähnlich darf auch der Augapfel nur angedeutet werden. 2 ) Alles
dies ist anders in der Malerei, die eben für das Auge arbeitet.
Häfslichkeiten dürfen beide Künste nur bilden, soweit es ihr
'Sinn' erlaubt. Die Formen der Skulptur sind ferner so ein-
förmig und ewig wie die einfache, reine Menschennatur, während
die Gestalten der Malerei abwechseln mit Geschichte, Menschenart
und Zeiten.
Wie die ganze Abhandlung Herders in stetem Hinblick auf
die bildende Kunst ihrer Zeit geschrieben ist, das bedarf nach
Adolf Schölls trefflichen Ausführungen (Gesammelte Aufsätze zur
klassischen Literatur alter und neuerer Zeit. 1884. S. 172 ff.)
keiner weiteren Begründung. Vor allem der dritte Abschnitt
») Ähnlich bei Apollo, der vom Siege Pythons kommt (HW 8, 19 f., 135).
Eine von der Winckelmannschen abweichende Auffassung des Apollo suchte
Herder in seiner Denkschrift auf Winckelmann zu begründen (HW 8, 454 ff.).
*) In diesen Bemerkungen ist, wie ich später zeigen werde, Herder von
Diderot abhängig, beide aber von Winckelmann (z. B. WW 4, 199 ff.; 7, 121 ff.).
11
1G2
Arnold E. Berger
wendet sich gegen den toten Formalismus der damaligen Kunst.
Die Hogarthsche Schönheitslinie mit allem, was daraus gemacht
ist, sagt nichts, wenn sie nicht in Formen, also dem Gefühl
erscheint. Den menschlichen Leib in der ganzen Ausdehnung
seines Baues schildert Herder in seiner zweckvollen Schönheit,
jedes einzelne Glied nach seiner Bedeutung und Vollkommenheit,
und gelangt zu dem Satze, 'dafs jede Form der Erhabenheit
und Schönheit am menschlichen Körper eigentlich nur Form der
Gesundheit, des Lebens, der Kraft, des Wohlseins in jedem Gliede
dieses kunstvollen Geschöpfes' sei, dafs die Wohlgestalt des
Menschen kein Abstraktum, keine Komposition gelehrter Regeln
oder willkürlicher Einverständnisse sei, vielmehr von jedem er-
fafst und gefühlt werden könne. In der Bekämpfung des un-
beseelten Formalismus der Schönheitslinie hatte Herder, wie ich
nachweisen werde, einen Vorgänger an Diderot, auch das Gespräch
zwischen Burke und Hogarth im Teutschen Merkur 1776, 1, 131 fL
bewegt sich in ähnlicher Richtung. Aufserordentlich geistvoll
aber ist es, wie Herder für seine These den praktischen Nach-
weis erbringt, indem er die Eigenschönheit eines jeden Gliedes
und seine besondere Stellung im Zusammenhange mit dem
geistigen Inhalt der ganzen Gestalt und dem gewählten Motiv
zu erfassen sucht. Je mehr ein Glied bedeutet, was es bedeuten
soll, desto schöner ist es. Wo eine Form, ein Glied eine vor-
zügliche Bedeutung hat, da beut es sich gleichsam selbst und
zuerst der tastenden Hand dar: 'Lafst einen Apollo Zorn fühlen
und schreiten, sofort treten die Teile seines Körpers hervor, die
edles Selbstgefühl und Gang zu seinem Zwecke andeuten: die
Nase weht lebenden Othem und macht Raum vor sich her; die
Brust, ein schöner Panzer, wölbet sich edel; die mutigen, längern
Schenkel 1 ) schreiten; die andern Glieder ziehn sich gleichsam
bescheiden zurück, denn sie sind nicht in der Handlung' (8,57).
So wird jede schöne Form von dem Lebensgeiste des Ganzen
bestimmt, an dem sie teil hat; jedes Glied wird im höclisten
Mafse 'individuell bedeutend'. Die Bildsäule mufs als Mensch,
als ganz durchlebter Körper, als Tat zu uns sprechen
und unser ganzes Wesen durchdringend das ganze Sai-
tenspiel menschlicher Mitempfindung wecken (60).
Man sieht, dafs die beiden Gesichtspunkte, welche in den
l ) Vgl. dam die 'Bemerkung Hogarths', oben S. 165.
Der junge Herder und Winckelmann.
163
Reiseskizzen zur 'Plastik' noch leidlich neben einander standen,
hier vollends in einander überlaufen: der treue gründliche Tast-
sinn, der den Körper 'begreifen' lehrt, verwandelt sich in der
Lebhaftigkeit des Vortrags fast unmerklich in den inneren Ge-
fühlssinn, in die 'innere Sympathie', er wird zum 'Finger des
inneren Sinns', welcher 'nach der Gestalt des Geistes in der
Form tappt'. Das ist der Klarheit der Auseinandersetzungen
nicht gerade förderlich gewesen, aber gleichwohl führt die
Herdersche Abhandlung einen bedeutsamen Schritt über Winckel-
mann wie über Lessing hinaus. Sie enthält den ersten Versuch
zu einer strengen Abgrenzung der bis dahin noch allzu unter-
schiedslos behandelten Kunstgebiete Plastik und Malerei, zugleich
den ersten kühnen Versuch, diese Abgrenzung an der Hand
grundlegender Fragen der Erkenntnislehre und der vergleichenden
Sinnesphysiologie vorzunehmen. In eine Kritik dieses Versuchs,
zu der der genannte (bereits 1845 geschriebene) Aufsatz von
Schöll bemerkenswerte Gesichtspunkte an die Hand gibt, kann
an dieser Stelle ebenso wenig eingetreten werden wie in eine
Geschichte der Fortführung dieser wertvollen Anregungen durch
neuere Forscher. Hier genügt es, zu betonen, dafs mit der
metaphysischen Herleitung des Schönheitsbegriffes,
welche Winckelmann so viel unbelohnte Mühe gekostet hatte,
jetzt endgültig gebrochen war. Das Ideal der Kunst aber,
welches sich seiner genialen Anschauung erschlossen und in
seiner stillen, seligen Gröfse Herders Nachdenken so lange
beschäftigt hatte, das war hier endlich auf die feste Grundlage
der sinnlichen Erfahrung gestellt; die Schönheit der Linie war
aus einer Abstraktion zu einem lebendigen Ausdrucksmittel
seelischer Bezüge geworden, die 'edle Einfalt und Ruhe' war
auf ihre psychophysischen Voraussetzungen zurückgeführt, aus
ihren Wirkungen auf den Gefühlssinn erklärt, eine synthetische
Anschauung des 'wesentlichen Schönen' war gefunden: Schönheit
war nicht mehr 'Unbezeichnung', wie Winckelmann gesagt hatte,
sondern 'sinnlicher Ausdruck'. 'Bedeutung innerer Vollkommen-
heit', sinnliche Sprache der Seele durch den Körper. 'Die ewigen
Gesetze der menschlichen Schönheit sind metaphysisch und phy-
sisch, moralisch und plastisch völlig dieselben' (8,66), immer
findet sie statt in 'der schönen Mitte zweier Extreme.'
Kein Zweifel, dafs jene leise Umwandlung, welche dem
körperlichen Tastsinn allmählich den inneren Gefühlssinn unter-
11*
Arnold E. Berger
schob, schliefslich in Winckelmanns Schriften ihre letzte Be-
gründung hatte. In der Tat sind die Beschreibungen und physio-
gnomischen Charakteristiken Herders gerade in der 'Plastik'
ganz von Winckelmann inspiriert, vielfach klingen sie wörtlich
an ihre Vorbilder an, wie überhaupt die ganze Abhandlung
Winckelmannsches Stilgepräge trägt und Reminiscenzen aus
dessen Schriften in solcher Fülle enthält, wie nur die Erstlings-
arbeiten Herders. l ) Und mufste es dem begeisterten Leser
Winckelmanns nicht immer von neuem auffallen, dafs diesem
ein ungemein starker und zarter innerer Gefühlssinn Erkenntnisse
vermittelte, hinter denen alles zurückblieb, was er auf dem Wege
metaphysischen Grübelns über das Wesen der Schönheit mühsam
festzustellen suchte? Was er vor seinen Statuen erlebt hatte,
wog jedenfalls schwerer, als alles Theoret isieren. 'Jede Form
der menschlichen Gestalt — sagt Herder — spricht zu uns, weil
wir selbst, mit dieser Form bekleidet, den Geist fühlen, der sich
in dieser Form offenbart. Wie wolltet ihr einem Kinde ein
zorniges oder ein freundliches Gesicht begreiflich machen, d. i.
ihm den Zorn oder die Freundlichkeit durch Unterricht bei-
bringen, wenn es den Xaturausdruck dieser Affekte sym- oder
antipathisch nicht in sich fühlte? Nicht anders fühlen wir den
Gemütscharakter jedes echt gebildeten Werkes der Kunst, den
Geist, der es bewohnt; schnell oder sanft geht er in uns über.
Mein Arm erhebt sich mit jenem Fechterarm, meine Brust
schwillt mit jener Brust, auf welcher Antäus erdrückt wird.
Meine Gestalt schreitet mit Apollo oder lehnt sich mit ihm oder
schaut begeistert empor. Laokoons und der Niobe Seufzer dringen
nicht etwa in mein Ohr, sie heben meine Brust selbst mit
stummem Schmerz. Das Angesicht jenes Genius, dieser Tochter
blicken mich an und erfüllen mich dadurch selbst mit ihrer
Liebe, mit ihrer Unschuld. Durch alle Teile des schön belebten
Körpers ist diese Harmonie ergossen. Nicht etwa nur jener
Rücken des Herkules ist bedeutend; diese Trümmer eines lieb-
lichen Mundes, dieser gebrochne Juppitersschädel führen ihre
ganze Bedeutsamkeit mit sich: über jenem schwebt noch die
Teitho, unter diesem erzeugen sich noch Zeus' Gedanken. Der
>) Die meisten dieser Reminiscenzen sind im 8. Bande der Suphanschen
Ausgabe in den Anmerkungen (S. 659 ff.) nachgewiesen , andere sind im Ver-
laufe unsrer Darstellung an den entsprechenden Stellen schon herangezogen
worden.
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Der junge Herder und Winckelmann.
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Ausdruck der plastischen Kunst ist leibhaft, also auch mittels
lebhafter Formen geisthaft, d. i. sympathetisch wirksam. Das
war Plastik nach dem Begriff der Griechen' (vgl. dazu
HW 8, 100 ff.).
Und derselbe Gesichtspunkt gibt schliefslich den entschei-
denden Aufschlufs über die Berechtigung der Allegorie in der
bildenden Kunst, von der Winckelmann zu unbestimmt und zu
allgemein gehandelt hatte (HW 8, 78 ff.): jede Kunst hat nämlich
ihre eigene Art der Allegorie. Die Plastik, die Seele durch
Körper bildet, ist eben darum eine beständige Allegorie, der
bildende Künstler ' allegorisiert also durch alle Glieder', denn
die Proportion ist ihm nur eine Bedingung seiner Kunst, nicht
aber ihr Wesen. Je weniger ein Glied Anteil am Geist, au
Bewegung und Leben hat, desto fester und unveränderlicher ist
seine Proportion bestimmt, während die Glieder, die vorzugsweise
Leben und Bewegung ausdrücken, am wenigsten einem festen
Kanon der Proportion unterliegen dürfen, wie die längeren
Schenkel des Apollo, der dickere Hals des Herkules u. a. beweisen.
Um aber Allegorieen im engem Sinne auszudrücken, d. h. ' blofsen
Witz, eine feine Beziehung zwischen zwei Begriffen oder das
Abstraktum eines fliegenden Dufts', dazu ist die Statue 'zu wahr,
zu ganz, zu sehr eins, zu heilig', 'die bildende Natur hasset
Abstrakta'. Die Plastik bildet nicht Abstrakta, sondern Personen,
nicht die abstrakte Liebe, sondern die Göttin der Liebe. Auch
die Attribute der hellenischen Gottheiten waren nicht begriff-
liche, sondern historische, individuelle Kennzeichen eines
bestimmten Individuums. Allegorieen darf man in der antiken
Kleinkunst suchen, auf Gemmen, Münzen, Urnen, Basreliefs, aber
die plastische Monumentalkunst war zu grofs und zu bestimmt,
als dafs 'Allegorie sie umflattern sollte ', allenfalls an Grabmälern
wäre Allegorie zu ertragen. Gegen Winckelmann (WW 4, 32)
richtet sich auch die Bemerkung Herders, dafs die Plastik
eigentlich keine Gruppen bilden könne: Gruppieren ist nicht
plastisch, sondern malerisch, 'jede Bildsäule ist eins und ein
Ganzes, jede steht für sich allein da'; deshalb suchten die Griechen
da, wo Gruppe sein mufste, diese selbst soviel wie möglich zu
zerstören, was Herder an der Laokoon-, der Niobidengruppe u. a.
zu erweisen sucht. Auf der flächenhaften Gemme oder Münze
kann der malerische Gesichtspunkt walten, die grofsen Bilder
der Wahrheit aber, die Götter- und Heldengestalten der Plastik,
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Arnold E. Berger
dulden weder die Allegorie noch malerische Gruppierungen, denn
die Plastik ist ihrem Wesen nach 'Statik und Dynamik' der
beseelten Gestalt. In der schönen, 1774 bereits gedruckten und
1786 für die zweite Sammlung der 'Zerstreuten Blätter' über-
arbeiteten Untersuchung 'Wie die Alten den Tod gebildet' legte
Herder an einem von Lessing meisterlich behandelten Motive
der antiken Kunst die Eigenart griechischer Symbolik dar und
nahm für die Erklärung wiederum eine entwicklungsgeschicht-
liche Erwägung, Einwirkung ägyptischer Tradition, zu Hilfe.
Wir haben damit die Grenze, die wir unsrer Studie gezogen
hatten, erreicht. Auf drei Wegen sahen wir den jungen Herder
in der Auseinandersetzung mit Winckelmann entdeckungsfroh
voranschreiten. Auf dem ersten, dessen leitender Faden der Be-
griff der 'Nachahmung' war, welchen Winckelmanns Erstlings-
schrift auf ihrem Titel trug, führte ihn das von Hamann
empfangene Licht bis zur theoretischen Begründung jenes
schöpferischen Lebens- und Zeitgefühls fort, das mit dem jungen
Goethe und der Genieepoche dichterisch produktiv werden sollte
und für den alten Begriff der Nachahmung einen ganz neuen
Inhalt fand : Nachahmen ist nichts weniger als ein schülerhaftes
Abschreiben der Form, sondern ein freies Bilden aus dem Gesetz
der inneren Sympathie; nicht der Respekt vor der Regel,
sondern die einfühlende Liebe leite die bildende Kraft, nicht
die Autorität der Griechen, sondern ihre unvergleichliche Gabe,
Leben in Kunst zu verwandeln. Der zweite Weg, auf dem
wir Herder begleiteten, führte von der durch Winckelmann an-
geregten Frage, wieweit eine Geschieh tsdarstellung zugleich
Lehrgebäude sein könne, durch die Leibnizsche Philosophie hin-
durch zur Entdeckung der historisch -genetischen Forschungs-
methode und zur Begründung des wissenschaftlichen Programms,
dessen Ausbau die Zukunft gehören sollte: Revision der gesamten
Geschichte des menschlichen Geistes auf Grund des Entwicklungs-
gedankens. Der dritte Weg, den wir mit Herder zurücklegten,
stellte sich uns als eine Anwendung dieser neuen Methode auf
das Gebiet der Ästhetik und der Kunstgeschichte dar: die
metaphysische Ästhetik wird ersetzt einerseits durch eine
beschreibende und vergleichende, die aus der ganzen Welt
die Phänomene des Schönen sammelt, ordnet und erklärt nach
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Der junge Herder und Winckelmann.
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örtlichen und zeitlichen Kriterien, anderseits durch eine ge-
netische, die sich aufbaut auf einer Physiologie der Sinne und
auf Untersuchungen über Ursprung und Inhalt der primitiven
ästhetischen Eindrücke wie der aus ihnen abgeleiteten ästhetischen
Begriffe. Auf der Fortsetzung des mit der ' Plastik' eingeschlagenen
Weges treffen wir Herder im ersten Teile der 'Ideen' wieder, wo
er die Vernunft des Menschen, seine Kunst, seine Sprache, seine
Freiheit, den Inbegriff der Humanität überhaupt aus der auf-
rechten Gestalt ableitet und den Satz aufstellt : ' um die Pflichten
des Menschen zu zeichnen, braucht man nur seine Gestalt zu
zeichnen'. Schon in der 'Plastik' liegt eine Ahnung von der
später in den "Gesprächen über Seelenwanderung' auf Grund
einer vom Menschen her über das Ganze der Schöpfung •sich
ausbreitenden Naturphilosophie gewonnenen Erkenntnis: 'Moral
ist nur eine höhere Physik des Geistes', Aufsenwelt und Innen-
welt stehen unter gemeinsamen Gesetzen. Die schönste und
fruchtbarste Weiterbildung der in der 'Plastik' niedergelegten
Gedanken besitzen wir aber in Herders Abhandlung über die
'Nemesis' (1786) und in der dritten Sammlung seiner Humanitäts-
briefe (1794); hier werden in dem Gestaltenkreis der griechischen
Kunst die 'anschaulichen Kategorien der Menschheit' nach-
gewiesen, und diese griechische Kunst selbst wird als eine Schule
der Humanität gepriesen. Was uns in diesen seinen reifsten
Schilderungen der klassischen Kunst entgegentritt, ist eine höchst
bedeutsame Erweiterung und Vertiefung des Winckelmannschen
Idealbegriffs, die nicht sein alleiniges Eigentum, sondern bereits
durch Goethes Typenlehre beeinflufst ist. Aber die Stimmung
Winckelmanns, seine Griechenandacht und seine Schönheits-
anbetung durchströmen und beseelen hier noch einmal den Vor-
trag Herders mit dem Zauber wehmütiger Sehnsucht, der uns
deutlich verrät, dafs auch diesem grofsen Bildungskosmopoliten
die Winckelmannsche Sentimentalität nicht fremd geblieben ist,
die ihm in einer kunstfremden Zeit den Ruf entlockt hatte:
'Griechische Spiele, griechische Tänze, griechische Feste, grie-
chische Offenheit, Jugend und Freude, wo sind sie? wo können
sie sein?' Und jene Antike, zu der Goethe und Schiller auf-
schauten, die der Leitstern der aufstrebenden Altertumswissen-
schaft wurde, war sie denn im letzten Grunde etwas andres als
das Ideal Winckelmanns? trug das Bild der Humanität, wie es
unsern Klassikern vor der Seele schwebte, nicht wesentlich die
108
Arnold E. Berger, Der junge Herder nnd Winckelmann.
Züge, in denen es sich Winckelmann zuerst offenbart hatte?
Wir glauben heute die Griechen besser zu kennen, das Ideal-
bild jener Tage ist nicht mehr das unsrige, und die Worte,
welche Herder 1781 schrieb: 'auch dein Traum, lieber Winckel-
mann, von schönen Menschengestalten, von edler Jugendfreund-
schaft und Erdenweisheit ist verlebt hienieden' gelten uns nicht
blofs von dem Verfasser der Kunstgeschichte, sondern auch von
dem idealen Griechentum, an das er und unsre Klassiker mit
ihm so innig geglaubt haben: uns ist es heute ein 'verlebter
Traum'. Um so besser werden wir gerüstet sein, die Geschichte
dieses wundervollen Traumes zu erforschen und in ihren vielfach
noch verborgenen Zusammenhängen zu beleuchten. Ihr soll denn
auch das Hauptstück meines Winckelmannbuches gewidmet sein,
dessen Veröffentlichung mir hoffentlich in nicht mehr ferner Zeit
vergönnt ist.
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Melodik
und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
Von
Franz Saran.
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Literatur.
Ed. Sievers, Zur Rhythmik und Melodik des nhd. Sprechverses. Ver-
handle. 42. Philol. -Vers. (1894), S. 370— 82. Ders., Über Sprachmelodisches
i. d. deutsch. Dichtung. Rektoratsrede. Leipzig 1901. Ders., Metrische
Studien. I. Studien zur hebräischen Metrik. Erster Teil: Untersuchungen.
Abh. d. sächs. Ges. d. Vviss. Bd. 21. Separat Leipzig, Teubner 1901. Ders.,
Grundzüge der Phonetik 5 . Leipzig, Breitkopf n. Härtel 1901 [§ «09— 691].
F. Sarau, Rhythmik, in: Holz-Saran-Bemoulli, Die Jenaer Liederhandschrift.
Leipzig, Hirschfeld 1901. Bd. H, S. 91 — 151. Ders., Der Rhythmus des
französischen Verses. Halle, Niemeyer. [Das Buch ist im Druck und erscheint
demnächst. Die ersten Bogen davon sind gedruckt in den Forschungen z.
roman. Phil., Festgabe f. H. Suchier. Halle, Niemeyer 1900, S. 539 — 579.]
In einem auf der 42. Philologenversammlung gehaltenen
Vortrage 'Zur Rhythmik und Melodik des neuhochdeutschen
Sprech verses ' tritt Sievers für eine Erweiterung des her-
kömmlichen Begriffs der Metrik ein. Diese Wissenschaft solle
alles in ihren Bereich ziehen, was dazu beiträgt, der Lautform
der gebundenen Rede ihren Kunstcharakter zu verleihen, und
jedes dieser Elemente auf seine Wirkung hin prüfen. 1 ) Ich
möchte den Umfang des Begriffes nicht so sehr erweitern. Denn
Metrik heifst nun einmal 'Wissenschaft vom VersmaXs'; der
Begriff steht in ausschliefslicher Beziehung zum Rhythmus. Aber
sagen wir statt 'Metrik' Verslehre, dann ist Sievers unbedingt
beizupflichten. Denn ein Vers hat in der Tat nicht nur Rhythmus,
sondern auch Melodie.
Dafs im Verse nicht blofs der Rhythmus, sondern auch das
Musikalische eine grofse Rolle spiele, war früher nicht unbekannt.
Die Dichter, z. B. Goethe, Schiller und Hebbel, reden davon als
einem wesentlichen Bestandteil des Ganzen. 5 ) Auch sonst findet
man manche allgemeine Bemerkung über den 'melodischen Klang'
•) S. 371.
J ) Vgl. Sievers, Sprachmelodisches S. 19 f.
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Frau Saran
Goethischer Verse u. dergl. Aber es blieb eben bei All-
gemeinheiten.
Erst Sievers hat in seinen Vorträgen und Schriften genaue
Bestimmungen über die Sache gegeben: über die Art der Ton-
bewegung, über die Tonlage poetischer Werke, über die Faktoren
der Versmelodie liest man bei ihm wichtige und fördernde Hin-
weise. Verbunden mit seinen Bemerkungen über die Zerlegung
des Verses in kleinste Gruppen und über 'monopodische' bezw.
'dipodische 1 Struktur') sind sie allerdings geeignet, die übliche
Lehre vom Metrum bedeutsam zu erweitern, eine wirkliche Lehre
vom Verse zu begründen.
Bedeutet die Forderung von Sievers zweifellos eine Ver-
tiefung der Verslehre, so schliefst sie zugleich eine ungemeine
Erschwerung der Forschung ein.
Das Metrum d. h. den Inbegriff der wesentlichsten rhyth-
mischen Merkmale eines Verses zu bestimmen, ist nicht allzu-
schwer. Dazu reicht die übliche, halb papierne Analyse aus.
Wer sich dagegen auf den neuen Standpunkt stellt, mufs sich
von der herkömmlichen Art der Betrachtung, die im Wesentlichen
doch nur den gesehenen Vers zum Gegenstand nimmt, völlig
frei machen. Er mufs stets des Grundsatzes jeder wahren Vers-
lehre eingedenk sein: Gegenstand der Forschung ist allein
der sinn- und stilgemäfs vorgetragene, lebendige Vers.
Nicht das Auge, das Ohr ist das Instrument dessen, der die
Kunstform des Verses erforschen will. Dem Ohre mufs er also
die Gegenstände seiner Forschung zugänglich machen, sei es im
Theater oder anderswo durch fremde Hilfe, sei es durch eigenen
Vortrag zu Hause. Ist er auch selbst kein Künstler des Vortrags,
so kann er doch lernen, durch Versenkung in den Sinn und die
Stimmung der Dichtung immer deutlicher den Rhythmus und die
Melodie herauszufühlen, die der Dichter seinem Werke eingeprägt
hat und die demselben als wesentliche Eigenschaften unverlierbar
anhängen. 2 ) Ebenso fest und unverlierbar, wie der Rhythmus
und die Melodie einer Beethovenschen Symphonie anhaften. Und
wie hier, so können beide auch im Verse durch die Interpretation
mit überzeugender Kraft aus dem Papier zum Leben erweckt
werden.
') Besonders Metr. Stud. 8. 48 ff., Phon. S. 233 ff.
*) Sievers, Sprachmelod. S. 18 ff., 22.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
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Sievers' Ausführungen bedürfen in manchen Punkten noch
der Ergänzung. Seine Untersuchungen haben sich wesentlich
auf das Allgemeine der Tonlage, Intervallgröfse und Tonführung
gerichtet: das Besondere, die Ermittelung absoluter Verhältnisse,
hat er nicht versucht. Offenbar werden seine Behauptungen
überzeugender wirken, wenn es gelingt, in charakteristischen
Beispielen die vorhandenen Töne und Intervalle — sei es auch
nur für ein Individuum — absolut festzulegen. Andererseits ist
bei der rhythmischen Analyse noch mancherlei zu beachten, was
Sievers für seine Zwecke bei Seite lassen konnte, aber was bei
dem Streben nach vollständiger Zergliederung nicht fehlen darf.
Die Rhythmik in der Jenaer Liederhandschrift giebt darüber
Auskunft.
Ich will nun einmal versuchen, in einem nicht zu kleinen
poetischen Werke, Goethes 'Zueignung', Melodie und Rhythmus
möglichst genau zu fixieren. Möge das Beispiel häufig Nach-
ahmung finden, damit sich allmählich die Bausteine zu einer
deutschen Verslehre in dem von Sievers bestimmten Sinne zu-
sammenfinden. »)
§ 1. Notierung und Rhythmisierung: Allgemeines.
Zunächst kommt es darauf an, sich klar zu machen, wie
das Gedicht sinn- und stilgemäfs gelesen werden mufs. Ich ver-
weise hier auf die Bemerkungen von Sievers, 5 ) die nach meinen
Erfahrungen durchaus zutreffen. Insbesondere hüte man sich
davor, 'etwas in das Gedicht hineinzulegen', zu pointieren, d. h.
rhetorisch vorzutragen. Diese leider sehr beliebte Manier pafst
für die Zueignung ganz und gar nicht. Auch nur die geringste
Färbung in diesem Sinne vernichtet den Reiz des schönen Ge-
dichtes völlig. Man gebe sich dem Eindruck der Verse ganz
hin und reproduziere ohne Zwang. Wer sein Ohr durch die
rhetorische, fortwährend charakterisierende und schattierende
Vortragsart verdorben hat, dem wird die W eise des Gedichtes
zuerst eintönig vorkommen. Allmählich wird sich ihm aber das
') Wertvoll wäre z. B. eine Untersuchung Uber den dramatischen 'fünf-
ftifcigen Iambus' der Iphigenie und des Tasso. Je 500 Verse würden genügen,
die wesentlichen Eigenschaften dieser Versart erkennen zu lassen.
») Sprachmelod. S. 18—26, besonders S. 22 u. 25.
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Franz Saran
Verständnis und das Gefühl für den Stil solcher Verse ent-
wickeln und vertiefen, wird er die Notwendigkeit, gerade so und
nicht anders zu lesen, einsehen.
Leider findet man gerade bei Recitatoren und besonders
bei Schauspielern selten die Fähigkeit, Lyrik von starkem
Stimmungsgehalte sinn- und stilgemäfs vorzutragen. Gerade das
Bestreben, jede Nuance der Stimmung und des Affekts 'heraus-
zubringen', d. h. im Grunde zu übertreiben, zerstört das spezifisch
Lyrische. Lyrik muss anders gelesen werden als Erzählung
(Epik) oder Drama. Einhalten der Versmelodie ist bei ihr
aufserordentlich wichtig. Vielleicht wird gerade gegen diese
Forderung am meisten gefehlt; vielleicht fliefst das Unerträgliche
beim Anhören lyrischer Vorträge von Schauspielern besonders
aus dieser Quelle. Es kommt freilich noch hinzu die Furcht
vor dem Verse, das Prosaisieren der Rhythmen, sei es um dem
Schreckgespenst des Skandierens zu entgehen, sei es um die
'unnatürliche', weil metrisch gebundene Sprache zur 'Natur'
zurückzubringen.
Was für die Lyrik gilt, gilt mutatis mutandis auch fürs
Drama und Verspoesie überhaupt. Es ist eben eine Tatsache,
deren Erkenntnis sich die Bühne nicht mehr verschliefsen sollte,
dafs es stilgemäfsen Vortrag von Versen nicht mehr giebt,
wenige, leider zu wenige Künstler ausgenommen, dafs nirgends
das gebildete Ohr mehr auszustehen hat, als im Theater, wenn
man Versdramen der Klassiker aufführt.
Es ist übrigens bei den Franzosen auch nicht anders, wie
ich ausführlich im 'Rhythmus des frz. Verses' gezeigt habe.
Man vergleiche die dort citierte Stelle über den Versvortrag
Victor Hugos 1 ) und was ebenda über den richtigen Vortrag von
Versen gesagt wird.
Zweierlei bedingt den Vortrag der Zueignung: die Stimmungen
und Affekte, die der Dichter unmittelbar bei dem Erlebnis selbst
gehabt hat, die innere Erregung, die das Erleben solch wunder-
barer Vision notwendig hervorbringt; dann der Umstand, dafs
das Erlebnis bei der Abfassung des Gedichtes vergangen ist und
nur erzählt wird. Das Gedicht entspringt nicht unmittelbar aus
dem Erlebnis selbst, es erneuert nur den vergangenen Eindruck
der Vision und teilt ihn den Freunden (V. 105) mit. Deshalb
') Aus Lubarsch, Über Declam. u. Rhythm. d. fre. Verse, 1888 (8. 24 ff.).
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
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dürfen jene seelische Erregung, jene Stimmungen und Affekte
nicht mit ihrer ersten Stärke und Fülle auftreten: die Ver-
gangenheit, der Ton der Erzählung dämpft sie ab, läfst sie nur
wie durch einen Schleier sehen.
Jene Stimmungen und Affekte sind an sich auch nicht auf-
geregt oder stürmisch: stille Freude an der schönen Natur nach
erquickender Nachtruhe (V. 1—24), visionäres Staunen mit
wachsender Erregung (25—32), Beruhigung (33—40), wieder
etwas Erregung (41—56), Ruhe (57—64), lebhaftere Bewegung
(65—72), zunehmende Ruhe (73—112). Der Grundton des Er-
lebnisses ist Ruhe: nur hin und wieder zittert die innere Er-
regung durch.
Dieser Charakter des Erlebnisses, durch den Schleier der
Vergangenheit und Erzählung noch mehr abgedämpft, fordert
offenbar ruhiges Tempo, ziemlich gleichmässige Abfolge der
Senkungen und Hebungen, 1 ) yerhältnismäfsig geringe Gewichts-
unterschiede der Silben und damit Vermeiden zu deutlicher
Unterordnung der Hebungen unter einander. Keine Überstürzung
bei syntaktischen Einschnitten, ruhiges Verweilen bei starker
Interpunktion. Vermeiden grofser Tonintervalle, die leicht auf-
regend wirken, kein flackerndes Auf und Ab der Tonbewegung.
In dieser Weise habe ich mich bemüht zu lesen.
Zu meiner Notierung bemerke ich, dafs ich für meine
Person die norddeutsche Intonation habe. Ferner, dafs ich zu
affektloser Vortragsweise neige und deswegen auch bei meinem
gewöhnlichen Sprechen verhältnismäfsig geringe Tonintervalle
hervorbringe. Möglicherweise sind also die von mir für das
Gedicht absolut notierten Tonschritte etwas kleiner, als sie andere
brauchen und der Dichter selbst gewollt hat. Meine Notation
soll überhaupt nichts anderes, als meine persönliche Tongebung
fixieren. Sie soll keineswegs ein Muster von Vortrag sein.
Es kommt mir dabei nur darauf an, einmal die Lehren von
Sievers an einem Beispiel in concreto vorzuführen, damit ihre
Einzelheiten greifbarer und auch dem minder Geübten zu-
gänglicher werden. Die Mängel solch ersten Versuches möge
man im Hinblick auf die Schwierigkeit der absoluten Ton-
bestimmung entschuldigen.
x ) Keine Prosabewegung! Der Vers mufs als Vers voll zur Geltung
kommen.
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Franz Saran
Zur Notation habe ich die üblichen fünf Notenlinien benutzt
Freilich kommt man, wovon man sich schnell überzeugt, mit den
Tonintervallen der temperierten Stimmung nicht entfernt aus.
Die Melodie der Strophe schwebt meist blofs im Umfang eines
Ganztons auf und nieder. Es handelt sich in unserem Falle
bei dem Verhältnis der Hebungen zu einander oft nur um
Achtel- bis Zehnteltöne. Senkungen entfernen sich nicht selten
noch weniger von ihren Hebungen. Deshalb verwende ich
folgenden Schlüssel. Die untere Notenlinie bezeichne das tem-
perierte eis des Klaviere, 1 ) die dritte d, die fünfte dis. Dann
steht auf der zweiten Linie eine Note, die die Mitte zwischen
eis und d hält, in dem ersten Zwischenräume eine, die näher
an eis, in dem zweiten eine, die näher an d liegt. Entsprechend
auf der vierten Linie eine mittlere zwischen d und dis; in dem
dritten Zwischenraum eine näher an d, im vierten eine näher
an dis. So wird der Umfang des Ganztones eis — dis in 9 Teile,
jeder also — V« Ton geteilt und nach diesen Werten die Ton-
hohen des Gedichts bestimmt. Diese sind natürlich nur ungefähr
richtig: sie schwanken immer noch im Umfang von V»— Vto Ton.
Wo Noten auf derselben Linie oder in demselben Zwischenraum
stehen, soll dennoch nicht immer völlige Identität der Töne
behauptet werden: die Differenzen sind eben manchmal so klein,
dafs sie selbst mit der Neuntelskala nicht genügend fixiert
werden können.
In manchen Strophen erhöht sich die Tonlage merklich.
Dort wende ich einen dis- Schlüssel an, der nach demselben
Princip wie der eis- Schlüssel gebaut ist
Die Schlüssel sind also
dis f--~_-
d und « -■
et* di$ —
Zur Bezeichnung der Töne selbst würde die Quadratnoten-
schrift des römisch-katholischen Chorals vorzüglich geeignet sein.
Sie kennt nur Tonhöhen, nicht aber Zeitwerte und besitzt in den
sogenannten Ligaturen ein ausgezeichnetes Mittel, Mehrtönigkeit
von Silben auszudrücken. Man vergleiche über sie den Magister
choralis von X. HaberL Die Druckerei besitzt die Typen leider
') Mein Instrument hat Pariser Stimmung.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 177
nicht. Deshalb helfe ich mir so, dafs ich für die Senkung f f für
die Hebung J anwende. Doch sollen diese Notenzeichen
nur Tonhöhen ausdrücken. Jedes Quantitätsverhältnis
denke man sich dabei völlig* weg. Die rhythmischen
Quantitäten werden durch Striche verschiedener Länge
und andere rhythmische Symbole besonders fixiert, die
Gewichtsverhältnisse der Hebungen durch Punkte und Accente.
Auch diese Bezeichnung der Silbenschwere und -dauer soll
nur die wichtigsten Unterschiede festlegen. In Wirklichkeit sind
die Schattierungen noch erheblich zahlreicher.
Die Glieder der Reihen sind durch gröfsere Zwischenräume
geschieden. Die Fuge wird stets, mag sie grofs oder klein sein,
durch ; angedeutet. (;) bedeutet 'verdeckte Fuge' (unten § 13).
Das Metrum der Strophe, ') das mit wenig Ausnahmen fest-
gehalten wird, ist folgendes (mit den Fugen der Str. 1):
I, 1. _ ^_JL_J__a | — L-_L; -JL„1
— , ■ A | ,
11,3. _.' i
Reimgebäude:
a-b
a — b.
a - V~
c — c.
Veränderungen finden sich nur in V. 57—72. Hier sind die
Vorderreihen der Ketten 1—3 männlich (L 7 ), die Hinterreihen
weiblich (I-t;). V- 71—72 sind beide Reihen der Kette 4
stumpf (L 7;). Der Grund dieser Besonderheit wird in der Ent-
stehungsgeschichte des Gedichtes zu suchen sein.
§ 2. Der Text.
Ich gebe die vollständige Notierung und Rhythmisierung
des langen Gedichts, damit der Leser meinen Vortrag selbst
kontrollieren kann und für eigene Versuche hinreichenden Stoff
zur Einübung habe.
') Vgl. über diesen Begriff oben S. 172.
12
178
dis
d
eis
1.
Der Mor - gen kam; es scheuch-ten sei - ne Trit-te
dis —
ci* — - — 1
den lei -
m
— \-
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Schlaf,
~ _ Ts
lind um - fing,
3. .._
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Dal's ich,
erwacht, aus mei-ner
stil-len
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Hiit-te
dia — K
eis-
ten Berg
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hi-nauf mit fri-scher See
1
ging;
5.
dt*
# — »-
ci*- v
Ich freu - te
mich
bei ei-nem
je
deu Schrit-te
dt d ; ' ^ /
ci«
6. _
der neu - en Bin - me die voll Tropfen
hing;
7. _
dis « T f — ß-
CI* — - ■■
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'• - A
Der jun - ge Tag er - hob sich mit Ent - zük-ken,
8.
dis f-f- «
d 0 ■ ,
eis / :
und al - les war er - quiekt mich tu er - - quik-ken.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
179
9.
dis-
d-
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-0 — i- —
Und wie ich
stieg,
:1t
zog von dem Flufs
der Wie
10. _
d
eis'
ein Ne - bei
sich
]
in Strei - fen sacht her - vor.
11.
dis
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V
Er wich und wech-sel
mich zu um
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12.
dis
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eis
13.
und wuchs ge- flu -gelt mir
Haupt
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por:
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cüs
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Des schö - nen Blicks sollt' ich nicht mehr ge - nie - fsen,
^..(0 — ; —
dis— 0 m
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die Ge-gend deck-te
mir ein
trti - ber
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15. _ v _
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Bald sah ich mich von Wol - keil
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wie um
gos - sen,
16.
V-
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und mit mir selbst
in Dämm-rung ein
- geschlos-sen.
12*
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180
Franz Saran
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Hier sank er
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hier teilt' er stei - gend sich um Wald und Höhn.
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Wie hofft' ich
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den er ■ sten Grufs zu brin-gen!
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sie hofft' ich
nach der
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Der luft'-ge Kampf warlan-ge nicht voll-en - det,
24.
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um-gab mich und ich stand ge - Wen - det.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
181
25.
4.
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die Au
gen
Bald machte
mich,
auf - - zu-schla-gen,
2G.
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ein inn - rer Trieb des Her - zens wie -der
kühn,
27.
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Ich könnt* es nur
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mit 8chnel-len Blik-ken
wa - gen,
28. _
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denn al - les schien
zu bren - nen
und zu
glühn.
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Da schwebte
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mit den
ein gött-lich Weib
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3
Wol - ken
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vor mei-nen
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ge - tra-gen
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Au - gen
hin,
31.
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Kein schö - ner
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sah ich in mei-nem Le-ben,
32.
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sie sah mich
und blieb ver - wei - lend sebwe-ben.
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182
Franz Saran
33.
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Kennst du mich nicht ?
5.
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37.
Du kennst mich wohl,
an die,
zu ew'-gem Bun-de,
/-
38.
dein stre-bend
39.
Herz
sich fest
— s
und fes
ter
schlofs.
V:
Sah ich dich
nicht
mit heil' - sen
Her-zens - thrä-nen
40.
f:
c
düs
T .
•
als Kna - be schon nach mir dich ei-frig seh-nen?
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
18:»,
6.
41.
V
diu
cm — 0-
±A
0^
Ja!
rief ich
aus,
in -dem ich
m
se - lig nie-der
42.
dis-
zur Er
de
> —
sank, laug' hab' ich dich ge - fühlt;
43.
ci« — - — i —
*
Du gabst mir Ruh, wenn durch die jnn-gen Glie - der
44. _
dis : *
d \\ •
<
die Lei - den - schaft sich rast -los
durch - ge- wühlt;
45. _ jl
■V* l *
_(;) ,
Du hast mir wie mit
himm - Ii - schein Ge - fie
46.
der
dis
eis
am hei - Isen Tag
die Stir - ne
sanft
ge- kühlt;
47. _
dis — 0 • ß-
d
ein
1^
JL _ *
Up
Du schenk -test mü-
der Er - de bes - te Ga - ben,
4a ._
dis
- -ß ^-0
✓ 7—
— P=f=3
et*
und je - des
Glück will ich durch dich nur
ha - beu !
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184
49.
dis
7.
Dich nenn' ich nicht. Zwar hör' ich dich von vie - len
50.
dt*
d
eis-
gar oft ge - nannt, und je - der heilst dich sein,
51.
dis
a ß~ ß-
- • ß f ri
— p—
*
Ein je
des
52.
An - ge glaubt auf dich zu sie - len,
dis
d
eis
t
0
ß^ß
fast je - dem Au - ge wird dein Strahl zur Pein.
Ach, da ich
Ge - spie - len,
54.
dis- 0—0
d — ßS — V-
exs /
da ich dich
*
<^ß~
ken-ne,
bin ich
fast al -
lein;
55.
dis
d
eis
—
Ich mufs mein Glück nur mit mir
selbst
ge-nie-l'sen,
56.
dis
d-^ß~
cis v
dein hol - des
I- /
Liebt
— i/ -
ver - decken
und ver - schlie-lsen.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
8.
185
57. ±
dia —
Sie lä-chel - - te,
sie sprach: du siehst, wie klug,
58.
- J"* 0
5
wie nö - thig war's, euch we - nig
59.
zu ent - hiil-len!
— — — #—
— ! ^ i-
Kaum bist du
si - eher vor dem gröb - sten Trug,
60.
f
e
dis
-0 — 0-
kaum bist du
vom er - sten Kin-der - wil - len,
61.
f=
di$^&
—
So glaubst du
62.
dich schon Ü - ber
ge - nug,
r.
- ' ' -
ver - säumst
die Pflicht des Man-nes
in er
ful-len!
63.
f
e
di»
_.|s — . — .~k 1
■ —
-f —
-J=fL^z_:* * *
Wie viel bist
64.
f
t-
dis-
IT
du
an - dern
un-ter - schie-den?
_ 7\
er-ken-ne dich, leb' mit der
Welt
?
Frie - den!
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18G
Franz Saran
9.
Ver-zeih mir, rief ich aus, ich meint' es gut;
— X
" -1
— —
• *
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0 *
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soll ich um - ■
sonst
die Äu-gen
of - fen
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a-ben?
Ein fro-her Wil - le lebt in mei-nem Blut,
— ■ — t — - — \ — i
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i w -.
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4—i —
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ich ken-ne
ganz
den Werth
von dei-nen
Ga-ben!
69. _ JL.Ö- - -i- _ t;
^=^^7— — — ^—7- v — ;
di* =2 L Iz r ? * «g_2 ^=3L_J_^
Für an - dre wüchs't in mir das e - die Gut,
70. t _ '•_(;) _ _ " 'j_ ' . 7\
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i — J -
-#—
— y
0
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V
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✓ —
— — . — - —
ich kann und will das Pfund nicht mehr ver-gra-ben!
71.
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• (;)
N-
m
Wa - rum sucht' ich den Weg
so sehn-suchts - voll,
72.
-•-0)
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jt* t V—
wenn ich ihn
nicht
den Brü - dem
zei - gen
soll?
Digitized by Google
Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
187
10.
Und wie ich sprach, sah mich das ho - he We - sen
74. _ _ ~ — X
dis-
d~
eis
mit ei-nem Blick mit-leid'-ger Nach -sieht an;
75.
diu —
d'—
eis * — — \/~ / *^ /
Ich konn-te mich in ih-rem Au - ge le - sen,
76.
dia-
d
eis
was ich ver - fehlt
und was ich
recht
ge - tlian.
77. _ j_
• ?
- - 9
Sie lach - el -
da war ich schon gc - ne - sen,
78.
dis
cw —
Zu neu - en
Freuden
stieg mein Geist
ß
he - ran;
' ' J
79.
dis-
d
eis-
r+- -0-
m
Ich konn-te
mit in - - ni - - gern Ver - - - trau - en
80.
dis
d~~T
eis — ✓
_'_ _ 7\
mich zu ihr
L-_
nahn
✓
-y— — i-
ih - re
Nä - he
schau - en.
188
Franz Saran
81.
dis
d
eis
Da reck-te
11.
sie die
Hand aus in die
Strei - fen
82.
dis
d
der leich - ten
3Y
Wul •
-.1=3:
und des Dufts
83.
_ i
CM
— v
#i
V-
Wie sie ihn
fafs-te,
lieft
sich er - - grei - fen,
84.
dt«
d
eis
er liefs sich
ziehn,
es war kein
Ne-bel
85.
dis-
d
cis-
s
Au - ge könnt' im
Tha-le
— s—
wie -der Schwei -fen,
86. _ _
<iw — .-£—0-
eis
* 0
gen Him-mel blickt' ich,
er war
hell
und hehr.
87.
dis
eis
Nur sah ich
den rein - sten Schlei-er hal - ten,
er flofs um
sie
und schwoll in
tau - send Fal - ten.
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Melodik and Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
12.
189
89.
Ich ken - ne dich, ich ken-ne
dei
90.
- i
Schwä-chen,
dus — ✓ .
ich weifs was Gu - tes
in dir
lebt
und glimmt!
91. __ _*
dis— ~-ß- .
— So sag-te
92. _
sie, ich hör' sie
wig spre-chen, —
— >
/■
d i*
em - pfan - ge
hier
ich dir
lau»;"
be- stimmt,
93.
f—
e
dis-
Dem Glück-Ii - chen kann es au
94. ' ^ r :
nichts ge - bre - chen,
e-
dis
*
der diel's
Ge- schenk mit stil - 1er See - le nimmt:
95.
Aus Mor - gen - duft ge - webt und Son - nen - klar - heit,
!Mi.
rftt==
' ! '• Ä
der Dich-tung Schlei -er aus der Hand der Wahr- heit.
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190
Fran« Sarau
97.
13.
dir
und dei-
len Freun - den schwtt - le
98.
am Mit -tag
wird,
so wirf ihn
in die
Luft!
99.
_ i
— a
:: - :
JLJL
So - gleich um - säu - seit A - bend - win - de» - ktih - le,
100.
(0 ^
nm - haucht euch Blum - en - - Wttra - - ge - ruch und Duft.
101.
f ^
0)
I , — . .. ,-- _ ^
Es schweigt das We-hen ban-ger
-0-
Erd - - ge-füh - le,
102.
f —
X. _»
zum Wol - ken - - bet - te
wan-delt
sich die
Gruft,
103.
f-
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JL _ X
Le-bens - wel - le,
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0
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-v-
Be - sauf - ti - get wird je -
0
de
104.
_j_ »
der Tag wird lieb - lieh und die Nacht wird hei - le.
uiyiiizeo
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Melodik und Rhythmik der ' Zueignung ' Goethes.
14.
191
105.
dis
CM- /
— /
So kommt denn, Freun - de, wenn auf ou - ren We - gen
106. _,
dis- V—
CM-
I
3
des Le-bens
Kur
schwer und schwe - rer drückt,
107.
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f.
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Wenn eu
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Bahn
ein frisch - er -neu - ter
Se
gen
loa
dis —
3=$
eis
mit Bin
ziert,
mit gol - dnen Früchten schmückt,
109.
dis
CM— ^
Wir gehn ver-eint dem näch-sten Tag ent - ge - gen!
110.
dis
CM
III.
et*
5
so le • ben
wir,
so wan - dein wir
be - glückt
Und dann auch
soll,
-kel
um uns
112. _ . _ _JL_
eis
w r —
trau - ern,
0
-tr-
ih - rer Lust noch un - sre
Lie-be
1
dau - ern.
192
Frans Sarau
Die Melodie.
§ 3. Bemerkungen zur Melodie der Zueignung.
Eine Versmelodik im vollen Sinne des Wortes aufzubauen,
ist noch nicht möglich. Dazu bedarf es eines reichen Materiales
von Aufzeichnungen einzelner Gedichtsmelodien. Der Forscher
wird bei dieser Arbeit mechanischer Hilfsmittel zur mathe-
matisch genauen Bestimmung der Intervalle dauernd nicht ent-
raten können. Denn fehlt auch dem Vers eine Melodie, die auf
eine Tonika bezw. Skala irgend welcher Art bezogen und an
ihr gemessen werden könnte, so sind die Intervalle als solche
wohl nicht gleichgilt ig. Ebenso wenig wie für den Rhythmus
die Verwantschaft der Fufsproportion mit V — 1:1,2:1 oder
3:2, obwohl dem Versrhythmus doch auch die Beziehung auf
eine Masszeit irgend welcher Art abgeht. Sollte es für die
Versmelodie nicht Ähnliches geben, wie die verschiedene Wirkung
der Dominant- und Tonikaschlüsse in der Musik? Derartige
Fragen lassen sich aber nur beantworten, wenn man die Ton-
schritte der Versmelodie absolut genau kennt und nicht blofs
angenäherte, wie ich sie allein bieten kann, zur Verfügung hat
Hier mögen einige erläuternde Bemerkungen zu der vorstehenden
Notation Platz finden.
Die Melodie der Zueignung liegt für meine Stimme ziemlich
hoch, wie überhaupt alle Gedichte Goethes. Dies ist offenbar
einmal dadurch bedingt, dafs Goethe, dessen Frankfurter In-
tonation die norddeutsche ») war, in Hochlage dichtete. Es kommt
aber hinzu die Stimmung des Gedichtes. Bei meinem ersten
Versuch, die absoluten Töne des Gedichtes zu bestimmen, notierte
ich mit einem //-Schlüssel, also im Durchschnitt einen Ganzton
tiefer. Diese Differenz ist nicht unbedeutend, weil es sich beim
Sprachmelos, grol'se Erregung ausgenommen, meist nur um kleine
Intervalle handelt. Aber ich hatte mich zuerst im Ethos ver-
griffen und las mehr mit logischem als Stiinmungsaccent. Offen-
bar war die Stimmung durch die Selbstbeobachtung zerstört
worden und hatte sich ein Lehrton untergeschoben.
Diese erste Intonation erwies sich auch sonst bei fort-
schreitender Beobachtung als widerspruchsvoll und falsch. Ich
kam unwillkürlich in eine andere, der jetzigen mehr ähnliche
») Sievern, Sprachmelod. S. 24.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethe«.
193
Weise hinein, die sich mehr und mehr als die stilgemäfse offen-
barte.
Zur Kontrolle liefs ich meinen Kollegen Bremer (aus
Stralsund) lesen, dessen natürliche Sprechweise zudem ungleich
melischer ist als die meinige. Es ergab sich ohne weiteres die
Tonführung, welche oben verzeichnet ist. Ich mufste sie nach
verschiedenen Proben als die richtige anerkennen. Bei ihr ver-
schwanden eine ganze Zahl von Besonderheiten mancher Verse:
die Melodie des Gedichtes wurde auf einmal sehr einheitlich.
Dasselbe Ergebnis hatten häufige Leseproben mit meiner
Frau (aus Stettin), die ebenfalls ungleich melischer spricht als
ich selbst.
Beweisend für die Richtigkeit der oben mitgeteilten No-
tation war mir vor allen Dingen die Vortragsweise meines
Kollegen Sommerlad. Derselbe ist Frankfurter und hat, wie ich
beim Nachlesen meines vor dem Versuch fertig gemachten Noten-
textes völlig sicher feststellte, die Zueignung fast bis ins Einzelne
der Tonführung hinein so gelesen, wie ich selbst. Einige Stellen,
die in meinem Text von der sonst durchgehenden Melodiekurve
abweichen, zeigten bei ihm dieselbe Intonation. Ein Beweis
dafür, dafs der Accent der Stellen dazu Anlafs bietet. Auch ist
mir nicht aufgefallen, dafs seine Intervalle hinsichtlich der
Gröfse von den meinigen verschieden gewesen wären.
Diese neue, stimmungsvollere Intonation liegt, wie gesagt,
etwa einen Ganzton höher als die erste, mehr logische. Offen-
bar hat die Stimmung die Töne höher getrieben, d. h. die
für stimmungsvolles Aushalten der Stimmtöne nötige gröfsere
Spannung der Stimmbänder bedingte eine Verschiebung.
Die allgemeine Tonlage erleidet im Gedicht selbst noch
Verschiebungen. Die Wahrheit spricht höher als der Dichter
(dis- Schlüssel): sie wird als Weib offenbar durch höheres Register
charakterisiert (Str. 5, 8, 12, 13).
Aber auch die Intonation des Dichters ist in Str. 9 so hoch
hinauf gestiegen, dafs ich in dieser Strophe ebenfalls den dis-
Schlüssel anwenden mufste. Grund ist, dafs an dieser Stelle die
Erregung des Dichters auf den Gipfel gelangt. Auch Strophe 10
liegt noch verhältnismäfsig hoch: sie macht den Übergang zur
Beruhigung.
Eine Höhenveränderung geringerer Art findet sich in
Strophe 14: die ruhigere Aufforderung V. 105/6 setzt tief ein.
13
194
Franz Saran
Je dringlicher und begeisterter der Dichter redet, um so höher
steigt die Kurve, um so grüTser werden die Intervalle.
Die melodische Bewegung der Hebungen folgt dem
Schema • . • . • d. h. sie setzt fallend ein und schliefst steigend,
und zwar in jedem Vers. Ob Vorderreihe oder Hinterreihe, macht
keinen Unterschied. Man bemerkt die Verwantschaft dieser
Melodieform mit dem Märchenton, dem Ton der stimmungsvollen
Erzählung. In der Tat erzählt ja auch der Dichter ein Märchen,
eine wunderbare Vision, die er gehabt hat.
Meine erste Notierung (logischer Ton) hatte dagegen,
wenigstens im Anfang, so lange das Gefühl für die Stimmung
des Gedichtes noch nicht rein entwickelt war, die Form
in den Vorderreihen, in den Hinterreihen also der Auf-
stieg und Abfall der Aussage.
Einige Ausnahmen von der normalen Bewegung giebt es.
V. 33, 35, 36 und 39 ist der Frageton an dem Steigintervall
schuld. V. 37 könnte man auch Fallschritt ansetzen: mir kam
die notierte Melodie zunächst über die Lippen. V. 53 und 59
klingen mir so, wie ich notiere, am natürlichsten. Auch Sommerlad
las wiederholt so und erklärte, er halte es nach seinem Gefühl
für das Richtige. Bei V. 59 habe ich aber hin und wieder mit
Fallschritt gelesen. Möglich ist es auch.
Am Ende der Reihe fällt der Ton V. 40, wohl um den
Schlufs der Rede der Wahrheit zu bezeichnen. Vgl. V. 48.
Frühere und gegenwärtige Notierung unterscheiden sich
ferner in der Gröfse der Intervalle. Beim ersten Versuch waren
diese sehr klein; sehr häufig schritt die Melodie in Neuntel-
bezw. Zehnteltönen vorwärts. Jetzt zeigt sich lebhaftere Be-
wegung.
Auch die mehrtönigen Silben vermehrten sich bei der neuen
Vortragsweise. Es sind Silben, die nicht auf einem Stimmton
ruhen, sondern deren mehrere durchlaufen. Es kommen haupt-
sächlich in Betracht der oder die Stimmtöne des Sonanten. Aber
oft wirken noch Stimmtöne der Konsonanz mit Deutlich aller-
dings nur die der Konsonanz hinter den Sonanten, z. B. in
Wo-l-(ken), Be-r-{g) u. s. w., und zwar der Vokale, Liquidae,
Nasale. Deshalb bezeichne ich auch blofs die Töne auf Sonant
und folgendem Konsonant. Die Stimmtöne von Konsonanten,
welche vor den Sonanten stehen, bezeichne ich nicht Sie sind
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
195
zu kurz und undeutlich, z. ß. in W-(olkcn). Selbstverständlich
wirken aber auch sie an ihrem Teile bei der Herstellung der
Versmelodie mit. Ich gebe alle mehrtönigen Silben an, welche
ich sicher erkannt habe. Eine scharfe Grenze zwischen mehr-
und eintönigen Silben läfst sich kaum ziehen. Meine Notation
ist in diesem Punkte nur relativ.
Was das melodische Verhältnis der Senkungen zu
den Hebungen betrifft, so bemerke ich: alle Reihen beginnen
mit Steigschritt von der ersten Senkung zur ersten Hebung und
schliefsen von der letzten Hebung zur nachfolgenden Senkung
fallend oder eben. Einige Ausnahmen giebt es.
V. 36 ist der Frageton schuld. V. 53 und 59 liegt der
Grund in den Worten selbst.
V. 40 schliefst der Vers steigend der Frage wegen. Eben-
so V. 66.
Ferner gilt im Versinnern die Regel: je enger sich eine
Senkung mit einer Hebung verbindet, um so näher steht sie ihr
in der Tonhöhe; merklicher Tonschritt trennt, kleiner verbindet
Senkung und Hebung. Pausen, überhaupt tiefere Einschnitte,
können natürlich der verbindenden Wirkung der Melodie ent-
gegen arbeiten. Im besondern ist die Kleinheit der Intervalle
zwischen Hebung und Senkung ein wichtiges Mittel, die pho-
netische Bindung der Silben im Gegensatz zur historisch-etymo-
logischen zu bewirken. Auch die Senkungen sind oft mehrtönig,
doch nicht in so charakteristischer Weise wie die Hebungen.
Ich bezeichne deshalb keine von ihnen als gleitend.
Aus alledem ergiebt sich die Tatsache, dafs das Gedicht
eine Art, fester Melodie hat. Die Tonbewegung ist im all-
gemeinen für alle Verse dieselbe: allerdings die absolute
Gröfse der Intervalle und die absoluten Höhen der einzelnen
Töne sind verschieden. Die Zueignung gehört also zu den
Gedichten mit gebundener Tonführung. ')
Anhangsweise bemerke ich, dafs die Vergleichung meiner
ersten und der jetzigen Notation einigen Stoff bietet, eine
logische (didaktische) Versmelodie gegenüber der einer stimmungs-
vollen (lyrischen) Erzählung zu charakterisieren. Dort die
Hebungskurve . • . • ' | kleine Intervalle, weniger mehr-
tönige Silben und etwas tiefere Tonlage; hier die durchgehende
') Sievers, Spr&chmel. 27.
18*
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196
Franz Saran
Hebungskurve gröfsere Intervalle, viele deutlich mehr-
tönige Silben und höhere Tonlage. Ähnliche Unterschiede wird
auch das Melos der verschiedenen ethischen Accentuierungen
aufweisen.
Der Rhythmus.
§ 4. Die Rhythmusart des Gedichtes.
Das Gedicht hat 'gemischten' Rhythmus. 1 ) Es vereinigen
sich darin orchestischer und sprachlicher. Rein orchestisch kann
der Rhythmus der Zueignung nicht sein T da es sich bei ihr nicht
um einen Text handelt, der wie der Kinderspruch zur Körper-
bewegung gesagt wird. Ebenso wenig rein sprachlich. Denn
das Gedicht ist versmäfsig, metrisch, und nicht rhythmische
Prosa. Melischer Rhythmus kommt natürlich überhaupt nicht
in Frage.
In der Skala der Unterarten des gemischten Rhythmus
steht das Werk auf der Stufe derjenigen, die dem reinen
orchestisehen Rhythmus mit seinen strengen Verhältnissen und
Formen nahe bleiben. 2 ) Das folgt sehon aus dem, was im
Anfang über den Vortrag des Gedichtes im allgemeinen und
besondern festgestellt worden ist und wird sich im einzelnen
noch bestätigen. Es gilt also von diesem Gedicht Ähnliches wie
das, was ich Jen. Hs. II. S. 110 ff. über die Lieder lehrhaften
Stiles in der Jenaer Handschrift gesagt habe. Nur mufs man
dabei bedenken, dafs sich reine Sprechpoesie immer verhältnis-
mässig weiter vom orchestisehen Rhythmus zu entfernen liebt
als das Lied.
Der Rhythmus eines Gedichtes, d. h. dessen Gliederung, hat
vier Bestandteile: eine ganz bestimmte Beschaffenheit und Ab-
stufung der Silben hinsichtlich ihrer Schwere (Jen. Hs. II, S. 101
und 108 f.) und ihrer Dauer; eine ganz bestimmte Zusammen-
fassung der Silben und Silbengruppen, eine ganz bestimmte
Beziehung der Silben und Silbengruppen nach dem Grundsatz
der Wiederholung und Entsprechung.
Nach diesen vier Merkmalen des Begriffes ist auch die vor-
stehende Schematisierung vorgenommen. Sie drückt die rhyth-
mische Gliederung des Gedichtes aus, indem durch Accente
•) Vgl. über diesen Begriff die Erörterungen meiner Rhythmik § 8.
«) Vgl. Jen. Hb. H, S. 107.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
197
und Punkte die Schwere, durch Quantitätszeichen die Dauer, durch
Zwischenräume, Klammern, Interpunktion und Bezifferung die Art
der Zusammenfassung und zugleich der Entsprechung angedeutet
wird. 1 ) Diese Art der Schematisierung unterscheidet sich also
von allen früheren dadurch, dafs sie zum ersten Male sämtliche
Merkmale des Rhythmus gleichzeitig berücksichtigt und die
Gliederung durchweg bis ins Einzelne hinein verfolgt.
Es ist nun die Aufgabe, die Ergebnisse der oben mit-
geteilten Übertragung zusammen zu stellen.
Ich mufs mich dabei der von mir aufgestellten Termino-
logie bedienen, die ich zuerst in der Rhythmik der Jenaer Hand-
schrift vorgelegt habe. Sie ist der Niederschlag langjähriger
Forschung und Überlegung; ich habe sie, ehe ich sie mitteilte,
lange und oft erprobt und als zweckmäfsig befunden. Man möge
sie deshalb ihrer Neuheit und Reichhaltigkeit wegen nicht ohne
weiteres bei Seite schieben. Der Ehrgeiz neue Termini einzu-
führen, liegt mir sehr fern. Ich bin im Gegenteil nur allmählich,
durch vertiefte systematische und historische Forschung ge-
zwungen, von der üblichen metrischen Nomenklatur abgekommen.
Denn diese Nomenklatur ist so gut wie in allen Punkten schief,
in den meisten falsch. Sie wird von unsern Metrikern ganz
willkürlich verwendet, ohne dafs sie sich um ihren eigentlichen
Sinn, ihre wahre Bedeutung im geringsten bekümmerten. Ich
meine aber, wenn man alte Termini verwendet, mufs man sich
vor allem klar machen, was sie denn eigentlich besagen und
nicht das hineinlegen, was man sich selbst darunter denkt oder
derjenige, dessen Autorität man gerade folgt. Ich vermeide in
dieser Darstellung die Ausdrücke Thesis, Arsis, Dipodie, Cäsur,
Takt etc. absichtlich, weil ich ihren eigentlichen Sinn erkannt
zu haben glaube, weil ich weifs, dafs sie mit dem, was der
Metriker heutzutage darunter versteht, sehr wenig zu tun haben,
und weil ich es für verderblich halte, diese ursprünglich klaren,
jetzt aber ganz schillernden und verbrauchten Ausdrücke weiter
zu schleppen. Sie dienen heute nicht mehr zur Aufhellung,
sondern zur Verdunkelung der Tatsachen.
Die folgende systematische Darstellung hat überall die
Rhythmik der Jenaer Handschrift und mein Buch über den
') Die Ziffern der Gruppen höherer Ordnung hahe ich nur im Metrum
S. 177 hinzugefügt. Sie verstehen sich daraus in der Analyse von seihst.
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108
Franz Saran
Rhythmus des französischen Verses zur Voraussetzung. Letzteres
ist im Manuskript abgeschlossen und im Druck. Es wird, sehr
bald erscheinen. In der Rhythmik und diesem Buche findet man
die allgemeinen Erörterungen, auf die hier vielfach nur hin-
gewiesen wird. Es wäre überflüssig, sie bei dieser Gelegenheit
noch einmal ausführlich zu geben. Ich verweise namentlich auf
die Untersuchung der Begriffe Thesis, Arsis, Takt, accentuierend,
quantitierend, alternierend, monopodisch, dipodisch, welche sich
in dem letztgenannten Buche finden.
# 5. Das rhythmische Element.
Das Element der ganzen Dichtung ist natürlich die Silbe
und zwar nicht die grammatische, sondern die Silbe, insofern sie
ganz bestimmte rhythmische Eigenschaften hat, also die rhyth-
mische Silbe.
Die Reihe der rhythmischen Silben unseres Gedichtes zerlegt,
sich nun ohne weiteres in 2 Schichten: die der schlechthin schweren
(Hebungen) und schlechthin leichten (Senkungen). Das sog.
accentuierende Princip des deutschen Verses, welches seit Opitz
ja wieder in der deutschen Verskunst allein mafsgebend ist,
lehrt diese Scheidung ohne weiteres vollziehen.
Die Silben jeder der beiden Schichten sind auch unter ein-
ander verschieden.
1. An Gewicht. Es finden sich relativ leichte Hebungen,
z. B. (wechselte V. 11, (lächetyte 57 und dann mit zunehmender
Schwere: sei-(ne) 1, ich 3, ei-(nem) 5, mich 15; die 6, war 8,
von 9, wie 15; (hin)-auf 4, mehr 13, schien 17; (einge-)schlos-(scn)
16, (durc}i£ii-)drin-(gcn) 17, stand 24; scheuch-(ten) 1, je-(dcn)
5, lci-(sen) Schlaf (ge-)lind (um-)fing 2; {Ent)zük-{ken) 7, Ne~(beT)
10, gött-(lich) Weib 30. Die wichtigsten Unterschiede werden
durch die Zeichen •_ 1 - L ' angedeutet. Ebenso verschieden
ist die Schwere der Senkungen. Man findet die Skala: (sei-)nc
(Trit-)tc, (Mor-)gcn (scheuch-)ten 1; ge-(lind) 2. er-(wacht) 3;
sich 7, icJt 5, Entzücken) 7, hin-(auß 4; mir {Dämmerung 16,
(Klar-)heit 18; voll 6. bald 15. Die schwersten Senkungen sind
immer die, welche durch sog. 'schwebende Betonung'') aus
grammatisch -accentuellen Hebungen hervorgehen. Also z. B.
») Vgl. unten § 16.
Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
199
zog 9, Kennst spracfi 33, Sah 39, Ja! 41, lang' 42, Ach 53,
leb' 64, suchf 71, »m7- 74. Umgekehrt sind auch die Hebungen
immer besonders leicht, die durch denselben Vorgang aus
accentuellen Senkungen entstehen. Vgl. Rh. d. frz. V. § 14. Die
Senkungsschwere konnte in unserem Falle nicht mit symbolisiert
werden. Sie geht im wesentlichen mit der Senkungsdauer parallel.
Man pflegt die Schwereunterschiede der Senkungen nicht
durchweg zu berücksichtigen, höchstens besonders gewichtige
Silben (' Nebentöne ' etc.) zu beachten. Das ist jedoch unrichtig.
Die Mannigfaltigkeit der Senkungsgewichte trägt in gleicher
Weise wie die der Hebungsschwere zum Rhythmus bei.
2. In der Dauer. Gewöhnlich läfst man im germanischen
und deutschen Sprechvers diesen Bestandteil des poetischen
Rhythmus ganz aufser Betracht, weil man glaubt, in 'accen-
tuierenden' Versen spiele die Quantität keine Rolle. Dafs dies
nur ein Misverständnis der bekannten Ausdrücke ' accentuierend '
und 4 quantitierend ' sei, habe ich anderswo gezeigt. 1 ) Die Dauer,
als wesentlicher Bestandteil des Rhythmus, mufs in allen Fällen
ebenso beobachtet werden wie die Schwere.
In unserem Gedicht scheiden sich die rhythmischen Quanti-
täten im allgemeinen so, dafs die Hebungen etwas länger sind
als die Senkungen. Jedoch ist das Verhältnis einer Silbe zur
benachbarten nicht derart, dafs es sich nach der iambischen
oder trochäischen Formel 1:2 (._,_) bezw. 2:1 (_^) richtete.
Vielmehr hält es sich in der Mitte zwischen dieser und der
spondeischen (_ _ 1:1) Proportion. Hebung verhält sich zu
Senkung etwa wie ltyi : 1 — 8 : 2.
Selbstverständlich soll die Formel 3 : 2 nur den all-
gemeinen Eindruck festlegen. Denn diese Proportion wird
nicht selten stark verschoben (V. 6 die voll = 2:3; 16 mit mir
= 1:1), und aufserdem kann sie in der Stilart des Gedichtes
gar nicht mathematisch genau eingehalten werden. 2 ) Es Ist ja
gerade das Wesen aller, selbst der rhythmisch am meisten ge-
bundenen, reinen Sprechpoesie, dafs ihre Silbenzeiten auf keine
Mafszeit bezogen werden können, dafs in ihr jeder XQ<> V0 $
jrpwrow, mensura oder Taktzeit fehlt. 3 ) Man darf nur behaupten,
») Rh. d. frz. Vers. § 15.
») Vgl. Rh. § 27.
') Frz. Vers. § 15. Sieyers, Metr. St. S. 43. Rh. § 8, S. 107.
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200
Franz Saran
dafs die Zeitverhältnisse jenen mathematischen bis zu einer
gewissen Grenze, die zu überschreiten vom Übel ist, angenähert
werden, damit das Ebenmäfsige und Schwebende, das Ruhige
und doch innerlich Bewegte des Gedichtes zum Ausdruck komme.
Man vergleiche Goethes Gedicht 'Der Musensohn' W. A. I, S. 23:
es ist wesentlich spondeisch, dazu geht es in viel schnellerem
Tempo.
Man beachte wohl, dafs es sich hier, wo von 'Silbendauer'
gesprochen wird, durchaus nicht um die grammatische
Quantität der Silben handelt, sondern wie in aller Metrik,
allein um die rhythmische,') d. h. um diejenige, welche
eine Sprachsilbe als Element einer Rhythmopöie und an einer
bestimmten Stelle derselben hat.
Ich unterscheide, um den Eindruck des Gedichtes besser
beschreiben zu können, 3 Arten von rhythmischen Längen,
die ich nach Analogie der grammatischen benenne: Länge, Über-
länge, Halblänge. Mit der Syllaba anceps der Antike hat die
Letztere aber nichts zu tun. ebenso wenig wie die andern Be-
griffe mit _, - oder _ der Alten. Denn diese antiken Werte
gelten nur in Beziehung auf einen *(>oroc xodrcog.
Von diesen 'schlichten' Längen sind die zu unterscheiden,
welche durch Zusammenziehung 2 ) der Zeit einer Hebung und
folgenden Senkung entstehen; Symbol sei L, wobei man nicht
an 4 *(>oro<, sondern lediglich an eine Dauer = Hebung
+ Senkung denke. Ev. auch solche, welche der nächsten
Senkung nur einen Teil ihres Wertes nehmen, d. h. 'punktierte' 2 )
Längen (- vgl. J.).
Beispiele für Hebungslängen. Überlänge: kam 1, Schlaf 2,
stieg 9; sie steht oft vor scharfer 'Cäsur'. (ge-)flä-(gelt) 12,
Klar-{heit) 18, sehnsuchtsvoll) 71. Oft findet sie sich auf der
vorletzten Silbe weiblicher Verse: seh-(nen) 40, vic-{lcn) 49.
Länge: sclwu-{chten) 1, ich 3, fri-(schei') 4, je-(den) 5, (er-)
hob 7, wech{-selte) 11.
Halblänge: Trit-(tc) 1,3) Uüt-(tc) 3, et-(ncm) 5, mit 7.
' Zusammenziehung ' fast immer an den Schlüssen der 'männ-
lichen ' Verse. Darüber unten § 14.
l ) Vgl. Frz. Vera § 15. Rh. § 23, S. 134.
a ) Vgl. § 14.
») Ich gebe dem t 'schwach geschnittenen Accent' und halte das t ein
wenig ans. I - scheint mir unschön.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 201
'Punktierung' ist nicht selten: -mensch ge- (1J) 61, recht
ge- (L ^) 76, selbst ge- 55, lang' be- 92 u. ö. Vgl. ebda.
Für die Senkungen kommen in dem Gedicht nur die
schlichten Längen in Betracht. Überlänge: mich 8, Kennst 33,
Ja! 41, lang' 42, Ach 53, (sehn-)suchts-(voll) 72. Es sind Fälle
schwebender Betonung oder solche, wo stark nebentonige Silben
in Senkung stehen.
Länge: Dafs 3, voll 6, sollf 13, Bald 15.
Halblänge ist in der Senkung weitaus am häufigsten.
3. In der Fülle. Diese beruht LW. auf dem Zusammen-
wirken von Schwere, Dauer und Artikulation (legato). Eine
Silbe kann ' schwer* und dabei mager, z.B. Trit-(te) 1, Senkung
und dabei relativ voll (Kennst 33) sein. Ebenso kann sie relativ
lang und mager (schon 61) sein.
Besonders voll sind schwere, überlange Hebungen, z. B.
Sclüaf 2, Weib 30. Besonders mager leichte und kurze Senkungen
wie (sei-)ne, (scheuchten 1. Zwischen beiden Extremen liegt
eine ganze Skala von Unterschieden.
§ 6. Das Glied.
Glieder sind diejenigen Stücke einer Rhythmopöie, die sich
bei der Zergliederung als rhythmische Teile erster Ordnung
ergeben. Sie enthalten mindestens und andererseits nie mehr
als eine Hebung. Sie sind je nach der Zahl der hinzutretenden
Senkungen einsilbig oder mehrsilbig. Dafs man sie lediglich
nach dem Ohr und nicht nach den etymologischen Wortgrenzen
ansetzen müsse, hat Sievers nachgewiesen. >) Vgl. Rh. § 20.
1. Die Glieder unterscheiden sich in ihrer Form. Folgende
Gliedformen giebt es in unserm Gedicht:
a) die einzelne gehobene Silbe L
b) das steigende Glied -L
c) das fallende Glied JL_
d) das steigend -fallende Glied
Beispiele brauche ich nicht anzuführen. L bildet überwiegend
das zweite Versglied (vor dem Verseinschnitt). Es findet sich
oft auch in den Bünden der Form 3 + 1 + 3 oder 2 + 1 + 2.
») Phon. § 623 ff. Metr. Stud. § 33 ff.
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2u2
Franr Saran
2. Durch die Schwere ihrer Hebungen. Nr. a) findet sich
als (lüchel-)te 57, 1 dich 64, 1 nicht 23, L kam 1, ' nicht 49.
Nr. b) entsprechend als an die 37, _1 sprach sie 33,
du siehst 57, _ ' sie sjn-ach 57. Nr. c) _ deine 89, - _ unter
63, JL_ um uns 111, L_ eifrig 40, ^_ Balsam 36. Nr. d)
mi* einem 33, wenn eure 107, _ 1 wur mit* mir 55, _1 _
au/" einmal 17, rfie Sonne 17.
3. Durch ihre Gesamt dauer. Denn sie sind verschieden
lang, je nachdem sie aus Längen, Halblängen, Überlängen oder
verschiedenen Mischungen daraus bestehen.
Nr. a) - {lächel)te 57, — wir 110, ganz 68, wohl 37.
Nr. b) sie sprach 57, sprach sie 33, nicht mehr
70, verein* 109, ein /"mc/i- 107. Nr. c) -- *w enf- 58,
deine 89, die voll 6, /lei/itf dien 50, - manche 35,
— Klarheit 18. Nr. d) mit einem 33, du
kennst mich 37, - - für andre 69, so sehnsuchts- 71.
Besondere Wirkungen macht die Punktierung einer Hebung
nebst entsprechender Verkürzung der nächsten Senkung. Z. B.
_, ^ (Uber-)mensch ge-(nug) 61, san/*< ge-(kühlt) 46, recM <jre-(fan)
76, /an^ beistimmt) 92, nichts ge-(brechen) 93, seW>s* ge-(niefsen)
55, durchge-(wühlt) 44, dicÄ ge-(fühlt) 42 u. ö. Dieser Eindruck
entsteht besonders, wenn die ganz kurze Partikel <7e- hinter
langer und überlanger Hebung steht.
4. Durch ihre Fülle.
Mager ist z. B. ein Glied wie (lächel)-te 77, voller schon
mich 5, ihr 21 und besonders kam 1, Schlaf 2, sftey 9, Weit 30.
Entsprechend: dafs ich 3, und wmcäs 12, gar oft 50, ein Glans
24; 6ei einen» 5, und wie ich 9, erÄoft sicJi 7, geflügelt 12, in
Dämmrung 16, mitleidger 74; in die 98, deine 89, SeeZe 94,
schauen 80, Nachsicht 74.
5. Durch die Art des Zusammenhangs ihrer Elemente, d. h.
durch Enge und Weite. Vgl. unten § 12.
Alle diese Unterschiede der Glieder dienen natürlich dem
Rhythmus: die Schwere stuft Hebungen gegen einander ab, die
Fülle fördert das Gleichgewicht entsprechender Teile, Weite
sondert die Bünde und markiert die Reihenanfänge u. s. w. Aber
zugleich dienen sie auch dem Ethos der Verse und Versstellen.
Das Kennst du mich (nicht) V. 33 mit seiner leichten Hebung,
schweren und überlangen ersteu Senkung und Gliederweite drückt
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
20.t
den ebenen Accent der freundlichen, verwunderten Frage aus. 1 )
Das zog von dem V. 9 mit seinen nivellierten Gewichtsverhältnissen
malt das Ziehen des Nebels, und so wird man fast durch-
gehends finden, wie der Rhythmus mit dem Ethos aufs engste
zusammenhängt, wie sich Schwere, Dauer, Verbindungsart aus
dem Ethos der betreffenden Stellen erklären.
Von dem Begriff des * Gliedes' ist der des 'Fusses' streng
zu scheiden. Ich habe beide in der Jenaer Handschrift immer
noch nicht genug auseinander gehalten. Wenn man im Verse
von jeder Gruppenbildung absieht und die Silbenreihe lediglich
auf ihren Gewichts- und Quantitätswechsel hin betrachtet, so
stellt sich dieselbe i. A. als ein fortgesetztes Leicht -kürzer,
Schwer-länger, Leicht-kürzer, Schwer-länger, Leicht-kürzer u. s. w.
dar, d. Ii. als eine Periode (im physikalischen Sinne), deren
Element aus Leicht -kürzer + Schwer -länger besteht. Greift
man nun beim Skandieren diese Verbindung Leicht -kürzer -f
Schwer -länger heraus und orientiert sich an ihr über den
Lauf der Periode, so hat man den Fufs. Schematisch aus-
gedrückt:
i t i t
— ■ i — — — — — - • • • • — •
Dies Periodenelement _ ' ist der Fufs in dem Sinne, den das
Wort in der modernen Metrik hat. Bei den Alten fehlte in
dem Begriff der Bestandteil der Schwere. Fufs ist also kein
Teil der Rhy thmopöie, sondern ein — aus praktischen
Gründen ausgesonderter — jener Periode. Er wird nur beim
Skandieren als etwas besonderes herausgehoben. Für den unbe-
fangenen Hörer existiert er überhaupt nicht.
§ 7. Das Bund.
Über den Gliedern, in der nächst höheren, zweiten Ordnung
stehen die Bünde. Es sind diejenigen rhythmischen Gruppen,
welche sich unmittelbar aus Gliedern zusammensetzen oder
welche gleich solchen Gliedern sind, die im rhythmischen
System derartigen Gliederverbindungen entsprechen (Glieder in
der Funktion von Bünden).
Es giebt 2 Arten Bünde: Haupt- und Nebenbünde.
Ihr Unterschied folgt aus ihrem Verhältnis zur Reihe, die in
l ) Wer nach dem grammatischen Accent Kennst du mich nicht? liest,
«erstört das Ethos der SteUe.
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204
Franz Saran
unserem Gedicht zugleich Vers ist. Der eigentliche Grund der
Scheidung liegt in der Formenbildung des orchestischen Rhythmus,
der ja historisch einen wesentlichen Bestandteil der Gliederung
aller Verspoesie ausmacht.
Im orchestischen Rhythmus giebt es 3 Arten von Reihen:
1. den Vierer und Dreier, 2. den Zweier und Einer, 3. den
Sechser und Fünfer. Der Zweier zerfällt lediglich in Glieder,
der Einer ist mit einem solchen identisch. Die Reihen der
Klasse 1 teilen sich im allgemeinen nur in Hauptbünde, nach
dem Schema 2 + 2 oder 2 + 1 bezw. 1+2 Hebungen. Die der
Klasse 3 dagegen gliedern sich normaler Weise in 2 + 4 bezw.
4 + 2 und 2 + 3 bezw. 3 + 2 Hebungen, d. h. in einen langen
und einen kurzen Teil. Der kurze Teil ist wie die Reihen in
Klasse 2 zu behandeln. Der lange dagegen wie die in Klasse 1,
d. h. er hat oder kann haben noch eine besondere Gliederung in
2 + 2 oder 2 + 1 bezw. 1 + 2 Hebungen. Eben diese Unterteile
der langen Stücke sind die Nebenbünde.
Im orchestisch-sprachliehen, also dem gemischten Rhythmus
liegen die Dinge ganz ähnlich. Der Vierer kann hier aufser in
2 + 2 oft auch in 1 + 3 oder 3 + 1 geteilt werden. Dann lassen
sich wohl auch im Vierer, natürlich blofs in seinem langen Teil,
Nebenbünde erkennen.
Da die 'Zueignung' aus Versen besteht, in denen sich
5 Hebungen deutlich ausprägen, kommen für sie sowohl Haupt-
wie Nebenbünde in Betracht.
Im Vierer und Dreier sind die Bünde entweder mehr oder
minder scharf ausgeprägt^ z. B. Sah ein Knab ! ein Röslcin stehn,
als ich noch ein i Knabe icar, da steh icJi nun \ ich armer Tor,
den ich so manche i Mitternacht, an meinem Pult l Jierangewacht,
oder sie fehlen ganz: so hold und schön und rein; wenn, in dem
blauen Kaum verborgen,*) oder sie sind nur so angedeutet, dals
sie den Eindruck der Reihe nicht wesentlich bestimmen.
Die Mittel, diese Blindgliederung herzustellen, sind sehr
mannigfaltig. Abstufung der Schwere und Dauer, melodische
Bindung, scharfe syntaktische Gliederung u. s. w. werden in
verschiedener Weise kombiniert.
Wenn auch nicht selten Vierer und Dreier vorkommen, in
denen man überhaupt keine Bünde unterscheiden kann, so giebt
') Goethe, An die Entfernte, W. A. I, S. 60.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethe«.
205
es doch wohl kein Gedicht, keine Versart, die lediglich solche
' bundlosen ' Reihen nmfafste. Man darf deshalb nur zwei rhyth-
mische Stile des Dreiers und Vierers unterscheiden: 1. einen,
in dem die Bundteilung beabsichtigt und für den Kindruck des
Verses wesentlich ist, in dem sie sich daher dem Ohre aufdrängt
('bundmäfsige' Verse), 2. einen, in dem sie zufällig ist und
gegen die Gliederabfolge zurück tritt, sodafs sie nicht als etwas
Besonderes bemerkt wird ('gliedmäfsige' Verse). Sievers
bezeichnet den Unterschied mit 'dipodisch' und ' monopodisch ',
Ausdrücke, die ich vermeide, weil sie der antiken *oi'c -Lehre
entstammen und eigentlich etwas anderes bedeuten, als hier
gemeint ist
Zur Art der ' bundmäfsigen ' Rhythmen gehören unverkenn-
bar die Reihen von ' Haideröslein ', 'Der neue Amadis', 'Stirbt
der Fuchs', zu der der 'gliedmäfsigen' z. B. nach Sievers' Ansicht
die betrachtenden Teile von Schillers 'Glocke'. 1 )
Beim Fünfer und Sechser liegt es etwas anders. Diese
Verse sind so gut wie immer deutlich in 2 Hauptbünde ge-
gliedert. Z. B. Der Morgen harn; l es scheuchten seine Tritte,
beicundert viel und viel gescholten Helena. Offenbar verträgt
die Länge dieser Verse eine Bildung nicht, bei der die Haupt-
bünde fehlen.
Demnach müfsten diese Reihen immer 'bundmäfsig' heilsen.
Aber der besondere Eindruck, den 'bundmäfsige' Vierer oder
Dreier machen, würde hier mit diesem Worte doch nicht be-
zeichnet. Der lange Teil der Sechser und Fünfer ist gleich
einem Vierer oder Dreier, und dieser lange Teil kann seinerseits
jene eben hervorgehobenen Unterschiede der vier- bezw. drei-
hebigen Verse aufweisen, d.h. 'bundmäfsig' (deutlich in Neben-
bünde zerlegbar) oder 'gliedmäfsig' (mit vorherrschender Glieder-
teilung) gebaut sein. Nun steht auch der kurze Teil jener
langen Reihen, das zweihebige Hauptbund, zwar nicht in seiner
rhythmischen Funktion, wohl aber an Umfang und Bau den
zweigliedrigen Nebenbünden nahe. Ist der lange Teil also bund-
mäfsig, so wird überhaupt der ganze Vers diesen Eindruck
machen. Ist der lange Teil gliedmäfsig, so wird der kurze Teil
dennoch den gliedmäfsigen Eindruck nicht ganz aufheben. Durch
Ausgleichung der Hebungsschwere u. a. kann der Dichter im Gegen-
*) Sieven, Metr. Stud. I, S. 60.
206
Franz Saran
teil die gliedernde Wirkung dieses zweihebigen Bundes etwas
abschwächen und den Gesamteindruck des Gliedmäfsigen fördern.
Demnach rede ich nun schlechthin von ' bundmäfsigen ' oder
'gliedmäfsigen' Fünfern und Sechsern, damit ihren durch den
langen Teil bestimmten Charakter bezeichnend. Die Verse der
Zueignung sind ' bundmäfsig (Sievers: dipodisch). Dagegen sind
die Fünfer der Iphigenie und des Tasso gliedmäfsig. Sie haben
auch eine ganz andere Melodie als die unseres Gedichtes, nämlich
die Hebungskurve
Vergleicht man die zweihebigen Bünde, d. h. die Neben-
bünde und das kürzere Hauptbund, im Verse der Zueignung mit
denen in Weltseele, im Haideröslein und Neuen Amadis, so fällt
ein Unterschied ins Ohr. Diese sind im Verhältnis zu unseren
von schnellerem Tempo und geringerer Fülle, vor allem —
was freilich in die Melodik gehört — weniger melodisch; im
allgemeinen werden sie leichter bemerkt, als die Bünde in
der Zueignung. Sievers hat diesen Unterschied Metr. Stud. I,
S. 60 f. erörtert. Er scheidet beide Arten von Dipodien als
'rhythmische oder leichte* und 'melodische oder schwere'. Die
Ausdrücke passen nicht völlig, weil natürlich beide Arten von
'Dipodien' rhythmisch und melodisch sind, und weil es nicht
sowohl auf die Schwere in dem Sinne, wie ich das Wort brauche,
ankommt, sondern auf das was Fülle (Volumen) genannt
werden mufs.
Die zweihebigen Bünde der Zueignung gehören zur Art
der 'vollen Bünde'.
Nachdem der rhythmische Stil und die rhythmische Funktion
der Bünde des vorliegenden Gedichts ermittelt ist, gilt es jetzt,
die tatsächlich vorhandenen Formen derselben festzustellen und
nach ihren wesentlichen Merkmalen zu beschreiben. Eine genaue
Statistik bildet die Grundlage der Beschreibung.
Dieselbe richtet sicli zunächst auf die Gruppierung der
Silben in den Bünden: durch Ziffern und algebraische Symbole
wird sie ausgedrückt. Dann auf die Abstufung der Hebungs-
schwere. Hierbei sind zweigliedrige und dreigliedrige Bünde zu
trennen.
In zweigliedrigen Bünden giebt es nur drei Möglichkeiten
der Hebungsabstufung: die erste Hebung ist schwerer als die
zweite (. . L . . ! . . «), leichter als die zweite (. . 1.. L . . ß) oder
ebenso schwer wie diese (. . L . . L . ./).
Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 207
In dreigliedrigen Bünden giebt es der Möglichkeiten ungleich
mehr. Folgende Typen kommen hier in Betracht:
. a
. c
. d
. f (Hebungscrescendo) 0
• 9-*)
e . . L . . 1 . . 1 . . kommt im Gedicht nicht vor, ebenso wenig wie
b weil beide Typen die dritte Hebung mit dem
Keime zu sehr herabdrücken würden. Die Bezeichnung der
Schweretypen a—c folgt der von Sievers für den Alliterations-
vers eingeführten. Vgl. auch Jen. Hs. II, S. 141. Kleine
lateinische Buchstaben wähle ich hier, weil es sich um Bünde,
nicht wie dort um Reihen handelt.
Durch diese typische Abstufung der Hebungen in bund-
mäfsigen Versen entsteht der Unterschied von 'Haupt-' und
4 Nebenhebungen '. Für gliedmäfsige Verse fällt er weg. Unter-
arten der Typen a — e ergeben sich je nach dem Gewichts-
verhältnis der Haupthebungen. Ich bezeichne sie durch Ex-
ponenten zu den Buchstaben. Also . . ' . . 1 . .1 . ,a l d. h. erste
Haupthebung schwerer als die zweite; . . — . . .1 a 2 ; . . L . .
_l..JL..a 3 d.h. beide Haupthebungen gleich schwer. Verse, die
wie z. B. die der Zueignung aus einem zweigliedrigen -f einem
dreigliedrigen Bund bestehen, werden charakterisiert wie folgt:
y c* ..L.. _L.. i 1..
a*ß ..1. I u.s. w.
Silbengruppierung und typische Hebungsabstufung sind be-
grifflich zu trennen. Wie mannigfaltige Bundformen durch ihre
Verschlingung entstehen, zeigen die Tabellen.
Die Versschlüsse und _1 stehen sich rhythmisch
gleich, wie unten § 8 gezeigt wird. Ich rechne beide deshalb
als dreisilbig.
') Das Hebungsdecrescendo fällt hier mit d 1 zusammen. Es fragt sich,
ob man es auch im vollständigen Vierer oder Sechser anerkennen darf; als
oder ähnlich. Der Endreim ist diesem Typus an sich nicht
sehr günBtig.
*) Dieser 'ebene Typus' dürfte für den Stil der 'mageren' Bünde nicht
passen. Er hat seinen Platx wohl nur im vollbündigen Versstil. Doch bleibt
dies noch »u
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208 Franz Saran
Statistik der Bundformen.
I. Die eingliedrigen Nebenbünde (Sa. 99 1 )).
Dreisilbige (Sa. 51).
a) im Versinnern:
_1_ 31
1_ 1 7 11 15 22 25 28 56 58 63 66 72 85 89 98 111
-!L- 16 17 21 36 39 44 47 60 62 87.
b) am Versschlufs:
9 19 23 51 53 55 93
24 49 64 96
c) am Versschlufs:
Z 76
_1 2 34 61 82 86 90 92
12 20 52 78 110.
Zweisilbige (Sa. 47).
a) im Versinnern:
_■ 37
_1 33, 71
_1 38 57 68 70 95
1- 105
'-- 29 81 101.
b) am Versschlufs:
1_ 3 32 35 40 41 43 45 48 73 75 79 80 83 91 97 103
104 112
Ii- 27 99 107 109.
c) am Versschlufs:
L 6 14 18 30 59 74 84 102 108
L 50 65 67 100.
Einsilbige (1).
L 8.
II. Die zweigliedrigen Nebenbünde (Sa. 99).
a) 1 + 3 (Sa. 7): a L 16 17 21 25 29 101
_ < w ■ 44.
>) = 112 Verse minus die 13 mit bundlosem langen Teil, nämlich V. 13
27 69 77 (Vorderreihen); 4 10 26 42 46 54 88 94 106 (Hinterreihen). Diese
eingliedrigen Nebenbünde sind «Glieder' in der Funktion yon 'Bünden'.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 209
b) 2 + 1 (Sa. 14): a • 11
ß ■ _. L 12 20 21 52 82 80 90 96
_ L 19
1_ 1 53 05 78, 1_ i: 51
2 + 2 (Sa. 35): u») 1_ 39 47 60 GG 87
_^ 1 72, .1 36
£M) • _ 1 15 31 56 58 105, 1_ 1_ 7 62 89
_1_ 63, ^_ 85 111
• _ L 28, ■ _ i 98
« 1_ 83, 1_ ^_ 102
i_ ■ _ 45 67
1- 100, 1_ '._ 99
0 . _ L- 6 14 18 22 59 104
_1 _Zl 70
_1 57
2 + 3 (Sa. 1): « -L -1- 107
c) 3 + 1 (Sa. 13): « _1_ 49 110, _ 1 61, _ I_ 1
23 95
0 _ . _ i 2 9 64 93, L 76 92
_1_ 1 55
y _1_ 1 34
3 + 2 (Sa. 29): aO! -1- -71 _1_ 138
0i) _ • _ 1_ 33 68
7 0 _1_ 1 37
a - _ 8 79 81, _J._ I_ 50
_1_ 1_ 109
0 '__ 3 5 30 35 40 41 43 73 75 80,
_ ■ _ iL- 48
_1_ L- 97, _1_ 1_ 84, 1_ 32
74, 91 103
_1_ 108
y 1_ 112.
III. Die zweigliedrigen Hauptbünde (Sa. 112). ')
a) 2 + 2 l ) (Sa. 3): ß 81. (' ') £3 26.
2 + 2 (Sa. 6): a (' •) 71. ('• ') 62.
>) Versschlufs.
>) Kursiv = Versschlufs L.
14
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210
ß (• ') 3. 0- ') 109.
7 50 94.
2 + 3 (Sa. 3): « w ('• ') 24 90.
ß„ (' 12.
b) 3 + 1 (Sa. 71): a (*■ ') 15 25 75 91. ( v *) 27 79. (' ') 5 10
35 44 47 57 61 63 77 88 89 92 93 103 110. (' ')
4 36 40 58 64 87 98. (' 17 21 28 85 111. ('■ ')
42 69.
ß (• % ) 39 72. (• ') 33 66 74 76. C ') 9 73 80 84
97 107. (" ') 16 41 55 60. (' '•) 32 37 43 48 49
56 68 70 112.
7 1 2 7 13 23 30 31 34 38 46 108.
3-f2«) (Sa. 4): a ('• ') 95.
ß (• ') 8 11. ("•) 65.
3 + 2 (Sa. 25): « w (' •) 45. (' •) 29. ('■ 102. ('• ') 14
18 105.
ß~ (•') 83. (• '•) 53 54. (* ') 59 99. ("•) 20
51 100.
7 ^ 6 19 52 67 78 82 86 96 101 104 100.
IV. Die dreigliedrigen Hauptbünde (Sa. 112).
a) (1 + 2) + 3 (Sa. 1): a 3 100.
b) (2 + 1) + 3 (Sa. 12): c> 19 51. c* 12 20 24 52 96. 78.
c 3 86* 90. 82. 53.
2 + (1 + 3) (Sa. 2): d 3 29 101.
(2 + 2) + 2 (Sa. 10): a* 83. 102. 07. a 3 45. 99. c< 6'. c 3
14 18 59 104.
2 + (2 + 2) (Sa. 1): a* 105.
2 + 2 + 2 (Sa. 2): f 54.
^ 106'.
2 + (2 + 3) (Sa. 2): a* 57 70.
2 + (3 + 2) (Sa. 6): a' 33. a 3 68 107.
ci 71. c 3 37.
d* 38.
2 + 3 + 2: c 3 69.
') Veraschlufe.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' (Joethes. 211
c) (8 + 1) + 2*) (Sa. 1): a* 95.
(8 + 1) + 3 (Sa. 12): a* 49. 110. 61. 23.
c» 55 76 02. c* 64. c* 2 9 93.
9 34.
3 + (1 + 3) (Sa. 5): d* 25. d» 16 17 21 44.
3 + 1 + 3 (Sa. 5): f 13 42 77.
g 10 40.
(3 + 2) + 2«) (Sa. 1): a*„ 81.
(3 + 2) + 2 (Sa. 22): a* 50. a» 79. 27 109.
c» 48 91. c3 3 30 35 40 41 43 73 75 80.
97. 32 74. 112. 108.
3 + (2 + 2)0 (Sa.1): rt 3 ^ 22.
3 + (2 + 2) (Sa. 21): a* 31. 7 89 .08. a' 1 15 28 50 58. 03
85 111. 62.
d* 72 66. <*3 39 47 60 87. 103.
3 + 2 + 2') (Sa. 1): f 26.
3 + 2 + 2 (Sa. 4): f 5.
g 4 88 04.
(3 + 2) + 1«) (Sa. 1): a> 8.
3 + (2 + 1)0 (Sa. 2): a' (15.
d> 11.
Aus dieser Übersicht ergeben sich folgende Eigenschaften
der Bünde.
Von den 99 eingliedrigen Nebenbünden sind dreisilbig
51, zweisilbig 47, einsilbig nur L Von ihren Hebungen sind 95
schwer, d. h. 1:, L oder v ; 4 leicht, d. h. 1 oder • . Da der
lange Teil der Fünfer 7, seltener 6 Silben enthält, so darf in
der Neigung, die Silbenzahl dieser eingliedrigen Nebenbünde
möglichst grofs und die Hebungen schwer zu machen, ein
Streben gesehen werden, die beiden Nebenbünde des langen
Teiles tunlichst ins Gleichgewicht zu bringen.
Die 99 zweigliedrigen Nebenbünde zeigen folgende
Silbengruppierungen :
») Vorderes Bund.
14*
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212
Franz Saran
2 + 2 35 Mal
3 + 2 29 „
2 + 1 Ii „
3 + 1 13 „
1 + 3 7 „
2 + 3 1 „
Auch liier ist das Streben nach möglichst gleichmäfsiger Ver-
teilung merklich: 3 + 1 und 1 + 3 d. h. die am meisten ungleich-
mäfsigen Formen verhalten sich zu den andern wie 20 : 79.
2 + 2 ist am beliebtesten.
Von den Nebenhebungen dieser Bünde sind 50 leicht, 43
schwer (==•- _'J oder ' ). Die grofse Zahl schwerer Nebenhebungen
erklärt sich daraus, dafs die Zueignung 'volle' zweigliedrige
Bünde hat.
An Gewichtstypen giebt es
a 34
ß 02
7 3
d. h. die steigende Form ß ist stark in der Überzahl.
Die 112 zweigliedrigen Hauptbünde (fast alle am
Versanfang) zeigen:
3 + 1 71 Mal
3 + 2 29 „
2 + 2 9 „
2 + 3 3 „
Das Streben nach rhythmischem Gleichgewicht (möglichst grofser
Entsprechung) streitet hier mit dem absteigenden Charakter der
Gliederfolge (vgl. unten S. 220); relativ ebenmäfsige Formen ver-
halten sich zu den andern daher wie 41 : 71.
Von den Nebenhebungen sind 03 schwer, 49 leicht: d. h.
der Anfang des Verses, der kurze Teil, wird schwer gemacht,
offenbar um dem langen besser die Wage halten zu können.
Bei den zweigliedrigen Nebenbünden verhielten sich schwere
Nebenhebungen zu leichten = 43 : 50!
An Schweretypen finden sich
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Melodik und Rhythmik der 'Zueiguung' Goethes.
213
« 46
ß 42
/ 24.
Die zweigliedrigen Nebenbiinde hatten «34, ß 62, y 3. Man
sieht daraus, insbesondere aus der grofsen Zahl von y bei den
zweigliedrigen Hauptbünden, dafs diese weder entschieden steigen
noch entschieden fallen. Da aufserdem ihre Nebenhebungen, wie
oben festgestellt worden ist, vorwiegend schwer sind, so will sie
der Dichter möglichst eben und schwer bilden, offenbar um das
rhythmische Gleichgewicht der Reihe zu fördern.
Von den 112 dreigliedrigen Hauptbünden, fast alle
am Ende der Verse, sind 13 bundlos; bundmäfsig sind demnach
nur 99.
Formen der Gruppierung:
3 + 4
27
Mal
5 + 2
22
3 + 3
15
»
4 + 3
12
n
4 + 2
11
n
2 + 5
8
••
2 + 4
3
5 + 1
1
Die Formen mit relativem Gleichgewicht sind etwas häufiger
als die andern, --- 53 : 46.
Die Haupthebungen beider Nebenbünde sind mit Ausnahme
von 4 durchweg schwer.
Häufigkeit der Schweretypen:
o 38 Mal
C 44 „
d 14 „
f 6 .
9 7 „
Die Schweretypen sind im einzelnen
nach den Typen
a« 1 Mal
a« 16 „
nach der Häufigkeit geordnet:
c' 27 Mal
« 3 21 „
214
Franz Sarau
nach den Typen
nach der Häufigkeit geordnet:
a* 21 Mal
a 2 16 Mal
d> 12 „
9 7 „
f 6 .
c« 10 „
c 2 7 „
c> 27 „
d> 5 „
<* 3 12 B
• ' 10 n
9 7 „
7 „
<* 2 5 „
f 6 .
ai 1 „
Charakteristisch ist, dafs der rein fallende Typus d l
überhaupt fehlt, der wesentlich fallende a { (--!-) nur einmal
vertreten ist. Bevorzugt werden die Typen, deren Schwerpunkt
in der Mitte des Bundes liegt (c, d' 1 ), oder deren Haupthebungen
gleich schwer sind (a 3 , d-\ g).
In der dritten Ordnung des rhythmischen Systems stehen
die Reihen. Sie sind in der Zueignung durch Reim und Ab-
setzen im Druck äufserlich vollkommen gekennzeichnet.
Der metrische Charakter der Reihe ist alternierend. 2 ) D. h.
die Silben, Glieder. Bünde müssen sich so vereinigen, dafs Hebung
und Senkung im Versinnern streng einsilbig bleiben und regel-
mäfsig mit einander wechseln.
Wie im Metrum des Verses Leicht -Schwer einander stetig
ablösen, so ferner noch die Quantitäten Kürzer -Länger. Ihre
Proportion ist ungefähr 2 : 3. Vgl. oben S. 199. Der Fufs der
Reihe ist demnach _ ' .
Die Verse haben jeder fünf deutlich ausgeprägte Hebungen
und sind teils 'weiblich' teils 'männlich'. Aber mit 5 W und 5
wären sie doch nur unvollkommen beschrieben. Hinter den
meisten weiblichen und allen männlichen Reihen steht Inter-
») Ebenso ja auch e.
*) 'Alteruierender Rhythmus', 'alternierende Verse' sage ich, wie man
auch von •alternierendem Fieber' spricht. Dieser Gebranch des Wortes ist
freilich sekundär, aber kurz und bezeichnend. Einen besseren Ausdruck für
Verse dieser Art habe ich bis jetzt noch nicht gefunden.
§ 8. Die Reihe.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethe«.
215
punktion, hinter den männlichen fast immer sehr starke. Die
Verse sind syntaktisch meist scharf von einander abgegrenzt.
In der Tat mufs man beim Lesen beinahe hinter jeder Zeile eine
merkliche Pause machen, um den sinn- und stilgemäfsen Eindruck
des Ganzen hervorzubringen. Diese Pause gehört zum Rhythmus,
ihr Wert wird mit als rhythmisch gefühlt. Sie ist also eine
rhythmische Pause,«) und zwar beträgt dieselbe meist etwa so
viel, wie die Zeit einer Hebung ausmacht (— x). 2 ) Doch ver-
halten sich männliche und weibliche Reihen verschieden.
Die weiblichen sind nämlich nicht selten mit der folgenden
Zeile so eng verbunden, dafs für eine rhythmische Pause keine
Zeit bleibt. Es wird nur eben abgesetzt, die Grenze zu markieren:
die Endpause ist 4 tot'. 3 ) Manchmal ist die syntaktische Ver-
bindung auch so, dafs nur für eine kurze rhythmische Pause,
etwa = '/■> Hebung, Zeit bleibt (— a). Die Schlüsse der
weiblichen Verse haben demnach die Formen _ L _ a und _ L _ A
und
Die männlichen Verse sind immer scharf abgegrenzt. Sie
haben alle, mit einer Ausnahme, am Ende 7:. Aber aufserdem
wird in ihnen durchweg die letzte Silbe, die fünfte Hebung, so
weit gedehnt, dafs sie die Zeit einer Hebung + Senkung (= .1)
beansprucht. Die Schlüsse der männlichen Reihen sind also
_ L 7; bezw. _1.
Diese Behandlung der Schlüsse macht tatsäcldich die Verse
trotz ihrer verschiedenen Silbenzahl im allgemeinen gleich lang
und trägt nicht wenig dazu bei, dem Gedicht den Charakter
grofser Ruhe zu geben.
Von den 68 weiblichen Versen haben
a) den Schlufs -L „7-: 8 13 16 17 19 21 24 31 32 40 47
48 51 53 55 56 58 60 62 63 64 66 68 70 75 77 80 83 85 87
88 89 91 95 96 99 101 103 104 109 111 112 (Sa. 42)
b) den Schlufs _ 1_ A : 7 11 15 23 25 27 29 37 39 45 93
(Sa. 11)
c) den Schlufs 1 3 5 9 33 35 41 43 49 73 79 81
97 105 107 (Sa. 15).
») Rh. § 25.
*) Die Dauer der Pause ist wie die der Hebung je nach dem Zusammen-
hang verschieden : hing, halblang, überlang (bo z. B. V. 63). Bei der Schema-
tisierung konnten die Unterschiede im Druck nicht ausgedrückt werden.
») Rh. § 9.
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21G
Franz Sarau
Von den 44 männlichen haben
a) den Schlufs -L 2 4 6 10 12 14 18 20 22 26 28 30
34 3t> 38 42 44 46 50 52 54 50 61 65 67 69 71 72 74 76 78
82 S4 86 90 92 94 98 100 102 106 108 110 (Sa. 43).
b) den Schlufs 57 (Sa. 1).
Demnach haben von den 112 Versen des Gedichts 85, fast
2 /.n ? den Umfang eines vollen Sechsers. 11, d. h. 1 , 0 , sind um
V 2 Pause ( A ), 16, d. h. um eine volle Pause (7-) kürzer.
Wie hat man diese Verhältnisse rhythmisch zu deuten?
Offenbar sind nicht gänzlich verschiedene Versformen in dem
Gedicht vereinigt, sondern es handelt sich nur um Variationen
ein- und derselben Grundform, des Sechsers. Die Formen auf
_±_- sind die bekannten ' katalektischen ', die auf _ 1a die
' brachykatalektischen \ Aber die andern? Man bedenke, dafs
jeder 'Vers' zur Art des gemischten Rhythmus gehört, also Be-
standteile der orchestisehen und sprachlichen Gliederung vereinigt.
Verse der Art, wie sie die Zueignung enthält, sind ausgegangen
von streng orchestischen Formen, von Reihen, die zum Tanz,
Reigen oder Marsch gesungen wurden. Diese haben sich später
von der Körperbewegung frei gemacht und sind, nach Abstreifung
der Melodie, in die Klasse der poetischen Rhythmen eingetreten,
welche ein rein orchestisches Gefüge durch Nachgiebigkeit gegen
den sprachlichen Rhythmus verändert haben. *) Die Veränderung
betrifft neben vielem andern besonders die Zeit Verhältnisse. Die
Reihen können innerhalb gewisser Grenzen verkürzt und ver-
längert werden, da ja der Wegfall der Körperbewegung erlaubt,
die alte Form dem Sinn und Ethos zu Liebe zu modifizieren.
Die Quantitäten werden aus verhältnismäfsig strengen, verhältnis-
mäfsig freie, angenäherte, und vor allem fällt jede Beziehung
auf eine Mafszeit weg.
Eben darum erscheint in unserm Gedicht an denselben
Stellen der Strophe bald der volle Sechser, bald der Fünfer mit
überschiefsender Senkung bezw. überdehnter fünfter Hebung, bald
eine in der Mitte zwischen beiden stehende Form. Eben deshalb
wird auch die Fufsproportion 2 : 3 immer nur annähernd ein-
gehalten. 2 )
•) Rh. § 8.
') Rh. § 27.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
217
Die Reihen des Gedichtes sind demnach als 'katalek tische'
bezw. * brachykatalektische ' Sechser mit den Modifikationen des
poetischen Rhythmus zu bezeichnen.
Ihrer inneren Gliederung nach besteht jede Reihe aus 2,
im allgemeinen sehr deutlich geschiedenen Hauptbünden. Das
kürzere, zweihebige, steht fast immer voran (105 Mal), das längere
schlierst den Vers.
Die Fälle, in denen das längere Bund voranstellt, sind im
Ganzen 7;>) sie sind also völlig in der Minderzahl. Ihre Er-
klärung wird in dem § 15 noch gegeben werden. Hier genüge
die Bemerkung, dafs diese Gliederung nicht aus der orchestischen
Urform stammt, sondern eine ist, die sich erst nach dem Über-
tritt in die Art des 'gemischten' Rhvthmus entwickelt haben
kann. Sie wird offenbar dem Einflufs der sprachlichen Gliederung
(Accent) verdankt.
Folgende Reihenformen kommen vor. Ich scheide dabei
gleich Yorderreihe und Hinterreihe der Kette.
Die Formen der rhythmischen Reihe.
Vorderreihe. 1 ) Hinterreihe. 9 )
a) 2 + 2 2 + (3 + 2) a c 1 : 71 a)
2 + 2 (3 + 2) + 2 ßa*: 109 2 + 2 (3 + 2) + 2:
pc*: 3
yah 50
2 + 2 3 + (2 + 2) ßü 3 : G2
2 + 2 3 + 2 + 2 a g: i
yg: 94
2 + 3 (2 + l) + 3 a^ch Ü4
a^ch 90
ß^c*: 12
b) 3 + 1 2 + (2 + 3) «a*: 57 b) 3 + 1 2 + (2 + 3)
ßah 70
3 + 1 (2 + 3) + 2 ß a*: 107
') Abteiinns: c) der folgenden Tabelle.
J ) Die kursiven Ziffern in der Rubrik der Vorderreihen bezeichnen die
stumpfen Verse (L).
s ) Die kursiven Ziffern in der Rubrik der Hiuterreihe bezeichnen die
klingenden Verse ( L _ ).
3 + 1 2 + (3 + 2)
0 a 2 : 33
ß c 3 : 37
3 + 12 + 3 + 2ac s : 69
3 + 1 (3 + l)-f-3a a\ 61
a c 3 : 93
ßah 49
/Sc«: 55,
0 c 3 : 9
7 a 3 : 23
3 + 1 8 + (l + 3) «d 2 : 25
ad 3 : 17 21
8 + 1 S + l + S aft 77
7/-: 13
3 + 1 (3 + 2) + 2 aa 3 : 79
ac 1 : 91,
ac 3 : 35 75
ßch 41 43 73 97
3 + 1 3 + (2 + 2) auT-. 89
aa 3 : 15 63 85 111
ad 3 : 47 87 103
ßd*: 39 60
7 a 2 : 7 31, 7 a 3 : 1
3+1 3 + 2 + 2 «a 3 : 27
af: 5
3 + 2 (2+ l) + 3 0 w c': 51
ß^c*: 53
/uC 1 : 19
3 + 2 2 + (1 + 3) a^<P: 29
7^d 3 : 101
3 + 1 2 + (3 + 2)
0 a 3 : 68
3+1 2+3+2
7d 2 : 38
3 + 1 (3 + 1) + 3 a a 2 : 110
a ci : 92,
a c 2 : 64
0 c': 76
/ c 3 : 2
3 + 1 3 + (1 + 3) «>: 44
ßd*: 16
3 + 1 3 + 1+3 af: 42
ag: 10
7<7: 46
3 + 1 (3 + 2) + 2 a c 3 : 40
0 c': 48 84
/9 c 3 3,2 74 80 112
7 c 3 : 30 108
3+1 3 + (2 + 2) aa 2 : 98
aa 3 : 28 58
ad 3 : 36
ßa\ 56
0d 2 : 66 72
8 + 1 8 + 2 + 2 ag: 88
3 + 2 (1 + 2) + 3 0^a 3 : 100
3 + 2 (2 + l) + 3 ß^c>: 20
7^c 2 : 52 78 06
7^c 3 : 82 86
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
219
3 + 2 (2 + 2)-f2 a^a?: 45 3 + 2 (2 + 2) + 2 «^a*: 102
a^c 3 : 14 18
ß^a*: 83, ß^a\ 99
ß ^ c 3 : 59
f^aT-: 67 y^c': 6, y^c 3 J04
3 + 2 2 + (2 + 2) a^o 2 : 105
3 + 2 2 + 2 + 2 ß^f: 54
y^fir: IOC
c) (3 + 1) + 2 3 + 2 a'a: 95 c)
(3 + 2) + l 3 + 2 a*ß: 8
3 + (2 + 1) 3 + 2 aiß: 65
(Pß: 11
(3 +2) + 2 2 + 2 a^ß: 81
3 + (2 + 2) 2 + 2 a 3 w 7: 22
3 + 2 + 2 2 + 2^0: 20.
Die Reihen haben folgende Formen:
4 + 3 + 4
26 Mal
4 + 5 + 2
21
5 + 3 + 3
13
••
4 + 4 + 3
12
«
4 + 7
12
tJ
5 + 4 + 2
10
4+2 + 5
7
5 + 2 + 4
4
3 + 3 + 5
2
-
5 + 6
2
n
5 + 1 + 5
1
»
3 + 4 + 4
1
••
7 + 4
1
d. h. am seltensten sind die Gruppierungen, in denen das relativ
längste oder doch ein sehr langes Nebenbund hinten steht:
4 + 2 + 5, 3 + 3 + 5, 5 + 1 + 5, 3 + 4 + 4 (Sa. 11). Häutiger
sind absteigende Schemata wie 5 + 3 + 3, 5 + 4 + 2, 4 + 4 + 3
(Sa. 35). Die Mehrzahl machen Formen mit Wechsel von Länger
und Kürzer: Sa. 51. Die zweibündigen Verse (15) stehen für sich.
Ferner: wenn man im Verse die Bundteilung nicht beachtet,
sondern allein die Folge der Glieder ins Auge fafst, so ergiebt
220
Franz Saran
sich, dafs im Versinnern sehr viel öfter Hebung + Senkung als
Senkung + Hebung gebunden wird. Die dreisilbigen Glieder
_JL._ stehen deshalb meist so, dafs sie diese 'absteigende' Be-
wegung fördern, d. h. am Anfang oder Schlufs des ersten, am
Anfang des zweiten Bundes. 1 ) Diejenigen Gliederungsformen,
deren Bau es zuläfst, Hebung mit folgender Senkung am
häufigsten zu binden (3—4 Mal, weil die Schlufshebung hier
nicht mit in Betracht kommt), sind deshalb in der Überzahl:
.3 + 2 + 24-2 + 2 — 17
3 + 1 + 3 + 2 + 2 = 42
3 + 2 + 2 + 1+3 = 11
■-= 70.
Solche, in denen nur das Glied .'. im Versinnern vorkäme, gibt
es überhaupt nicht. Das äufserste ist 3 -maliges Auftreten,
nämlich 2 + 2 + 2 + 3 + 2 (1 Beispiel).
§ 9. Die Kette.
Uber der Ordnung der Reihen steht als nächst höhere die
der Ketten. 2 ) In unserem Gedicht besteht jede Kette nur aus
2 Reihen, die sich als Vorderreihe und Hinterreihe zur Einheit
des Ganzen verbinden. Symbole für dieselben seien q — b.
Den Ausdruck 'Vordersatz' und 'Nachsatz' möchte ich ver-
mieden wissen. Er bezieht sich ursprünglich nur auf die Melodie-
gliederung und ist rhythmisch nicht eindeutig.
Das Gedicht enthält 5G Ketten: allemal 4 bilden eine
Strophe.
Die Ketten heben sich deutlich von einander ab: die Vorder-
reihe hat die Schlüsse --- a, die Hinterreihe
-Lt.. Die Reimordnuug ab ab ab cc folgt diesen Schlüssen.
Nur in der Mitte des Gedichtes ändert sich der Bau der
Ketten, von V. 57—72. In diesen Strophen hat die Vorderreihe
jedesmal den Schlufs L 7 ,, die Hinterreihe _1_ x. V. 63/64 hat
die Sehl urskette wie sonst den Ausgang ... .'. _ * , 71 72 dagegen
- - A- Die Strophen sind wohl nachgedichtet,
') Vgl. dazu noch § 12. Siehe auch Keitr. 23, 70.
») Vgl. Rh. § 16.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
221
Auch durch den Sinn schliefsen sich je 2 Reihen zur
Einheit der Kette zusammen: hinter den Reihen von gerader
Ziffer ist immer der stärkere, hinter denen von ungerader der
schwächere Sinneseinschnitt.
Im Bau der beiden vereinigten Reihen finden sich manche
Unterschiede, die wohl mit ihrer verschiedenen Funktion als
Vorder- oder Hinterreihe zusammenhängen. 1 )
Die Reihen haben folgende Formen:
Es verhält sich die Zahl der Vorderreihen mit dem kurzen
Hauptbund
2 + 2 zur Zahl der Hinterreihen
3 + 1 „
2 + 3 „ „
3 + 2 „
3 : 3
39 : 32
0:3
11 : 14.
Vorderreihe:
Hinterreihe:
4 + 3 + 4
4 + 5 + 2
4 + 4 + 3
4 + 2 + 5
5 + 4 + 2
4 + 7
5 + 2 + 4
5 + 3 + 3
3 + 3 + 5
n
IG Mal
11
6
5
5
5
4
3
2
4 + 3 + 4
4 + 5 + 2
5 + 3 + 3
4 + 7
4 + 4 + 3
5 + 4 + 2
4 + 2 + 5
5 + 2 + 4
3 + 3 + 5
10 Mal
10 „
10 „
7 „
6 n
5 n
2 „
5 + 6
5 + 1 + 5
3 + 4 + 4
7 + 4
'1
1
1
1
Aus der Vergleichung der Gruppenformen ergiebt sich, dafs die
mit wechselndem Bundumfang, z. B. 4 + 3 + 4 oder 4 + 2 + 5 in
der hinteren Reihe seltener sind als in der vorderen: V: II — 38 : 22,
während die mit absteigenden (5 + 4 + 2 u. a.) Umfangsziffeni
daselbst häufiger vorkommen: V : II — 8 : 15. Die in der Mitte
stehende Form 4 + 4 + 3 ist in beiden Reihen gleich häufig (6 Mal).
Es ist offenbar in der Hinterreihe eine leise Tendenz da, das
längste Nebenbund an den Anfang des langen Teiles zu bringen.
•) Vgl. die Tabelle des § 8.
222
Franz Saran
Ferner finden sich in der hinteren Reihe auch mehr Formen
ohne Bundteilung im langen Teil: 4 4-7 in V: II — 5:7.
Über die Verteilung der Hebungsschwere giebt
folgende Tabelle Auskunft:
1. Kurzer Teil vorn (Sa. 105).
I Vonler-
reihe
Hinter-
reibe
Vortler-
reihe
Hinter-
reibe
a a 1
—
— ßd*
—
—
a*
3
3 (P
—
2
a 3
8
3 tf 3
2
1
«c«
2
1 -f /
i
i
—
2 </
C 3
4
4 y a 1
ad*
—
3
1
d*
1
— . a»
2
—
(P
5
2 yc «
1
1
*f
2
1 c*
3
9
3 c 3
6
ßa*
— yd«
a*
3
1 d'
1
O 3
3
3 d*
1
2
3 7f
1
2 9
4
c 3
"S
4
2.
Langer Teil vorn (Sa. 7).
a 3 «
1
1
a*ß
1
d*fi
1
a*ß
1
- 00
1
a*ß
1
Schliefsen wir die 7 Verse der Tabelle 2 von der Betrachtung
aus, so ergiebt sich:')
') 1 Vers ist mir verloren gegangen.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethe«.
223
Vorderreihen mit a : Hinterreihen mit a = 25 : 19
ß : „ „ ß = 19 : 17
/ : n „ / = 8 : 16,
d. h. der kurze Teil hat in der Vorderreihe mehr charakteristische
Bewegung: in der Hinterreihe ist er stärker ausgeglichen.
Vorderreihen mit a
r
n *
n f
n 9
Hinterreihen mit a
c
d
f
-
y =
22:11
18 :2G
9:0
3:2
0:7,
d. h. in der hinteren Reihe werden die Typen häufiger, die den
Schwerpunkt mehr nach dem Ende rücken (c). Die andern (a d)
nehmen z. T. sehr deutlich ab. Vor allem nehmen zu die ebenen
Formen, genau wie die y im kurzen Teil.
Innerhalb der Typen a — d verhalten sich die
1
2
3
5:5
10: 15
34
d. h. auch hier tritt die Neigung zu Tage, den Schwerpunkt der
Hinterreihe ans Ende zu verlegen. Tendenz zur Ausgleichung
mehr im langen Teil der Vorderreihe.
Vereinigt man die §6—9 gewonnenen Merkmale der Kette
und ihrer Teile zu einer Gesamtbeschreibung, so würde das
Resultat sein:
Das Metrum der Kette ist
Die Kette zerfällt in Vorder- und Hinterreihe. Erstere ist
4 weiblich ', diese ' männlich ', wenige Ausnahmen in der Mitte des
Gedichtes abgerechnet.
Ihrer Funktion entsprechend sind beide rhythmische Stücke
verschieden gebaut.
224
Franz Saran
Hinsichtlich der kurzen Bünde überwiegen in der Vorder-
reihe (a) die silbenänneren, in b die silbenreicheren. Von den
dreigliedrigen Bünden enthält a mehr die mit wechselnden,
b mehr die mit absteigenden Ziffern: b ist also bestrebt, die
silbenreichen Glieder möglichst in die Nähe des ersten, kürzeren
Bundes zu setzen. Umgekehrt verlegen die b die schwerste
Hebung lieber nach dem Ende des langen Bundes zu.
Die kürzeren Hauptbünde von a haben lebhaftere Bewegung
in der Abstufung der Hebungen als die von b; diese lieben mehr
die ausgeglichenen Formen. Umgekehrt bevorzugen die längeren
Bünde von a die Ausgleichung; die von b zeigen grosseren
Wechsel der Hebungsgewichte.
Jede Reihe zerfällt in 2 Hauptbünde. Das kürzere geht
fast immer voran.
Die Gruppierungen 3 -|- 1 und 3 + 2 überwiegen in. den kurzen
Vorderbünden durchweg, weil es zum Stil des Gedichtes gehört,
im Versinnern möglichst Hebung und folgende Senkung zu binden.
Die Nebenhebungen dieser zweigliedrigen Hauptbünde sind öfter
schwer als leicht: offenbar um dem langen Hauptbunde möglichst
das Gegengewicht halten zu können. Bei der Anordnung der
Hebungsgewichte wird weder a noch ß bevorzugt; y ist stark
vertreten : also hier Streben nach Ausgleichung und Fülle, offenbar
aus gleicher Absicht.
Diesen i. A. sehr vollen kurzen Hauptbünden stehen ent-
sprechend gegenüber die längeren dreigliedrigen. Die rhythmische
Entsprechung ist natürlich nicht genau, weil eben ein zweihebiges
und drei- (eigentl. vier-) hebiges Stück nicht völlig korrespondieren
können. Doch sieht man das Bestreben der Gewichtsausgleichung
in der Bildung der zweigliedrigen Nebenbünde: deren Neben-
hebungen sind vorzugsweise leicht, während die der zweigliedrigen
Hauptbünde vorzugsweise schwer sind. Ebenso in dem Zurück-
treten der g (8 Mal); die y im kurzen Hauptbund 24 Mal! Es
herrscht also im langen Teil mehr Abwechselung und Bewegung :
er ist i. A. weniger voll.
In der Gliederung nach Nebenbünden bevorzugen die drei-
gliedrigen Bünde Formen, in denen möglichst Gleichgewicht
herrscht (z.B. 3 + 4. 4 + 3, 3 + 3; Sa. 52 gegen 47 der Art
5 + 2, 4 + 2 u. a.).
Ferner meiden sie geradezu abfallende Schwere der Hebungen:
Typ. e und d x (-LI) fehlen ganz; a 1 , das wesentlich fällt, ist
Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethe«.
nur 1 Mal vertreten. Sie bevorzugen eine Bewegung, bei der
die schwerste Hebung in der Mitte des Bundes liegt (c, c? 2 ; Sa.
50) oder eine hinsichtlich des Fallens oder Steigens indifferente
Form wie a 3 , d 3 , g (Sa. 39). Mehr ansteigende Typen sind in
der Minderzahl (a 2 , /; Sa. 22).
Auch diese Hebungsverteilung drückt das Bestreben aus,
so weit als es möglich ist die Massen auszugleichen, um eine
wohlgefällige Entsprechung herzustellen.
Noch deutlicher kommt das Bestreben nach Entsprechung
zu Tage, wenn man die Nebenbünde, aus denen das lange Haupt-
bund besteht, für sich betrachtet.
Die Gliederung der zweigliedrigen Nebenbünde ist über-
wiegend eine solche, dafs sich die Silbenzahl möglichst gleich
verteilt: 2 + 2 herrscht vor (35 Mal), dazu 3 + 2 und 2 + 1.
Sa. 79 gegen 20 andere Formen. Die Hebungstypen sind meist
aufsteigend (ß), im Interesse der Bewegung des Hauptbundes.
Man darf also zusammenfassend sagen : der Sechser, der im
reinen orchestischen Rhythmus streng nach der Proportion
4:8 = 1:2 gebaut ist
t t . t t t t
,
wird hier im Sinne genauerer rhythmischer Entsprechung aus-
gestaltet, ohne dafs eine absolute Gleichmäfsigkeit erreicht werden
kann. Sie soll es aber auch nicht. Denn Mannigfaltigkeit ist
ein Erfordernis rhythmischer Wohlgefälligkeit.
§ 10. Das Gesätz.
Je zwei Ketten vereinigen sich zum Gesätz. Deren giebt
es also im Gedicht 28. Jede Strophe besteht aus zwei. Die
Gesätze werden durch den Sinn deutlich getrennt: hinter dem
vierten Verse jeder Strophe ist starke Interpunktion. Wo sie
nicht steht, wie V. 92 oder 108, ist dennoch ein bedeutsamer
Ruhepunkt vorhanden, der besser durch starke Interpunktion
markiert wäre. Nur einmal, V. 60, steht echte schwache Inter-
punktion. Darüber siehe § 15.
$ 11. Die Strophe.
Zwei Gesätze bilden eine Strophe. Deren giebt es 14. Sie
sind dem Sinne nach und auch rhythmisch wohl von einauder
geschieden.
15
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226
Franz Saran
§ 12. Die Einschnitte.
Es ist bisher nur die rhythmische Beschaffenheit der
Elemente (Silben) und ihrer Verbindungen zu Gruppen immer
höherer Ordnungen besprochen worden. Es ist gezeigt, wie alle
diese Teile der Rhythmopöie sozusagen innerlich, durch Verteilung
der Silben, durch Abstufung der Hebungsschwere u. a., gebaut
sind. Aber diese Teile schlief sen sich nicht nur in sich zusammen.
Sie schlief sen sich auch von den Teilen, denen sie in derselben
Ordnung entsprechen, ab. Zwischen Strophe und Strophe, Gesät z
und Gesätz, Kette und Kette. Vorderreihe und Hinterreihe, Haupt-
bund und Hauptbund, Nebenbund und Nebenbund, Glied und
Glied, Silbe und Silbe liegen Grenzen, Einschnitte. 1 ) Auch diese
sind für den Gesamteindruck von höchster Bedeutung. Die Lehre
von den Einschnitten ist ein wichtiges Kapitel der Verslehre.
Wie die rhythmischen Stücke, die sie begrenzen, sind auch
die Einschnitte nicht von gleicher Funktion: sie stufen sich in
denselben Ordnungen ab, wie die Teile der Rhythmopöie. Die
Naht scheidet Silben, das Gelenk Glieder, die Binnenfuge
Nebenbünde, die Fuge Hauptbünde, die Lanke Vorder- und
Hinterreihe, die Kehre Ketten, der Absatz Gesätze, der
Strophenschi ufs Strophen. Streng genommen giebt es also
in der Zueignung Einschnitte in acht Ordnungen übereinander.
Die Einschnitte zerfallen in drei Klassen, je nach der
"Wirkung, die sie normaler Weise auf das Ohr des naiven —
nicht analysierenden ! — Hörers machen. 1. Solche, denen es
wesentlich ist, bemerkt zu werden, deren deutliche Ausprägung
auch der blofs Geniefsende verlangt Es sind Lanke, Kehre und
alle andern der höheren Ordnungen; 2. Einschnitte, denen
es wesentlich ist, unbemerkt zu bleiben, weil eine deutliche
Ausprägung die Rhythmopöie zerhacken würde: Binnenfuge,
Gelenk, Naht. 3. Die Fuge, die je nach Versart und -stil bemerkt
wird oder nicht. Bemerkt mufs sie i. A. werden in Versen von
fünf und sechs Hebungen, kann sie werden im Vierer und Dreier
stark bundmäfsiger Bauart.
Es ist wichtig, die Wirkungen einer Rhythmopöie auf den
naiven Hörer und den analysierenden Rhythmiker zu unterscheiden.
Denn beim Analysieren, besonders bei fortschreitender Übung
bemerkt man unendlich viel mehr als beim schlichten Zuhören.
>) Rhythmik § 20.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
227
Der naive Hörer und Ungeübte ist andererseits immer geneigt^
das was der geschulte Rhythmiker bemerkt, für nicht vorhanden
oder unwesentlich zu erklären.
Normaler Weise ist jeder Einschnitt höherer Ordnung schärfer
als sämtliche der niederen Ordnungen. Vgl. Rhythm. § 20.
Diese Rangordnung der Einschnitte wird in der Zueignung
i. A. sehr gut gewahrt.
Auch äufserlich macht sich dies Verhältnis bemerkbar.
Am Strophenschlufs verlangt der Sinn lange zu pausieren. Der
Absatz hat l, 1 ) dazu * und sehr bedeutenden Sinneseinschnitt,
mit einer Ausnahme. Die Kehre meist % * und minder starken
Sinneseinschnitt. Die Lanke 1_ nebst * oder a t seltener
nur 1_: es fällt die hemmende Überdehnung weg. Auf
der Fuge fehlt die rhythmische Pause, oft merklicher Sinnes-
einschnitt. Doch steht immerhin sehr häufig Interpunktion da-
selbst. Der Binnenfuge fehlt dann auch die Interpunktion, mit
Ausnahme von V. 57 und 65.
Man beachte wohl, dafs die Einschnitte der Rhythmopöie
durchaus nicht immer Pausen sind. Allerdings ist die Pause,
tote sowohl wie rhythmische,-) das beste Mittel Ende und Anfang
entsprechender Teile auseinanderzuhalten. Die Einschnitte der
höheren Ordnungen, besonders von der Lanke an aufwärts, haben
sie meist deutlich ausgeprägt. Aber nicht immer — auch in den
höheren Ordnungen nicht immer — wird eine rhythmische Grenze
durch ein Aufhören der Artikulation oder auch nur eine deutliche
Schallpause bezeichnet. Läfst man einen Flötenton rhythmisch
schwellen und abschwellen, so giebt es nirgends eine Pause.
Und doch gliedert sich das Ganze in Hebung und Senkung: wir
empfinden hinter den Senkungen Einschnitte in der Rhythmo-
pöie, wenn diese auch nicht völlig durchgeschnitten wird. Dem
Eindruck der Gliederung in Hebung und Senkung, d. h. in zwei-
teilige Glieder, geht die Empfindung der Grenze (Gelenk) ohne
weiteres parallel: Stärkeabstufung ist hier der Faktor, der die
Grenze macht.
Vermeidet man Stärkeabstufung und bläst zwei verschiedene
Töne in gleichem Wechsel, so ist Wechsel der Tonhöhe der für
die Grenzen bestimmende Faktor; stuft man die Töne gleichzeitig
durch Stärke ab: Stärke und Tonhöhe u. s. w.
i) Autor V. 57 ff., 65 ff.
") Ehythinik § 25.
15*
228
Franz Saran
Die Faktoren, die den Eindruck des Einschnitts erwecken f
sind also neben dem der Pause noch sehr viele andere, eben-
dieselben, die ich Rhythmik § 9 aufgezählt habe.
Unter Einschnitt verstehe ich also eine mehr oder minder
fest bestimmbare Stelle in der Rhythmopöie, die als Grenze
zwischen entsprechenden Teilen derselben empfunden wird. Der
Eindruck eines Einschnitts wird nicht allein durch Pause, sondern
auch durch sehr mannigfaltiges Zusammenwirken der andern
rhythmischen Faktoren erzeugt.
Daraus folgt, dafs ein Einschnitt fürs Ohr vorhanden sein
kann, wenn auch der Text vom Standpunkt des grammatischen
Accents und der Syntax oder für das Auge keinen bietet. Eine
Wendung der Melodie verbunden mit einer kleinen schattierenden
Dehnung, einem leichten Staccato oder Portato genügt, die Grenze
anzudeuten. Ja es kann der subjektive Faktor den Ausschlag
geben, wenn der Hörer durch häufige entschiedene Grenze daran
gewöhnt ist, nun auch im nächsten Vers an derselben Stelle eine
solche zu erwarten.
Es folgt weiter, dafs die Einschnitte gleichen Grades sehr
verschieden tief und breit sein können. Tote oder rhythmische
Pause wird ihre Stelle am unzweideutigsten angeben und ihre
Wirkung am fühlbarsten machen: andere Faktoren lassen sie
minder klar heraustreten, je weniger zusammenwirken oder je
mehr von ihnen im entgegengesetzten Sinne arbeiten.
Aus dieser Auffassung der Einschnitte als Einschnitte im
Gesamteindruck einer Rhythmopöie, nicht allein als Einschnitte
im Worttext folgt endlich, dafs man den herkömmlichen Namen
'Cäsur' vermeiden mufs. Denn im Begriff 'Cäsur' liegt immer
der eines Wortschlusses, einer accentuellen oder syntaktischen
Pause. Der Begriff, aus der antiken Metrik stammend, ist nicht
rein rli3ihmisch und fürs Ohr, sondern auch grammatisch und
fürs Auge. Er ist gefunden am gesehenen Vers (ot^oc, versus).
Aufserdem ist er rhythmisch mehrdeutig. Denn der Einschnitt
in der Mitte des Alexandriners, Hexameters und Pentameters
wird ebenso Cäsur benannt, wie der hinter dem zweiten Gliede
des ' f ünff üfsigen Jambus' oder jambischen Trimeters. Rhythmisch
ist er dort aber eine Lanke und scheidet Reihen, hier eine Fuge
und scheidet Hauptbünde. Man hat beide Arten des rhythmischen
Einschnittes in dem Begriff 'Cäsur' zusammengefafst, weil her-
kömmlicher Weise Alexandriner, Hexameter, Pentameter, fünf-
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung 1 Goethes.
229
füfsiger Jambus und Trimeter einen orixog, versus d. h. eine
Textzeile ausfüllen. Es ist aber die erste Pflicht des Rhyth-
mikers, sich vom Gesichtsbild seiner Rhythmen frei zu machen
und allein nach dem Kind ruck aufs Gehör zu entscheiden.
Die Einschnitte derselben Ordnung können — unbeschadet
ihrer Stellung in der Rangordnung der Einschnitte überhaupt —
verschieden stark sein, sie können die Teile der Rhythmopöie,
zwischen denen sie sich befinden, mehr oder weniger deutlich
von einander sondern. Dadurch entsteht ein neuer Unterschied
der rhythmischen Gruppen in der nächst höheren Ordnung. Solche
Gruppen können durch ihren Einschnitt 'eng' oder 'weit' sein.
Zwischen den Elementen der Rhythmopöie, in unserem Falle
den Silben, liegen 'Nähte'. Dieselben werden vom naiven Hörer
nicht bemerkt, weil die Silben im Gliede eng aneinander hängen:
z. B. sei-ne 1, tim-finy 2, er-hoh-sich 7. Unterschiede der Nähte
fallen deshalb gewöhnlicher weise nicht auf. Bei genauerer
Prüfung sind jedoch die normalen Nähte nicht alle gleich
schwach. So gehören Silben wie Sec-le, jc-detn näher zusammen
als etwa bei -einem 5 oder mit- frischer 4. Immerhin können
diese Unterschiede vernachlässigt werden. Glieder mit solch
undeutlichen Nähten heifsen 'eng'.
Sind dagegen eine oder beide Nähte im Glied sehr merklich,
spürt der Beobachter ihre Wirkung als etwas besonderes, so
lockert sich natürlich das Glied; es wird 'weit'. Eine oder beide
Senkungen bekunden dann die Neigung, sich von der be-
herrschenden Hebung loszulösen, eine Sonderstellung einzunehmen,
ohne doch wirklich ans dem Verbände des Gliedes herauszutreten.
Die betr. Senkungen sind in solchen Fällen sehr schwer, lang
oder voll ; manchmal werden sie durch syntaktischen Bruch mehr
selbständig. Besonders wirkt in dieser Weise auflösend die sogen,
'schwebende Betonung'. Während z.B. sie sprach 57 ein
enges Glied ist, empfindet der Rhythmiker sprach sie 33 als weit.
Die Schwere und Länge von sprach verbunden mit der relativen
Leichtigkeit und Kürze des sie löst die Phrase: beide Silben
nähern sich rhythmischer Gleichwertigkeit, die Naht dazwischen
tritt dem Rhythmiker klarer heraus.
Solche Fälle finden sich nun vorzugsweise am Anfang der
Reihen und Hauptbünde, den Einsatz kräftiger zu machen und
andererseits die normale Bindung von Hebung und Senkung vor-
zubereiten. Der naive Hörer spürt nur diese Wirkung. Das
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230
Franz Sarau
Glied _ .1- ist beliebt. Im Versanfang z. B.: bald 15 25,
denn 28, rfem 56, ici'c 63, kaum 59 60, /o^ 52; noch weiter:
kein 31, wie 21 58, rf« 47, hier 19 20, <Z?cä 49; sa/» 39. Im
Anfang des zweiten Hauptbundes: nur 55, scAon 61, wird 103,
nocA 112, war 23. Weiter: wmcä 8, zog 9, rote/» 11, tri'W 48,
leb" 64, saÄ 31 73, mit-(leidger) 74, ftann 93. Andere Fälle sind
seltener _ der Tag wird 104. _ L sucht' ich 71, sprach
sie 33. L\L t-oK 6, Nach- sieht 74. JiTjl tenns* du
»ucÄ 33.')
Fälle, in denen die Naht auch vom naiven Hörer als solche
bemerkt wird, oder Fälle, in denen durch sie eine Senkung vom
Gliede wirklich losgelöst wird und dem Reste ihres Gliedes selb-
ständig gegenübertritt, werden unten besprochen. Dabei handelt
es sich um 'Trennung' (§ 13) oder 'Brechung' (§ 15).
Beispiele für Nebenbünde.
Eng z. B. - _ 1 _ seine Tritte 1 , mit Entzücken 7 ; weit :
offen haben 66, zeigen soll 72, ein- geschlossen 16. Weit sind
die, welche schwere Nebenhebung haben. Sie sind etwas in der
Minderzahl vgl. oben S. 212.
Hauptbünde.
1. Weit: doppelt schön 22, der Morgen kam, 1. der junge
Tag 7. Eng: soll ich umsonst 66, wenn ich ihn nicht 72, auch
ich kenne dich 89. Die weiten sind in der Überzahl. VgL
S. 213. — 2. Weit: eine Klarheit sehn 18, lebt in meinem Blut
67. Die dreigliedrigen sind fast alle weit Vgl. S. 213.
Reihen. 2 )
Eng: 10 15 47 61 75 93 103; 17 21 27 79 87; 26 99 101
102 106 ; 7 13 20 22 23 30 31 38 39 44 46 48 51 52 55 56 59
60 63 67 74 78 94. Sa. 40.
Weit: 4 8 11 12 16 25 36 40 58 66 68 80 81 82 88 98
107 109 112; 12 3 6 9 24 32 33 35 37 41 42 43 49 50 53 54
*) Im Innern der Reihen oder Bünde dienen solche Senkungen dazu, die
Gliederung weniger scharf hervortreten zu lassen. Man weil« oft nicht, ob
sie mehr nach rückwärts oder vorwärts zu beziehen seien. Sie haben den
Charakter von ' C'hergangsseukungen '. Rh. § U (S. 11(5).
a ) Es kommen nur 94 in Betracht. Vgl. unten § 13 und § 15.
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
IM
64 65 73 76 77 83 84 86 89 91 92 95 96 104 105 108 110 111.
Sa. 54.
Enge und Weite hält sich die Wage, wenn man die hier
ausgeschlossenen Verse mit in Rechnung zieht. Hier wird der
Unterschied auch vom naiven Hörer bemerkt.
Ketten.
Weit sind die Ketten, in denen die Lanke eine volle
rhythmische Pause enthält, also . . . , 1 „ * oder ... „ L a . Eng
diejenigen, wo überhaupt keine rhythmische Pause vorhanden ist,
sondern sich an das _1_ des Schlusses der Vorderreihe die
Hinterreihe unmittelbar anhängt; im Ganzen 15 Fälle. Vgl. oben
S. 215. Die Fälle mit _L_ ,-, vor der Lanke stehen in der
Mitte. Den Fall V. 57 mit _ L (ohne Pause) ziehe ich wegen
der Überdehnung zu den weiten Ketten. Weite herrscht also
bei den Ketten vor.
Gesätze
sind nur weit, weil überall mindestens ^ in den Kehren steht.
Meist dazu L und starker Sinneseinschnitt.
Strophen
sind weit, weil die Absätze überall ä, dazu vorher meist L
und starken Sinnesschlufs haben. Über den Fall V. 60 vgl. § 15.
Im allgemeinen sind also in dem Gedicht die rhythmischen
Einschnitte aller Ordnungen, die erste ausgenommen, weit: alle
Gruppen des Gedichtes, sogar die Glieder, sondern sich für den
prüfenden Beobachter deutlich. Dadurch bekommt das Ganze
auch mit die ruhige, strenge Bewegung, den ebenen Gang.
§ 13. Ter Schleifung (Einschnitts verdeckung) und
Trennung (Einschnittsvertiefung).
Nach § 12 bemerkt zwar der analysierende Rhythmiker
alle Einschnitte einer Rhythmopöie, nicht aber der unbefangene
Hörer. Im allgemeinen bleiben diesem Naht, Gelenk und Binnen-
fuge verborgen, offenbaren sich nur Lanke, Kehre und die höheren
Ordnungen. Je nach Umständen auch die Fuge.
Nun kann der Dichter besondere Wirkungen hervorbringen
dadurch, dafs er die für gewöhnlich merklichen Einschnitte
232
Franz Saran
verdeckt, sodafs sie unmerklich werden oder dadurch, dafs er für
gewöhnlich unmerkliche Einschnitte dem naiven Hörer merklich
macht. Im ersten Falle findet Verdeckung der Einschnitte,
dabei natürlich eine Verschleif ung, d.h. enge Verbindung der
sonst getrennten rhythmischen Gruppen statt. Im andern Ver-
tiefung der Einschnitte, und zugleich Trennung des für ge-
wöhnlich eng verbundenen. 1 )
In der 'Zueignung' gehört auch die Fuge zu den merk-
lichen Einschnitten. Verdeckung kann also schon bei ihr statt-
finden. Sie findet sich tatsächlich nur bei ihr. Vertiefung bei
Binuenfuge, Gelenk und Naht blofs in wenigen Fällen.
Bundverschleifung (Fugenverdeckung) ist selten; die
Grenze zwischen enger Bindung und Verschleifung ist nicht
immer scharf zu ziehen, weil Wortschlufs und damit ein kleiner
Einschnitt so gut wie immer an der Grenzstelle vorhanden ist.
Folgende Fälle nehme ich an: 14 deckte (;) mir, 28 schien (;) zu,
34 Lieb'{\) und, 70 will(\) das, 12nicht{;) den, 85 J:onnt'(;) im, 100
Blumen- (;) Würzgeruch. Dazu 18 19 29 45 57 62 69 71 97, die
unten § 15 noch besprochen werden sollen.
Ganz evident ist der Fall V. 100, wo das Kompositum die
Fuge überbrückt. In allen diesen Versen geht die rhythmische
Bewegung ungehemmt vorwärts: man empfindet die Zeilen als
' cäsurlos '.
Andere Arten der Verschleifung kommen nicht vor. Die
rhythmischen Grenzen sind im allgemeinen sehr deutlich.
Noch seltener ist Vertiefung. Sie würde, häufig ver-
wendet, den Vers zerhacken. Angemessen ist sie überhaupt
weniger dem lyrischen als dramatischen Stil.
Gelenkvertiefung: 3 dafs ich, erwacht, 105 so kommt
denn, freunde.
Vertiefung der Binnenfuge: 37 an die zu ewgem
Bunde, 97 Freunden schwüle, 65 verzeih' mir, rief ich aus.
Andere Fälle gehören nur zum Teil hierher und werden
§ 15 behandelt, nämlich die Fälle von Vertiefung der Naht:
41 Ja!, 42 lang', 53 Ach!; des Gelenks: 18 Nebel, 19 er, 29
schwebte, 45 mir, 62 versäumst, 69 andre, 90 weifs; der Binnen-
fuge: 57 sprach, 71 weg.
') In der Rh. ist sie fälschlich mit Brechung zusammen behandelt (§ 30).
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Melodik und Rhythmik der ; Zueignung 1 Goethes.
233
§ 14. Zusammenziehnng.
Punktierung. Rhythmische Pause.
Zusammenziehung, d. h. Ausfall der Senknngssilbe und
Übertragung ihrer Dauer auf die vorausgehende Hebung (Symbol
1 = -!_"L) findet sich in der Zueignung lediglich am Schlufs, meist
zur Markierung der Kettenschlüsse, zur Verschärfung der Kehren.
Nur V. 57 59 61 65 67 69 71 braucht sie der Dichter vor der
Lanke, d. h. am Reihenschlufs.
Punktierung, d. h. Verkürzung einer Senkung und Über-
tragung der Zeit auf die vorausgehende Hebung (Symbol L^L)
hat des öftern statt, wenn die sehr kurzen und schwachen Vor-
silben be- und ge- in Senkung stehen. Ge-: 16 24 42 44 46 55
61 76 77 93 95 100 101; be-: 92; auch he-(ran) 78; zu- 17 19
21 25. Sa.: 19 Mal.
Rhythmische Pause, d.h. eine Pause, die an Stelle
eines rhythmischen Wertes steht, findet sich fast tiberall am
Schlufs der Reihen. Meist ist sie = - , d. h. gleich der Zeit
einer vollen Hebung, selten — a. Vgl. oben § 8.
§ 15. Brechung.
Die Nachwirkung des orchestischen Rhythmus in der Form
der Zueignung tut sich u. a. auch darin kund, dafs die alte
orchestische Regel über das Rangverhältnis der Einschnitte sehr
streng eingehalten wird. Strophenschlufs ist deutlicher als der
Absatz, dieser als die Kehre, diese als die Lanke, diese als die
Fuge, diese als die Binnenfuge, diese als das Gelenk, dieses als
die Naht, Dadurch wird eine sehr klare systematische Gliederung
des Ganzen gewährleistet, Die rhythmischen Abschnitte der
gleichen Ordnung entsprechen einander sehr deutlich und da-
durch bekommt das Gedicht grofses Ebenmafs, grofse Ruhe.
Gelegentlich wird nun aber das Ebenmafs unterbrochen,
die Ruhe etwas gestört, offenbar um die innere Erregung und
Bewegung gewisser Stellen auszudrücken. Das geschieht durch
'Brechung' der rhythmischen Gruppen oder, was dasselbe be-
deutet, Umkelirung des normalen Rangverhältnisses von Ein-
schnitten.
Wenn z. B. in einer Kette die Lanke deutlicher ist als die
Fuge, dann stehen sich Vorder- und Hinterreihe wohl abgegrenzt
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234 Franz Sarau
gegenüber. Wird aber die Fuge der Vorderreihe tiefer als die
Lanke, so zerfällt die Vorderreihe, sie wird ' gebrochen': ihr
zweites Bund schliefst sich mehr an die Hinterreihe an und
die genaue Entsprechung in der Ordnung der Reihen wird ver-
dunkelt. Also im Schema:
und
— j -
- 1
i t i
i i >
* i
_ * :
Brechung kann in allen Ordnungen der Rhythmopöie vor-
kommen: von den Metrikern ist sie in vollem Umfang noch nicht
gewürdigt. Brechung der Ketten, d. h. Vertiefung der Lanke
auf Kosten der Kehre, war im Mittelalter schon den höfischen
Romaudiehtern bekannt: sie nannten die Technik rime brechen,
d. h. Auseinanderreif sen der Reim verspaare. Die französische
Verslehre hat den Ausdruck Enjambement geprägt, begreift aber
darunter verschiedene Arten des Vorgangs.
Die Wirkung der Brechung wird unterstützt, wenn der
Einschnitt, über welchen sich der abnorm vertiefte im Range
erhebt, 'verdeckt' wird (nach § 13). 'Brechung' und 'Ver-
schleifung' gehen gern Hand in Hand.
Folgende Fälle der Brechung enthält die Zueignung:
1. des Gliedes.
41 Ja! | rief ich aus, \- - L. Hier ist die Gliednaht
hinter Ja! nicht blofs vertieft (nach § 13), sondern so tief und
breit dafs das Ja ! von dem dreisilbigen Gliede völlig losgerissen
wird. Aufserdem ist das Gelenk hinter ich weniger deutlich als
die Naht hinter Ja!. Ja! steht dem übrigen Teil des Bundes
selbständig gegenüber; man empfindet Ja! \ rief ich aus. Die
normale Rangordnung Gelenk > Naht ist in die sekundäre
Gelenk < Naht verkehrt, das Anfangsglied ist gebrochen.
Ähnlich V.42 lang' \ hob ich dich — | JL_ 1, 53 Ach, |
da ich irrte.
2. des Bundes.
18 im Nebel | liefs sich (;) eine Klarheit sehn. Die Fuge
hinter sich ist minder deutlich als das vertiefte Gelenk hinter
Nebel, weil sie verdeckt ist. Ebenso 19 hier sank er \ leise (;)
sich hinab -cm schwingen, 20 da schwebte \ mit den (0 Wolken
hergetragen, 45 du hast mir \ wie mit (;) himmlischem Gefieder,
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I
Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes. 235
62 versäumst \ die Pflicht (0 des Mannes zu erfüllen. 09 für
andre \ wäcJist in (;) mir das edle Gut.
Brechung des langen Hauptbundes ohne Verdeckung der
Fuge: 57 sie lächelte,; sie sprach: \ du siehst, wicMug. Hier ist
die vertiefte Binnenfuge tiefer als die Fuge. Dasselbe im
kurzen Hauptbund ich weifs | was Gutes 90. Mit Verdeckung
der Fuge 71 warum sucht' ich (;) den Weg \ so sehnsuchtsvoll.
In den Fällen der Bundbrechung wird die Fuge zwischen
zweiter und dritter Hebung nur verdeckt, nicht aufgehoben.
Z. B. wird das liefs sich, leise u. a. schattierend gedehnt und
beschwert ; aufserdem charakterisiert es der absteigende Gleit t on
als Ende des Vorderbundes. Durch diese Faktoren wird die
auflösende Wirkung der Brechung bis zu einem gewissen Grade
gehemmt und verhindert, dafs der Hörer die durch | angedeuteten
Bruchstellen als Fugen (' Hauptcäsuren ' der Verse) statt als
Binnenfugen empfindet.
Freilich kann in historischer Entwicklung oft der Fall ein-
treten, dafs die ursprünglich blofs verdeckte Fuge für das Ohr
ganz w r egfällt. Dann wird jene Bruchstelle wirklich Fuge; der
Vers bekommt eine neue, historisch sekundäre 'Cäsur'.
Hierher gehören alle die Verse des Gedichtes, in denen der
lange Teil voransteht, das Vorderbund ausmacht. Vgl. oben § 8,
S. 219. Diese sekundären Fugen sind dadurch zu erklären, dafs
die alte orchestische Teilung des Sechsers in
, ^_
unter dem Einflufs des eindringenden sprachlichen Rhythmus
verändert wird und allmählich einer andern weicht. Dadurch
bekommt der Sprechvers natürlich gröfsere Abwechselung. Man
mufs deshalb zwischen primären und sekundären Fugen (ent-
sprechend auch Lanken) 1 ) unterscheiden.
3. der Reihe.
Vorderreihe: 1 Der Morgen kam; \ es scheuchten seine
Tritte den leism Schlaf.
Lanke < Fuge. Die Lanke ist hier abgeschwächt durch den
übergehenden Schlufs Ebenso V. 9 33 35 37 41 43 49
73 105. Kombiniert mit Brechung des langen Hauptbuudes
') Eine solche ist wohl die Hephthemimeres des antiken Hexameters.
Oder liegt dabei doch nur Brechung der Hiuterreihe nebst Verdeckung der
Lanke (' Hauptcäsur ') vor?
2ao
Franz Saran
57 Sie lächelte, sie sprach: | du siehst, wie klug,
wie nötig wars . . .
Man beachte, dafs hinter klug {L) die Pause fehlt, die Lanke
also sehr reduciert ist.
Hinterreihe: sie wird nur 1 Mal gebrochen:
98 Und wenn es dir und deinen Freunden schwüle
am Mittag wird, \ so wirf ihn in die Luft.
4. der Kette.
Hierher vielleicht V. 91/92. Denn V. 91 hängt wohl mehr
mit 90 als 92 zusammen.
5. des Gesätzes.
Nur Gesätz V. 01 — 04. Der Absatz hinter Vers 00 ist
weniger scharf als die Kehre hinter V. 02. Infolgedessen schliefst
sich der erste Teil des Gesätzes mehr an V. 57— 00 an, Gesätz
2 wird also gebrochen.
§ 16. Schwebende Betonung.
Man kann den Ehythmus jedes Gedichtes als einen Kom-
promifs zwischen Metrum und Prosarhythmus auffassen. Das
Metrum, für die Poesie etwa dasselbe, wie der Takt für die
Melodie, Ist unverbrüchlich und darf nicht dem Accent zuliebe
umgebogen werden. Vgl. darüber die ausführlichen Erörterungen
im Eh. d. frz. Vers. § 14, Litbl. 1902, S. 258 f.
Sogenannte Widersprüche zwischen Accent und Metrum,
genauer zwischen dem grammatischen Accent und Metrum, sind
deshalb nie durch Veränderung des Metrums zu beseitigen. Im
Gegenteil. Sie erklären sich, wenn man bedenkt, dafs jedes
Gedicht seinen ethischen Accent hat, der von dem grammatischen
nicht selten abweicht') und sich oft gerade im Widerspruch zu
ihm offenbart, Widersprüche zwischen (grammatischem) Accent
und Metrum sind also keine Härten oder gar Fehler, sondern
vielmehr Hinweise des Dichters auf ein besonderes Ethos der
') Rh. § 20 und Litbl. brauche ich die Ausdrücke ' reiner ' und ' per-
sönlicher' Accent. Ich wähle jetzt die Formel 'grammatisch -ethisch' (von
weil sie mir noch treffender scheint. Pen Begriff 'persönlich' spare
ich auf znr Bezeichnung eines andern Gegensatzes, der sich im Sprachaccent
offenbart uud deu ich bisher mit dem andern 'grammatisch-ethisch' fälschlich
vermengt habe. Vgl. ßhvthni. d. frz. Vers. § 14.
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Melodik and Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
237
betreffenden Stelle, Winke für den richtigen Vortrag. Man nennt
den Vortrag solcher Stellen 'schwebende Betonung'.
Auch in der Zueignung finden sich solche Fälle: 8 mich
zu erquicken, 33 kennst du mich nicht? ebd. sprach sie, 39 Sah
ich dich nicht, 41 Ja! rief ich aus, 42 lang' hdb' ich dich
gefühlt, 53 Ach, da ich irrte, 64 leb' mit, 71 sucht' ich, 74
mitleidger. Es sind sichtlich alles Stellen, wo sich die Stimmung
oder der Affekt verstärkt und den gleichmäfsigen Flufs der
Rede bewegter macht. Vgl. oben S. 202 f. Nur V. 8 dient die
Drückung des mich dazu, einen Gegensatz anzudeuten.
Wird eine accentuelle Hebung in die metrische Senkung
gedrückt, dann wird diese natürlich sehr schwer, lang und voll
und droht gelegentlich die benachbarte Hebung zu übersteigen.
Sie unterbricht dadurch den gleichmäfsigen Flufs der Hebungen
und Senkungen, erzeugt eine Hemmung.
Infolgedessen ist natürlich diese 'schwebende Betonung'
ein vortreffliches Mittel, charakteristische Stellen der Rhythmo-
pöie anzuzeigen. Sie findet sich in der Zueignung denn auch
immer im Anfang der Reihen oder des zweiten Hauptbundes,
deren Einsätze voller zu machen und die vorausgehenden Ein-
schnitte zu unterstützen.
Nachtrag zu § 1 und 3.
Auf ein wertvolles Zeugnis über Goethes Art zu rezitieren
werde ich von befreundeter Seite aufmerksam gemacht.
Es findet sich bei Ewald, Fantasien auf einer Reise u. s. w.
Hannover 1799, S. 165. Abgedruckt von Loeper, Anm. zu
Dichtung und Wahrheit B. XI, Nr. 400. 'Es war fast Goethes
Deklamation, der mit wenigen, in der Musik sogenannten ganzen
Tönen ehemals Alles ausdrückte, was er wollte. Diese Art von
Deklamation hat äufserst kleine Tonintervalle. Der Gang, die
Melodie, der Übergang in eine andere und der Rückgang in die
vorige Tonart: Alles ist dieser Deklamation eigen; und nur
dadurch wird jener einzige Ausdruck möglich, der blofs Ton
der Wahrheit zu sein scheint und so wenig Aufwand von
Stimme und Tönen erfordert.' Man vergleiche dazu, was Goethe
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238
Franz Saran
über Herders Vortrag DW. B. X. (Loeper S. 195) sagt. 'Seine Art
zu lesen war ganz eigen; wer ihn predigen gehört hat, wird
sich davon einen Begriff machen können. Er trug Alles und so
auch diesen Roman [Landprediger von WakefieldJ ernst und
schlicht vor; völlig entfernt von aller dramatischen -mimischen
Darstellung, vermied er sogar jene Mannigfaltigkeit, die bei einem
epischen Vortrag nicht allein erlaubt ist, sondern wohl gefordert
wird: eine geringe Abwechslung des Tons, wenn verschiedene
Personen sprechen, wodurch das, was eine jede sagt, heraus-
gehoben und der Handelnde von dem Erzählenden abgesondert
wird. Ohne monoton zu sein, Hefa Herder Alles in einem Ton
hinter einander folgen, eben als wenn nichts gegenwärtig, sondern
Alles nur historisch wäre, als wenn die Schatten dieser poetischen
Wesen nicht lebhaft vor ihm wirkten, sondern nur sanft vorüber-
gleiteten. Doch hatte diese Art des Vortrags aus seinem Munde
einen unendlichen Reiz ; denn weil er Alles aufs Tiefste empfand
und die Mannigfaltigkeit eines solchen Werkes hochzuschätzen
wufste, so trat das ganze Verdienst einer Produktion rein und
um so deutlicher hervor, als man nicht durch scharf ausgesprochene
Einzelnheiten gestört und aus der Empfindung gerissen wurde,
welche das Ganze gewähren sollte.'
Ich füge gleich hinzu den Bericht, den E. 0. Lubarsch,
über Deklamation und Rhythmus der französichen Verse 1888,
S. 24 f. über den Vortrag des französischen Dichters Th. de Banville
und Victor Hugos giebt. ' Der Dichter [Banville] setzte in seinem
Vortrag alle Verssilben sehr bestimmt und gleichmäfsig von
einander ab; die Tonsilben [Wortaccente] traten deutlich, doch
ohne Schärfe, ohne stärkere Satzaccente erkennen zu lassen,
derart hervor, dafs zwischen ihnen und den unbetonten Silben
der Rhythmus vernehmlich auf- und abwogte. Oratorische Accente
kamen gar nicht vor, und überhaupt wirkte der Inhalt des Ge-
dichtes auf den Ausdruck im Vortrag verhältnismäfsig wenig ein
[d.h. B. pointierte nicht]. Hinter jedem Verse trat eine
leichte Pause ein, sodafs das Gedicht [Les Stalactites, in
Alexandrinern] für das Ohr deutlich in gleich lange Silbenreihen
zerfiel und die Cäsur machte sich ohne Pause durch die
in der Versmitte wiederkehrende Betonung bemerkbar,
ohne dafs deswegen diese Betonung im Vortrag besonders ver-
stärkt wurde. Durch alles dies erhielt die Bewegung
des Verses ein einschmeichelndes und musikalisches
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Melodik und Rhythmik der 'Zueignung' Goethes.
239
Element. Die ganze Vortragsweise erfolgte in leiden-
schaftslosem und langsamem Tempo. So, sagte mir Banville,
habe auch Victor Hugo gelesen, und sie beide seien darüber
einig gewesen, dafs es so sein müsse. Es sei dies eigentlich eine
sehr einfache Weise, Verse zu lesen. Die Schauspieler hätten
zwar gesagt, Victor Hugo läse schlecht, sie beide aber — und
hier ging ein feines Lächeln über Banvilles Gesicht — wären der
Ansicht gewesen, die Schauspieler verständen nichts davon. Man
müsse nicht so lesen, wie die Schauspieler ; diese läsen nur nach
dem Sinn und der Interpunktion und vernichteten dadurch den
Rhythmus. ... Ich hatte den Eindruck, dafs Banvilles und also
auch Victor Hugos Vortragsweise der französischen Verse den
denkbar stärksten Gegensatz gegen die Vortragsweise der Prosa
bildete.'
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Prack von Ehrhardt Karras, Halle a. S.
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V — - - - . ,
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